Vom Aufstehen – Helga Schubert

  • Ein Leben in Geschichten

    dtv, 2021

    224 Seiten


    Kurzbeschreibung:

    Ein Jahrhundertleben – verwandelt in Literatur


    Drei Heldentaten habe sie in ihrem Leben vollbracht, erklärt Helga Schuberts Mutter ihrer Tochter: Sie habe sie nicht abgetrieben, sie im Zweiten Weltkrieg auf die Flucht mitgenommen und sie vor dem Einmarsch der Russen nicht erschossen. Helga Schubert erzählt in kurzen Episoden und klarer, berührender Sprache ein Jahrhundert deutscher Geschichte – ihre Geschichte, sie ist Fiktion und Wahrheit zugleich. Mehr als zehn Jahre steht sie unter Beobachtung der Stasi, bei ihrer ersten freien Wahl ist sie fast fünfzig Jahre alt. Doch erst nach dem Tod der Mutter kann sie sich versöhnen: mit der Mutter, einem Leben voller Widerständen und sich selbst.


    Über die Autorin:

    Helga Schubert, geboren 1940 in Berlin, studierte an der Humboldt-Universität Psychologie. Sie arbeitete als Psychotherapeutin und freie Schriftstellerin in der DDR und bereitete als Pressesprecherin des Zentralen Runden Tisches die ersten freien Wahlen mit vor. Nach zahlreichen Buchveröffentlichungen zog sie sich aus der literarischen Öffentlichkeit zurück, bis sie 2020 mit der Geschichte ›Vom Aufstehen‹ den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann.


    Mein Eindruck:

    Mit dem Kernstück dieses Buches gewann Helga Schubert 2020 den Ingeborg Bachmann-Preis. Völlig zu Recht und lange habe ich auf dieses Buch gewartet. Der Siegertext ist auch der titelgebende des Buches, das aus vielen kurzen und ein paar etwas längeren Kapiteln besteht. Helga Schubert ist in den Kriegsjahren geboren, musste mit ihrer Mutter flüchten, wobei sie Krankheiten und Gefahren nur knapp überlebte. Mit ihrer Mutter hatte sie dann zeitlebens eine schwierige Beziehung.

    In den Zeiten wird hin- und hergesprungen. Das macht Sinn. Anstatt einer kontinuierlichen Erzählung folgt der Ablauf eher assoziativ. Erzählt werden neben Kindheit auch die Jahre in der DDR, der Mauerfall und das Alter.


    Für mich ist Vom Aufstehen eins der wichtigsten Bücher des Frühjahrs.



    ASIN/ISBN: 3423282789

  • Helga Schubert, geboren 1940 in Berlin, studierte an der Humboldt-Universität Psychologie. Sie arbeitete als Psychotherapeutin und freie Schriftstellerin in der DDR und bereitete als Pressesprecherin des Zentralen Runden Tisches die ersten freien Wahlen mit vor. Nach zahlreichen Buchveröffentlichungen zog sie sich aus der literarischen Öffentlichkeit zurück, bis sie 2020 mit der Geschichte ›Vom Aufstehen‹ den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann.


    Ein Kriegskind, Flüchtlingskind und ein Kind der deutschen Teilung


    "Nicht, was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus." (Marie von Ebner-Eschenbach)

