Der wahre Weihnachtsmann Tom Liehr Über außerordentlich wenig Bares zu verfügen, stört mich nur bei zwei Gelegenheiten. Die erste ist sonnenklar: Frauen. Man kommt an keine, wenn man keine Schütte hat. Aus diesem Grund habe ich die Frauen aufgegeben. Die zweite Gelegenheit, bei der mich der Geldmangel nervt, ist Weihnachten. Wenn ab November, in einigen Fällen sogar schon im Oktober die Geschäfte zum Geschenkeverkaufskrieg aufrüsten, die Werbezeiten im TV verdoppelt werden, Leute mit Lastwagen voller Einkaufstüten durch die Stadt rauschen, Scheißbären an den Mänteln ihrer Mammies zuppeln, wenn sie vor der neuesten Spielkonsole im Schaufenster hängen und mit ihrem Nasenschweiß die Scheiben verschmieren – tja, dann wäre ich auch gerne dabei. Sonst stört mich der Konsumterror nicht, amüsiert mich eher: Dinge sind einfach nur Dinge. Sie machen einen nur selten wirklich glücklicher, und meistens steht der Nutzen in keinem Verhältnis zu dem Aufwand, den man treiben muß, um sie zu bekommen. Einfacher gesagt: Für ein cooles Auto muß man ein, zwei Jahre anschaffen, mindestens. Der Idiot, der beim Einparken die Stoßstange zerdellt, versaut einem den Spaß schon am zweiten Tag. Lohnt den ganzen Streß nicht. Ob die Busse und U-Bahnen verkratzt sind, kratzt mich hingegen nicht im geringsten, und außerdem kann man da jede Menge superlustiger Leute sehen. Scheißbären, denen der Schnodder bis auf den Boden hängt, während Mammi konzentriert die BILD liest. Angeblich HIV-Positive, die Flöte spielen und schräge Gedichte vortragen. Handytelefonierende Vertreter, die gegen Bahnhofsansagen anbrüllen – oder gegen die Gruppe Türken, die ebenfalls lautstark mobil telefonieren, vermutlich miteinander. Sowas gibt’s in keinem Porsche. Sondern höchstens die neueste superlangweilige Witney-Houston-CD. Als ich selber noch ein Scheißbär war, hat mir meine selige Mutter Anfang Dezember immer einen Fuffi in die Hand gedrückt, jedenfalls bis zu meinem zwölften Lebensjahr. Dann durfte ich losmarschieren und Geschenke kaufen. Damals bekam man noch richtig was für fünfzig Mark, so viel Geld gab sie mir das ganze Jahr über nicht, zusammengenommen. Na ja, und dann habe ich Geschenke gekauft. Das war irre toll, ich habe stundenlang nachgedacht, was ich wem schenken würde, meiner langsam verkalkenden Mutter, meinem fettleibigen, kaum zu einer Bewegung fähigen Vater, meinem grenzdebilen Schwesterlein, das nicht dazu in der Lage war, zwischen Ken und Barbies Welt und dem echten Leben zu unterscheiden, meiner fitten, aber leider schwerkranken Oma, und Butze, meinem besten Kumpel, bei dem es am meisten Spaß machte, denn seine Eltern waren schrecklich arm. Sozusagen. Butzes Vater investierte all sein Geld in einen grottenhäßlichen, tiefergelegten 500er Daimler, den er schweineteuer gebraucht gekauft hatte, während Butze und die Mama Wassersuppe löffelten und sich um Brotrinde kloppten. Metaphorisch gesagt. Tja. Ich denke, daß es daran liegt, daß ich zu Weihnachten ein bißchen genervt bin, weil ich kaum Kohle habe. Nicht, daß ich Weihnachten feiern würde. Ich habe niemanden, außer den anderen Stammgästen im ‚Eimer’, einer 24-Stunden-Kneipe am Hermannplatz. Meine Eltern sind weggezogen und melden sich nicht mehr, meine Schwester sitzt in einer Art Heim für grenzdebile Ken-und-Barbie-Neurotiker, meine Oma ist lange tot, und von Butze habe ich nichts mehr gehört, seit die Familie vom Sozialamt zwangsumgesiedelt wurde. Meine letzte Freundin, Gabi, eine schneidige Blondine, die auf meine ‚Ein Dichter muß ein Eremit sein’-Nummer ziemlich lange abgefahren ist – zwei Wochen, wenn ich mich erinnere – zieht jetzt mit einem Tennisspieler herum. Wie auch immer. Neukölln ist die Härte. Insbesondere der Norden, wo der Bezirk an Kreuzberg grenzt. Was da an Volk herumläuft, das gibt’s auf keinem anderen Planeten. Dreck, Krach, Schlägereien, Drogen, jede Menge Bullen, Leute aus aller Herren Länder, Penner, Verwahrloste, Punks, Proleten - und zwischendrin ganz normale: Beamte, Schulkinder, Mutties mit Hunden, Lehrertypen, die unvermeidlichen BVG-Kontrolleure, die von einem U-Bahn-Eingang zum anderen hasten, weil auf dem Bahnsteig Rauchverbot herrscht, die Trinklinge, die aus Kneipen stolpern, oder schon wieder hinein, nervöse Geschäftsleute, Friseusen. Einfach alles. Aber die Mischung macht’s. Gegen den Hermannplatz, das Herz von Nordneukölln, ist Ankara ein Feriendorf. Der Bazar von Tunis ein Kinderspielplatz. Die Bronx ein Erholungsheim. Meine drei Lieblingsaufenthaltsorte sind a) die Amerika- Gedenk-Bibliothek, drei U-Bahnstationen weiter, die ich natürlich immer schwarz fahre, b) meine Anderthalb-Zimmer- Bude, die ich mit geklautem Strom aus dem Hausflur heize und last, but not least, c) der ‚Eimer’, meine Stammkneipe am Hermannplatz. Vier Kneipen gibt es da, die rund um die Uhr geöffnet haben: Der ‚Hammer’, der ‚Blaue Affe’, der ‚Bierpunkt’ – und natürlich mein ‚Eimer’. In den anderen dreien habe ich Hausverbot, weil ich meine Zettel nicht zahlen konnte. Heinzi hängt durch, das sehe ich sofort. Heinzi ist immer im ‚Eimer’, im doppelten Sinn des Wortes, und der einzige Mensch, den man zu jeder Tages- und Nachtzeit in der Kneipe trifft, von Krafzyk, dem Wirt, mal abgesehen. Wie der das schafft, ist mir völlig unklar, aber ganz egal, wann man kommt – morgens um zehn, abends um zehn – Krafzyk ist immer da. Und natürlich Heinzi. Heinzi ist Ende fünfzig, Sozialhilfeempfänger, ehemaliger Taxifahrer, der seinen P-Schein und die Pappe verloren hat, weil er mit fast vier Promille ausgerechnet einen Bullen von a nach b fahren wollte, schlangenlinienmäßig. Nach dem Bluttest ist er direkt in die Kneipe marschiert, vor drei Jahren, und ich glaube, er hat sie seitdem nicht mehr verlassen. Normalerweise ist Heinzi brauchbar gelaunt, vor allem in den ersten zwei Monatswochen, wenn der letzte Zettel bezahlt und der neue noch nicht angefangen ist. Genau wie ich investiert Heinzi den Großteil seines Geldes in Bier. Eine gute Investition. Gott hat Bier am achten Tag erfunden, und wenn es nach mir ginge, hätte er die Erfindungen der vorangegangenen sieben Tage in die Tonne kloppen können. Aber mich fragt ja keiner. Heinzis Kopf liegt auf dem Tresen. Nunwohl. Der ‚Eimer’ ist nicht gerade ein Operationssaal. Anders gesagt: Wenn mir Krafzyk ein Bier reicht, versuche ich, die Berührung zwischen Glas und Tresen zu vermeiden – es könnten blitzschnelle Bakterien am Glasrand hochkrauchen und mich verseuchen. Oder mein Bier, was noch schlimmer wäre. Ich bin sicher, daß einige der Bakterienstämme, die zweifelsohne auf dem Tresen des ‚Eimer’ leben, inzwischen fatale Fähigkeiten entwickelt haben. Jedenfalls würde ich meinen Kopf da nicht hintun. Dann schon eher in eine Kloschüssel des ‚Eimer’ stecken – die werden nämlich geputzt, jedenfalls ab und zu. Mindestens einmal im Monat. Daß Heinzi noch mit viernull Taxi gefahren ist, sagt eine Menge über ihn aus. Alleine mit Alkohol ist der nicht kaputt zu kriegen. „Was liegt an, Heinzi?“ frage ich fröhlich, während ich Krafzyk zuwinke, der auch sofort mein erstes Bier anzapft, ein schnelles, zehn Sekunden, ohne Blume. Er reicht es mir, während ich mich setze, auf einen der wenigen Barhocker, von denen ich weiß, daß noch alle vier Beine fest verschraubt sind. Heinzi hebt den Kopf. Er hat Tränen in den Augen. „Weihnachten“, brummt er traurig. Ich nicke mitfühlend. Und werde ebenfalls traurig, jedenfalls ein bißchen – sofort muß ich an Butze denken, meinen alten Kumpel, und an meinen fetten Vater, wie der gestaunt hat, als er einmal ein cooles T-Shirt in Übergröße auspackte. „Junge“, sagte er dann, und schüttelte ergriffen den Kopf. „Junge.“ „Ich habe heute meine Exfrau gesehen“, erklärt Heinzi, und hebt den unrasierten, faltigen, speckhaarigen Schädel langsam vom Tresen. Irgendwas klebt ihm an der Backe, aber ich sehe lieber nicht genau hin. Heinzi starrt auf mein Glas, sein Gesicht ist feucht, von Tränen und anderen Sachen. Krafzyk reicht ihm ein Bier. Krafzyk hat mehrere Megatonnen gestemmt, einzig damit, Heinzi Bier zu reichen. „Weihnachten war immer so schön“, fährt Heinzi fort, mit müder Stimme. „In der anderen Zeit war es schlimm, wirklich schlimm, aber Weihnachten hat sie sich Mühe gegeben. Alles festlich geschmückt. Gebacken. Gekocht. Manchmal kam sogar eines der Kinder. Wir waren eine richtige Familie.“ Er trinkt sein Bier in einem Zug aus, was bei Heinzi etwa die Qualität von Einatmen hat, und legt das Gesicht wieder auf den Tresen. Ich bleibe eine Weile sitzen und trinke ein paar Biere. Heinzi hebt ab und zu den Kopf, um ein neues Blondes zu tanken, und ich bin nachdenklich. Weihnachten. Ich möchte jemanden beschenken, vielleicht sogar Heinzi. Aber ich habe kein Geld. Karstadt am Hermannplatz ist das kulturelle Zentrum Nordneuköllns. Früher, vor dem letzten Krieg, war das mal das größte Kaufhaus in Europa, aber das weiß heute kein Schwein mehr. Es ist zerbombt, und dann, in den Sechzigern, halbherzig renoviert worden, und inzwischen haben sie dem fünfstöckigen Waschbeton-Koloß neuen Glanz gegeben. Allerdings auf niedrigem Niveau. Es lohnt sich nämlich kaum für das Publikum. Neuköllner eben. Das Kaufhaus hat sechs Haupteingänge, davon einen direkt zum darunterliegenden U-Bahnhof – ein guter Fluchtweg, wenn einen die Kontrolleure jagen – und wird naturgemäß von den meisten Laden- und Taschendieben der ganzen Stadt besucht. Aber nicht von mir, es sei denn, ich bin auf der Flucht vor Fahrgeldeintreibern, außerdem bin ich kein Ladendieb. Allerdings stolpere ich daran vorbei, wenn ich aus dem ‚Eimer’ in Richtung Heimat trabe, werfe ein paar Blicke in die Auslagen, wärme mich in den geräumigen Windfängen auf, damit das viele Bier nicht zu sehr treibt, und ich es noch nach Hause schaffe, ohne mich an eine Wand stellen zu müssen. „Weihnachtsmänner per sofort gesucht“, steht da, auf einem gedruckten Zettel, der in einem Rahmen am Eingang hängt. „Gute Bezahlung, leichte Arbeit.