Die Charité: Hoffnung und Schicksal - Ulrike Schweikert

  • ASIN/ISBN: 395862068X


    Worum es geht
    Die 19-jährige Elisabeth Bergmann stammt aus einfachen Verhältnissen, möchte sich aber nicht wie ihre Schwester Maria den Launen eines trunksüchtigen Ehemannes ausliefern müssen. Lieber nimmt sie die schlecht bezahlte Stelle einer Krankenwärterin an der Berliner Charité an, um sich mit der schweren Arbeit auch ein Stück Unabhängigkeit zu sichern.
    Elisabeths Umsicht bei der Pflege der Patienten und ihr reger Verstand machen den Chirurgen Johann Friedrich Dieffenbach auf die junge Wärterin aufmerksam. Er betraut sie mit zusätzlichen verantwortungsvollen Aufgaben, fördert ihre Wissbegier und ermutigt sie zum selbständigen Denken.
    Der Subchirurg Alexander Heydecker hingegen sieht sich bei seiner Arbeit vor allem mit Elisabeths Widerspruchsgeist konfrontiert, doch ist der junge Mann nicht nur von ihrer Intelligenz fasziniert.
    Doktor Dieffenbach ist nach der Scheidung von seiner ersten Gattin mit Alexanders Schwester Emilie zwar wieder glücklich verheiratet, doch gelingt es ihm nicht, die schöne und geistreiche Gräfin Ludovica von Bredow völlig aus seinen Gedanken zu verbannen. Häufig wird er an das Bett ihres hypochondrischen Ehemannes gerufen, für Ludovica ein willkommener Anlass, demjenigen nahe zu sein, der auch ihr Herz höher schlagen lässt.


    Meine Meinung
    In ihrem bemerkenswerten Roman befasst sich Ulrike Schweikert mit den Anfängen der modernen Medizin, der wissenschaftlichen Erforschung von Krankheiten und ihrer operativen Behandlung.
    Im Mittelpunkt der Geschichte steht der Arzt Johann Dieffenbach (1792 - 1847), dem bahnbrechende Arbeiten auf dem Gebiet der Chirurgie zu verdanken sind. Schielenden Patienten konnte Dieffenbach mit seinen spektakulären Operationen ebenso helfen wie solchen mit Schiefhälsen oder Klumpfüßen. Nie hätte ich vermutet, dass die Anfänge der plastischen Chirurgie bereits in den 1830-er Jahren liegen, doch dürfte es damals viele Gesichtsmissbildungen in Form von Hasenscharten und Wolfsrachen gegeben haben. Unvorstellbar, dass alle Operationen ohne Narkose stattfinden mussten, lag doch die (zufällige) Entdeckung für einen schmerzfreien chirurgischen Eingriff noch in weiter Ferne.
    Besonders gut hat mir gefallen, dass der Hörer auch viel Wissenswertes über den schwierigen Beginn der professionellen Krankenpflege erfährt. Mir war nicht bekannt, dass die Krankenwärter aus den untersten gesellschaftlichen Schichten stammten, und es überhaupt keine Ausbildung gab. Im Grunde waren sie nicht mehr als die Bewacher der Patienten, und verrichteten darüber hinaus nur niedrige Hilfsdienste. Welch unglaublichen Imagewandel dieser Berufsstand erfahren hat, ist mir erst durch diese Lektüre bewusst geworden.
    Darüber hinaus war ich auch über den damals gänzlich anderen hierarchischen Aufbau sowohl der klinischen als auch personellen Strukturierung erstaunt.
    Die hier geschilderten großartigen medizinischen Leistungen und Errungenschaften versteht Ulrike Schweikert sehr geschickt in eine fesselnde Geschichte zu verpacken. Die Charaktere haben mich samt und sonders fasziniert, allen voran Elisabeth, eine kluge und umsichtige junge Frau, die ihr Leben selbst in die Hand nimmt. Sie verliebt sich zwar in Alexander Heydeckers blaue Augen, doch als er die Charité verlässt, verfällt sie nicht in Melancholie oder läuft ihm gar kopflos hinterher, sondern trifft selbstbewusst ihre weiteren Entscheidungen.
    Ganz hingerissen war ich auch von Doktor Dieffenbachs (sicher weitgehend erfundenem) Privatleben, das in der zarten Romanze mit Ludovika einen durchaus glaubhaften Höhepunkt erfährt. Obwohl ihm mit Emilie ein glückliches und erfülltes Familienleben beschieden ist, fühlt er sich auch zur charmanten Gräfin hingezogen. Sie interessiert sich nicht nur für die Leiden seiner Patienten, sondern unterstützt seine Arbeit auch finanziell äußerst großzügig. Dennoch könnte es für beide mehr sein als nur eine platonische Verbindung, mehr als reine Seelenverwandtschaft. Eine Möglichkeit, die mir durchaus realistisch erscheint.
    Der Anfang des Romans stellt hinsichtlich der beschriebenen Krankheitsbilder, deren Behandlungsmethoden, aber auch im Hinblick auf die hygienischen Verhältnisse für empathische Gemüter sicher eine gewisse Herausforderung dar. Doch wer durchhält, und auch Heinrich Heines (kurze) Erwähnung von Tierversuchen überstanden hat, wird mit einer beeindruckenden Geschichte belohnt.
    Charaktervolle, glaubwürdige Protagonisten lassen den Hörer an ihrem Schicksal lebhaften Anteil nehmen. Lebendige Figuren mit den unterschiedlichsten Träumen, Ängsten und Sehnsüchten, geplagt von Zweifeln, Missgunst und Neid, aber auch fähig zu Liebe und Hilfsbereitschaft sind mir in diesem großartigen Roman entgegengetreten. Dieffenbachs operative Erfolge und Rückschläge werden ebenso packend geschildert wie das Alltags- und Gefühlsleben der Haupt- und Nebendarsteller.
    Beeindruckt von ihrer hervorragenden Recherchearbeit konnte mich die Autorin auch stilistisch vollkommen überzeugen.
    Die Vortragsweise der Sprecherin Beate Rysopp hat mir ebenfalls gut gefallen. Ihre Intonation fand ich sehr ausdrucksvoll, und ihre leicht dunkel gefärbte Stimmlage passt ganz ausgezeichnet zum Inhalt des Buches.
    14 Stunden 38 Minuten habe ich mich bestens unterhalten, und konnte mir ganz nebenbei viel neues Wissen aneignen. Sehr interessant fand ich auch die zusätzlichen Informationen, die dem Hörer im Epilog vermittelt werden.
    Die Autorin hat den schwierigen Anfängen in der modernen Medizingeschichte, den Patienten, Ärzten, Krankenwärtern, aber auch den vielen Opfern, die der Fortschritt verlangte, mit ihrem Roman ein beeindruckendes Denkmal gesetzt, dem ich ganz viele Hörer (& Leser) wünsche.
    Für mich war dieser Roman ganz großes Kino! Chapeau, Frau Schweikert! <3<3<3<3<3:!: