Nachttiger – Yangsze Choo

  • Nachttiger – Yangsze Choo


    (Titel der Originalausgabe: The Night Tiger)


    Kurzbeschreibung (von Amazon):


    Britisch-Malaya in den 1930er-Jahren. Zwischen Dschungel und Kolonialvillen lauert eine tödliche Gefahr …

    Der chinesische Houseboy Ren ist in geheimem Auftrag unterwegs: Er soll den amputierten Finger seines Herrn finden, um ihn mit dem Toten zu bestatten. Nur so kann dessen Seele Ruhe finden. Neunundvierzig Tage bleiben Ren für seine Mission, die ihn zu einem britischen Arzt und zu der Tänzerin Ji Lin führt. Doch die Suche ist gefährlich: Ren und Ji Lin geraten in eine Welt von Aberglaube, Liebe und Verrat. Und in eine Serie mysteriöser Todesfälle …


    Meine Meinung:


    Diese Kurzbeschreibung klingt fast nach einem Krimi oder Thriller; das ist der Nachttiger aber definitiv nicht. Einem festen Genre kann man dieses Buch auch kaum zuordnen: Es wartet mit einem historischen Setting, den schon erwähnten Todesfällen, einem verschwundenen Finger, reichlich Folklore und magischem Realismus auf, und diese Mischung funktioniert.


    Die Atmosphäre, die Yangsze Choo in diesem Roman geschaffen hat, ist einmalig und großartig. Neben dem ohnehin hochinteressanten Schauplatz trägt dazu vor allem die Einbindung von Folklore und Aberglaube bei. Geister und Wertiger gehören ebenso selbstverständlich zum Leben der Menschen in Britisch-Malaya wie chinesische Unglückszahlen. Häufig verschwimmen die Grenzen zwischen der Realität und dem Übernatürlichen. Eine weitere Ebene ergibt sich durch immer wiederkehrende Traumsequenzen. Die Stimmung, die durch all diese Elemente entsteht, empfand ich als sehr überzeugend und fesselnd. Auch die verwendete Bildsprache passt perfekt zur Geschichte und unterstützt das besondere Flair.


    Das Erzähltempo habe ich als eher langsamer wahrgenommen. Die wechselnden Perspektiven und die komplexe Verflechtung der Handlungsstränge verursachen dennoch ein enorme Sogwirkung. Zumindest für mich war der Roman ein ziemlicher Pageturner.


    Eine Kleinigkeit muss ich aber doch kritisieren: In einer Nebenhandlung wurde eine Liebesgeschichte eingebaut, die ein wenig von der Haupthandlung ablenkt und m. E. auch völlig unnötig ist; der Roman wäre auch ohne sie ganz und gar rund. Dieser Punkt ändert aber nichts daran, dass ich das Buch gerne weiterempfehle; es hat mir schöne Lesestunden beschert. :)



    ASIN/ISBN: 3336548071

  • Vielen Dank für diese Buchvorstellung. Angesichts meiner literarischen Historie werde ich um diesen Roman wohl kaum herumkommen. :wave

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • harimau

    Du wirst ja sogar im Buch erwähnt (harimau jadian)! ;)


    Tatsächlich würde mich deine Meinung zu dem Buch sehr interessieren; im Gegensatz zu mir bist du mit diesem Fleckchen Erde ja bestens vertraut.


    Saiya

    Ich bin in dieser Hinsicht, glaube ich, ziemlich "empfindlich" ... Mich nervt es, dass in Romanen so oft noch eine Romanze eingefügt wird, die eigentlich nichts zur Handlung beiträgt; das wirkt oft irgendwie erzwungen. Beim Nachttiger hat es mir den Lesespaß nicht verleidet, ich hätte aber auch gut darauf verzichten können.


    ottifanta

    Viel Spaß beim Anhören; ich hoffe, das Buch gefällt dir!

  • Harimau jadi-jadian! :kreuz


    Ein Roman, in dem sogar Wertiger vorkommen, ist nun wirklich Pflicht für mich. Ich werde es mir demnächst besorgen und dann Rückmeldung geben.

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    Andreas Altmann

  • Der Nachttiger (englische Ausgabe) ist bestellt. Sobald ich Kim beendet habe, geht es von Indien direkt weiter nach Malaya. :)

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    Andreas Altmann

  • Sidonie

    Bei unnötigen Liebesgeschichten bin ich auch sehr kritisch - aber habe ja Deine Warnung davor und die Enpfehlung für das spannend klingende Buch. Nach den "Testaments" von Margaret Atwood kommt es dran. :-)

    "It is our choices, Harry, that show what we truly are, far more than our abilities." Albus Dumbledore
    ("Vielmehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.")

  • So, mit einiger Verzögerung habe ich den Roman (englische Originalfassung) nun auch zu Ende gelesen - und wurde nicht enttäuscht. Es ist kein ganz großer Wurf, kein Buch, das mich lange beschäftigen wird, denn dafür ist die Story zu dünn, auch wenn ich sie recht amüsant und teilweise originell fand. Die schon angesprochene Liebesgeschichte empfand ich allerdings wirklich etwas störend, allerdings nicht, weil sie an sich so lahm oder gar überflüssig ist, sondern weil sie im Vergleich zum Rest stilistisch erheblich abfällt. Frau Choos Art, leidenschaftliche Gefühle zu beschreiben, wirkt zu ungeschickt, mehr noch abgedroschen, um sie mir nahe zu bringen. Ganz zu schweigen von den endlosen Redundanzen in diesen Teilen.



    Diese Defizite fallen umso stärker auf, als die Autorin ansonsten einen sehr angenehmen, präzisen, nicht sehr extravaganten, dabei aber keinesfalls seichten Schreibstil pflegt. Und hier nähere ich mich dem Hauptgrund, weshalb ich beim Lesen trotzdem so viel Freude hatte: Die Frau kennt und versteht die Welt, vor der sich die Geschichte entfaltet, und sie ist in der Lage, sie so gut zu beschreiben, dass der Leser spielend leicht hineinfindet. Wenn ich die Beschreibungen der Details lese, wie z.B. der überbordenden Natur, der Düfte und des Geschmacks der Speisen oder der kulturellen Eigenheiten der Menschen, bin ich sofort zurück in Malaysia, auch wenn das Land zur Handlungszeit des Romans vor über achtzig Jahren noch Malaya hieß. Land und Leute sind hier, anders als in anderen historischen Romanen, nicht nur bunte Kulisse, sondern fast selbst Protagonisten, was mir sehr gefällt.


    Die "übersinnlichen" Elemente, normalerweise nicht so mein Geschmack, verstören mich hier nicht im Geringste, sondern sind ganz im Gegenteil mehr oder weniger unabdingliche Zutaten eines Romans über dieses Land, so wie sie es bis heute in dessen Realität sind.

    (Unvergessen ist hier unsere Vermieterin, die jede Gelegenheit wahrnahm, irgendwelche zufällig wahrgenommenen Zahlenkombinationen umgehend im Lotto zu spielen. Unnötig zu erwähnen, dass sie z.B. mit der Kennziffer von Steffis Seilbahnticket umgerechnet zehn Euro gewonnen hat, denn Auntie hat in den eineinhalb Jahren unserer Anwesenheit bis auf zwei- oder dreimal jede Woche im Lotto gewonnen, allerdings immer nur Kleinbeträge, weil sie glaubte, die Strähne würde reißen, wenn sie mehr einsetzte. ;))


    Alles in allem ein Roman, der jedem / jeder gefallen könnte, der / die sich auf Neues einlassen mag, Lust am fabulieren hat und sich gleichzeitig darauf einstellt, dass nicht jeder in Malaysia spielende Roman über die herausragende Klasse eines "The Garden of evening mists" von Tan Twen Eng verfügt. Aber wieviele Bücher können das schon von sich behaupten?

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Ein schönes, um nicht zu sagen wunderschönes Buch. Es entführt nach Britisch-Malaysia des Jahres 1931 und erzeugt eine einzigartige Atmosphäre, die durch einheimische Mythen und dem Verschwimmen von Realität und Traum geheimnisvoll und exotisch wird.


    Das Buch lässt sich keinem Genre zuordnen, es ist eine bunte Mischung aus Entwicklungsroman, Krimi und Liebesgeschichte und macht es dadurch für mich sehr besonders und einzigartig. Es ist kein tiefschürfendes Buch, aber eins, in dem man wunderbar eintauchen und versinken kann.


    Es beginnt langsam und gibt uns Zeit, in die Geschichte und die Figuren einzufinden, bevor es dann sehr spannend wird. Auch bei mir hat die Geschichte mit der Zeit einen unbändigen Lesesog entwickelt, dem ich mich nur schwer entziehen konnte. Die Hauptpersonen, Houseboy Ren, der für seinen verstorbenen Herrn dessen amputierten Finger finden soll und die junge „Tanzlehrerin“ Ji Lin sind mir sehr schnell ans Herz gewachsen. Ihnen folgt man gerne auf ihrem Weg zwischen englischen Kolonialherrn und dem Leben der Einheimischen.


    Anders als Sidonie und harimau habe ich mich an der (dezenten) Liebesgeschichte nicht gestört. Zugegeben, manchmal ist sie hart am Rande des Kitschigen und die große Attraktivität des Paares wurde meiner Meinung nach zu oft hervorgehoben, aber für mich gehört auch diese Teil zum vielfältigen großen Ganzen des Buches dazu. Wenn ich was zu kritisieren habe, dann ist es der zu abrupte Schluss. Es endet zwar sehr rund, ohne zu viel weiterzuerzählen, aber auf den letzten Seiten ging mir einiges zu einfach und zu schnell.


    Noch ein Wort zum Cover: ich finde es gerade durch die Farbgestaltung wunderschön, für mich ein echter Hingucker. Es zaubert mir immer wieder ein Lächeln aufs Gesicht, nur wenn ich es anschaue. Die wertige Aufmachung mit Lesebändchen und Leinenrücken tut ein Übriges. Nicht nur inhaltlich ein „schönes“ Buch.


    Fazit: Genauso wie meine beiden Vorrezensenten gebe ich auch eine klare Leseempfehlung für alle, die sich gerne auf etwas „Anderes“ einlassen. Mit neun Eulenpunkten ganz nahe dran an der Traumwertung.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021