“ Ich bleibe einen Moment stehen, stütze mich an der Glasscheibe ab. Am Fußboden sitzt ein Mädchen, eine Punkerin, vielleicht Anfang zwanzig, mit einem Hund. Sie lächelt. Ich lächele zurück. Vor ihr steht eine Pappschachtel, in der ein paar Groschen liegen. Ich starre noch einen Moment auf den Zettel und stolpere dann weiter, in Richtung meiner Anderthalbzimmerwohnung. „Tschüs“, ruft mir das Mädchen hinterher. Ich nicke, drehe mich aber nicht um. Früh am nächsten Morgen, so gegen elf, stehe ich in der Personalabteilung von Karstadt. Ich konnte kaum schlafen, habe stundenlang aus dem Fenster geglotzt, und überall flackerten die Weihnachtsdekos, sogar in den Schaufenstern der türkischen Gemüsehändler. Weihnachten. Schenken. Ich will irgendwem was schenken, irgendwas, worüber der sich wirklich freut. Weihnachtsmann scheint mir der richtige Job, um an das nötige Kleingeld zu kommen. Der Personalchef sieht mich komisch an. Ich habe mich wirklich feingemacht, und wenn man mir nicht zu nahe kommt, rieche ich nicht, hoffe ich jedenfalls. Gut, meine Turnschuhe sind nicht mehr ganz neu. Aber ich will ja auch nicht Abteilungsleiter werden. „Mmmh“, macht er und sieht auf meinen Bewerbungsbogen. Ich glaube nicht, daß er das wirklich lesen kann. „Schriftsteller?“ fragt er nach ein paar Sekunden. Scheiße, er kann es doch lesen. Ich nicke, scharre mit dem rechten Fuß. Hätte ich doch irgendwas geschrieben, Taxifahrer, Bademeister, Biertester. Nein, ich mußte ja ehrlich sein. Und warte auf die unvermeidliche Frage. Er grinst. „Und? Habe ich was von Ihnen gelesen?“ „Ich erwarte jeden Tag des Okay meines Verlegers“, antworte ich. Das stimmt, jedenfalls teilweise. Ich warte auf das Okay von irgendeinem Verleger. Von irgendeinem der vierzig Verlage, an die ich Kopien meiner Sammlung ‚Stammtischgeschichten’ geschickt habe, heimlich vervielfältigt am Kopierer der Amerika-Gedenkbibliothek, bei dem ich weiß, wie man das Zählwerk austricksen kann. Beklebt mit Briefmarken, die ich von Krafzyk geborgt habe. Wovon Krafzyk allerdings noch nichts weiß. Der Personalchef grinst weiter. „Und bis dahin brauchen Sie einen Überbrückungsjob.“ Ich lächle erfreut über sein Verständnis und nicke. Eine Viertelstunde später führt mich ein Auszubildender, der wie blöd grinst, in die Personalgarderobe. Da darf ich meine Turnschuhe gegen rote Stiefel tauschen, den Rest des Kostüms kann ich über meine Klamotten anziehen: Rote Hose, Bauchprothese aus Schaumstoff, rote Jacke, Weihnachtsmannmütze. Dazu dicker Bart und weiße Perücke. Skeptisch stehe ich vor dem mannshohen Spiegel, der Azubi grinst noch blöder. „Glaubwürdig?“ frage ich skeptisch. Da muß der Azubi lachen. Er reicht mir eine große Messingglocke, und zeigt auf drei Kisten aus Pappe. Der Job ist denkbar einfach. Ich muß mit der Glocke bimmeln, ‚Ho-ho-ho’ sagen und den Leuten Prospekte in die Hand drücken. Am Eingang. Draußen. Vor der Tür. In der Kälte. Ohne Faßbier in greifbarer Nähe. Oder wenigstens Glühwein. Die erste Stunde ist einfach. Ich sage ungefähr tausendmal ‚Ho-ho-ho’, also insgesamt dreitausendmal ‚Ho’, bimmle wie ein Irrer mit der Glocke und halte den Prospekt jedem Menschen, der sich an mir vorbeidrückt, vor die Nase. Ungefähr zwei Leute nehmen das farbige Blättchen mit den Weihnachtsangeboten des Karstadt-Lebensmittelmarktes. Also eigentlich nur einer. Der andere, der sich alle erdenkliche Mühe gibt, mich zu ignorieren, greift danach, als er eigentlich die Tür aufstoßen will, weil ich es zwischen seine Hand und die Tür halte, und es fällt wieder runter, als er die Hand wegnimmt. Sorgfältig, wie ich bin, hebe ich den Prospekt auf, streiche ihn glatt und halte ihn dem nächsten Kauflustigen entgegen. Am Ende der Stunde denke ich, es müßte eigentlich Feierabend sein. Ich kann den ‚Eimer’ von hieraus sehen, wenn ich mich umdrehe, und das ist echt gemein. Aber es ist tatsächlich nur eine Stunde vergangen. Die große U-Bahnhofsuhr lügt nicht. Die zweite Stunde ist schon härter. Ich sage seltener ‚Ho-ho- ho’, weil mir das zu eintönig, zu unangebracht vorkommt, und versuche es statt dessen auch mal mit ‚Ha-ha-ha’, ‚Hi-hi-hi’, ‚He-he-he’, später sogar mit ‚Hä-hä-hä’ und ‚Hü-hü-hü’. Meine künstlerische Freiheit sollte das erlauben. Aber der Erfolg bleibt aus. Kein einziger Prospekt in der zweiten Stunde. Dafür ernte ich jede Menge seltsamer Blicke, und die Leute machen einen Bogen um mich, drücken sich an die gegenüberliegende Wand, um meiner Prospektofferte auszuweichen. Ich beschließe, kräftiger zu bimmeln – die Messingglocke gibt einiges her -, und den Leuten entgegenzugehen, wechsle aber wieder zum traditionellen ‚Ho- ho-ho’. Ein paar Menschen drehen sich um und wandern zum nächsten Eingang, weil sie meinen Prospekt nicht haben wollen. Ich bin so sehr bei der Sache, daß ich nicht bemerke, inzwischen Gesellschaft zu haben. Als ich eine Pause mache, um mir den Schweiß von der Stirn zu wischen und einen Moment lang sehnsüchtig auf die Eingangstür des ‚Eimer’ zu starren, sagt eine weibliche Stimme von schräg unten: „Du machst das völlig falsch.“ Ich bin ein bißchen irritiert, weil mir just in diesem Moment ein Scheißbär am Anzug herumzuppelt und „Duhhuuu! Duhuuuu!“ quengelt. Außerdem fallen mir noch die Prospekte runter. Ich machte ‚Ho-ho-ho’, um meine Irritation zu verbergen. Gegenüber auf dem Fußboden sitzt die junge Punkerin mit ihrem Hund, die, die gestern auch schon dasaß. Ich blinzele, bücke mich nach den Prospekten, der Scheißbär kräht: „Du bist nicht der Weihnachtsmann! Du bist nicht der Weihnachtsmann!“, während seine genervte Mutter ihn durch den Windfang zu zerren versucht. Als ich wieder hochkomme, steht der Personalchef vor mir. Ich sage noch mal ‚Ho-ho-ho’ und bimmle mit der Glocke, um ihm zu beweisen, daß ich den Job aus dem Eff-Eff beherrsche, aber er wirkt skeptisch. „Probleme?“ fragt er. „Nicht wirklich“, gebe ich selbstbewußt zurück. „Ich glaube, ich komme ganz gut bei den Leuten an.“ Ich spare mir ein weiteres ‚Ho-ho-ho’, weil er ja inzwischen weiß, daß ich das kann. „Ich habe ein Auge auf Sie“, erklärt er, geht ein paar Schritte und zündet sich eine Zigarette an. Einen Moment lang denke ich, daß ich froh sein kann, nur vom Alkohol verfolgt zu sein. Rauchen hat mich nie gereizt, mir reichen die Kilotonnen Nikotin, die ich in diversen Kneipen passiv konsumiert habe. Während der Chef dasteht, gebe ich mir besondere Mühe. Ich brumme mit tiefer Stimme und schüttele die Glocke so, daß es nicht zu aufdringlich klingelt, und tatsächlich nimmt mir eine uralte Frau einen Prospekt ab, reißt ihn mir fast aus der Hand, weil ich sie nicht bemerkt habe. Freudestrahlend linse ich zum Boß rüber, aber der ist gerade darauf konzentriert, seine Fluppe auszutreten. Die Punkerin lacht freundlich. Wenigstens ein Mensch hat meinen Erfolg bemerkt. Der Personalchef geht kopfschüttelnd an mir vorbei, und ich schmettere ihm ein besonders mächtiges ‚Ho-ho-ho’ hinterher. Die Punkerin lacht laut. „Du wirkst nicht besonders weihnachtsmännisch“, erklärt sie ungefragt. „Woher willst Du das wissen?“ „Der wahre Weihnachtsmann würde das anders machen.“ Ich senke die Glocke und sehe sie an. „Der wahre Weihnachtsmann?“ Sie nickt. „Es gibt keinen Weihnachtsmann“, sage ich bestimmt, wedele mit der Glocke und schreie einem jungen Pärchen ein fröhliches ‚Ho-ho-ho’ entgegen. Die Frau erschrickt und drückt sich an ihren Partner. Ich bin ein bißchen verunsichert, drehe mich nochmal zum ‚Eimer’ um. Da kommt tatsächlich Heinzi aus der Tür. Er verläßt die Kneipe also doch ab und zu. Schwankend und sich an der Wand abstützend geht er zur nächsten Ecke, pinkelt an die Mauer, dreht sich um, torkelt zur Kneipe zurück und geht wieder rein. Der Wunsch, Heinzi eine Freude zu machen, wird unbändig. Sogar von hieraus sieht er traurig aus. Davon abgesehen, daß er strunzhacke ist. „Woher willst Du wissen, daß es keinen Weihnachtsmann gibt?“ fragt die Punkerin. Ich starre sie an und merke erst jetzt, daß sie seltsam aussieht. Sie ist viel zu hübsch für eine Pennerin, wie eine junge Schauspielerin, die die Rolle spielt, bei der aber trotzdem zu erkennen ist, daß sie nicht wirklich auf der Straße lebt, Kippen aus dem Rinnstein fischt und verlängerten Fusel aus verseuchten Zweiliterflaschen trinkt. Auch ihr Hund wirkt viel zu ... nett. Ein hübsches Tier, gepflegt, mit glänzenden braunen Augen, sauberem Fell. Und offensichtlich gutgenährt. „Wenn es keinen Weihnachtsmann gibt, warum gibt es dann Weihnachten?“ fragt sie. „Weil sich die Menschen das ausgedacht haben.“ Ich klopfe mir für meine Schlagfertigkeit im Geist auf die Schulter. „Und warum sollten sich ausgerechnet die Menschen so was ausdenken?“ Ich öffne den Mund, um zu antworten, aber mir fällt keine Antwort ein. Ja, warum? Die meisten Dinge, die sich Menschen ausgedacht haben, dienen dazu, andere zu übervorteilen, Ruhm und Erfolg einzuheimsen, und ganz allgemein dem Profit. Gut, von Weihnachten profitieren die Geschäftsleute. Aber irgendwie bin ich sicher, daß die sich das Fest nicht ausgedacht haben. Das, was es für sie bedeutet, könnten sie auch einfacher haben. „Siehst Du“, sagt sie lächelnd, als ich nicht antworte. Ich mache ein brummelndes Geräusch. Hebe die Glocke und will wieder zur eintönigen Konsonant-Vokal-Kombination ansetzen, da steht sie auf, nimmt mir die Glocke ab und strahlt mich an. „Der richtige, der wahre Weihnachtsmann würde das so machen“, erklärt sie. Setzt sich meine Mütze auf, und ein zauberhaftes Lächeln, summt „Fröhliche Weihnachten“, bimmelt ganz sachte, melodisch mit der Glocke. Ein kollektives Lächeln geht durch die Menge, die sich an uns vorbeischiebt. Wärme kommt auf. Mein Blick verschwimmt ein bißchen, ihr Bild verändert sich, und für einen Moment lang sieht sie wirklich wie der Weihnachtsmann aus. Ich bin verzaubert. Vor allem, als ich sehe, wie viele Leute ihr die Lebensmittelprospekte aus der Hand nehmen. Dabei hat sie Ringe in der Nase, in der Lippe, sogar in den Augenbrauen, Tätowierungen auf den Armen und mehr Löcher in der Hose, als für die Jahreszeit gesund ist. „Wie hast Du das gemacht?“ frage ich, als sie mir Glocke, Mütze und die restlichen Prospekte zurückgibt. „Denk mal darüber nach, warum Du hier stehst“, erklärt sie rätselhaft. „Dann weißt Du es.“ Sie setzt sich wieder auf den Boden, der Hund legt seine Schnauze auf ihren Oberschenkel, und beide sehen mich auffordernd an. Warum stehe ich hier? Weil ich Geld brauche. Warum brauche ich Geld? Weil ich irgendwem eine Freude machen will. Warum will ich irgendwem eine Freude machen? Weil Weihnachten ist. So einfach ist das. Am nächsten Tag stehe ich pünktlich um neun auf der Matte. Ich bin seit Jahren nicht mehr so früh aufgestanden, und ich hatte mir eigentlich schon die tollsten Ausreden ausgedacht, um meinen Arbeitsbeginn auf elf, zwölf verlegen zu können, vielleicht sogar auf den frühen Nachmittag. Aber ich kann es nicht erwarten. Ich bin voller Vorfreude. Stehe innen vor der Tür, während sich draußen bereits die Käufer drängen, schiebe mich an allen vorbei, als der Abteilungsleiter aufschließt. Und dann. Dann bin ich der Weihnachtsmann. Ich mache eigentlich nicht viel anders, als gestern in den ersten zwei Stunden. Sage ‚Ho-ho-ho’ und ‚Fröhliche Weihnachten’, summe Stückchen von Weihnachtsliedmelodien, jedenfalls von den beiden, die mir einfallen. Lächle die Leute an, streichle Kindern über die Köpfe – nicht ganz ungefährlich in Neukölln, da sind die Scheißbären bewaffnet – und frage nach Geschenkewünschen. Die Leute lächeln zurück, die Kinder müssen von ihren Eltern fortgezerrt werden. Am Mittag bin ich drei Schachteln Prospekte los. Die Punkerin kommt zwar leider nicht, aber dafür steht der Personalchef eine geschlagene halbe Stunde neben mir in der Kälte, raucht eine Zigarette nach der anderen und schüttelt pausenlos den Kopf. Glückselig lächelnd. Er nimmt mir einen Prospekt ab, während er wieder hineingeht, und schüttelt wieder den Kopf, als er bemerkt, was er getan hat. Fast bin ich ein bißchen traurig, als es am Heiligabendnachmittag vorbei ist. Bis zwei hat Karstadt geöffnet, dann schubsen sich die Leute gegenseitig aus dem Kaufhaus, grinsend, erwartungsvoll, nehmen sogar auf dem Weg nach draußen noch Prospekte, schütteln mir die Hand, Kinder laden mich zur Bescherung ein. Aber ich habe zu tun. Haste zu meinem Spind, haste zum Personalchef, renne nach Hause. Ich habe Vorbereitungen zu treffen, putzen, kochen, backen, schmücken. Um fünf bin ich mit allem fertig, schnappe mir ein Taxi für die paar hundert Meter zum ‚Eimer’. Natürlich ist Heinzi da, er ist der einzige Gast. „Komm“, sage ich zu ihm. Er blinzelt mich müde an, ist aber noch nicht besoffen. „Wohin?“ „Wir gehen Weihnachten feiern“, sage ich. Er starrt mich an, versteht erst nicht. Dann lächelt er. Steht auf. Grinst. Lacht. Er versteht. Ich bin der Weihnachtsmann. © Tom Liehr 2001