    Die erst kürzlich mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet Autorin beschreibt in 29 Geschichten aus der Sicht ihres Lebens. Dieser Preis hätte ihr schon 1980 zugestanden, doch die DDR Regierung wollte, dass sie ihn ablehnt. Ihre Geschichten erzählt die Autorin hier in der Ich-Form, in knappen kurzen Sätzen und mitunter wiederholen sich einzelne der Begebenheiten. Die Geschichten sind nicht chronologisch angeordnet, sondern ich habe eher den Eindruck, als wenn sie das niedergeschrieben hat, was ihr gerade in den Sinn kam. So schildert sie von der Nachkriegszeit und dem viel zu frühen Tod ihres Vaters, den sie selbst nie kennenlernen durfte, da er im Krieg gefallen ist. Und auch wenn sie ihn nicht kannte, bleibt sein Verlust doch immer ein Trauma für sie. Weil sie nie erfahren wird, ob wenigstens er sie geliebt hätte. Den ihre kaltherzige und lieblose Mutter vertraut lieber der eigenen Mutter ihr Kind an, als sich selbst um sie zu kümmern. Dort jedoch erlebt Helga meist ihre schönsten Zeiten. Besonders, wenn sie in den Ferien zwischen zwei Apfelbäumen in der Hängematte liegt und den Duft von Großmutters frischem Streuselkuchen ihr in die Nase steigt. Zumindest bei ihr fühlt sie Liebe und Geborgenheit, die ihr die eigene Mutter nie geben konnte. Die Mutter dagegen vermittelt ihr bei jeder Gelegenheit, das sie Helga eigentlich erst abtreiben, auf der Flucht zurücklassen und vor den Russen fast vergiften wollte. Was müssen solche Aussagen bei einem Kind für Spuren hinterlassen? Es muss für sie doch jedes Mal wie ein Stich gewesen sein, mitzuerleben, dass die eigene Mutter sie nie haben wollte. Lag diese Ablehnung daran, weil Helga ihrer Schwiegermutter und ihrem Vater so ähnlich war? Selbst mit dem vierten Gebot hadert sie, weil sie ihre Mutter ebenfalls keine Liebe zeigen konnte. Doch eine Theologin kann sie diesbezüglich etwas beruhigen. Und erst als die Mutter stirbt, beginnt sie ihre Leben mit diesem Buch aufzuarbeiten. Bei vielen Geschichten schreibt sie über den Alltag und das Regime der ehemaligen DDR, unter dem sie ebenfalls zu leiden hatte. Sie berichtet von ihrem ehemaligen Nachbarn, der sich erhängt hat, genauso wie über ihren Ehemann, dem Sohn der Enkelin, dem Altwerden und der Pflege, so wie den Vorlieben für gute Gerüche. Da schreibt sie z. B. über ihre Erinnerung an den Duft nach Nelkenseife, das Lavendelsäckchen neben dem Kissen und der Duft ihrer Bettwäsche, der in einem diese Gerüche widerspiegelt. Sie lässt den Leser in ihren Geschichten die Erinnerungen nicht nur fühlen, sehen, schmecken, sondern ebenso riechen. Leider kam ich nicht immer mit ihrem Schreibstil klar, der doch mitunter sehr anspruchsvoll war. Oft musste ich Sätze mehrmals lesen und sogar herausfinden, über wen sie gerade in der Geschichte erzählt. Doch die Emotionen, Tragik, mitunter Humor und insbesondere die Traurigkeit, die sich darin widerspiegelt, die spüre ich auf alle Fälle in ihnen. Und trotzdem sie mit so wenig Mutterliebe gesegnet wurde, habe ich das Gefühl bei ihren Geschichten, das sie mit ihrem Leben glücklich und zufrieden ist. Was sie sicherlich ihrer Großmutter, ihrem Mann, der Familie, dem starken Willen und ihrem Glauben zu verdanken hat. "Vom Aufstehen", einem autobiografischen, sehr persönlichen und intimen Einblick in ihr Leben und über Verletzung und Heilung, dem ich 8 Eulen gebe. :thumbup:


    ASIN/ISBN: 3423282789

    "Lebe jeden Tag so, als ob du dein ganzes Leben lang nur für diesen einen Tag gelebt hättest."

  • Helga Schubert lässt uns in ihrem autobiografischen Roman "Vom Aufstehen"durch ihr Leben in Episoden wandern; der UT lautet "Ein Leben in Geschichten". Das Buch ist (HC, gebunden) 2021 im dtv-Verlag erschienen.


    Die Autorin nennt sich selbst eine "Formbeachterin" - und das ist sie m.E. par excellence. Ich habe selten einen solch' geradlinigen, schnörkellosen, interessanten und etwas spröde zuweilen, andererseits mit einer unglaublichen Tiefe behafteten Schreibstil gelesen, in den man sich einfinden muss, der jedoch dennoch einfach zu lesen ist.


    Die "Episoden" ihres Lebens beginnen federleicht und die Szene in Großmutters Garten in der Hängematte, in der Helga Schubert als Kind in den Sommerferien las, fand ich wunderschön erzählt:


    "So konnte ich alle Kälte überleben. Bis heute." (Zitat S. 10)


    Und an einer großen Kälte mütterlicherseits mangelte es im Leben der Autorin nicht: Die Texte der einzelnen Lebensstationen erreichten mich mal mehr, mal weniger, da meine eigene Sozialisation so wenig mit der von Helga Schubert gemein hat: Sie war ein Kriegskind, ein Flüchtlingskind und ein Kind des geteilten Deutschland. In der DDR aufgewachsen, wurde sie Schriftstellerin und musste sich dem System anpassen (ihre politischen Äußerungen sind spärlich; finden aber dennoch kritische Worte im Roman). Relativ priviligiert, durfte sie zuweilen ins Ausland reisen, stand jedoch unter Stasi-Beobachtung und musste zuvor eine Erlaubnis einholen. Auffallend war für mich die Aussage, dass sie nach der Wende die Reiselust verlassen hat, da sie "nicht mehr um Erlaubnis fragen musste".


    Sie lässt den Leser teilhaben an ihren Betrachtungen und Gedanken zum Winter, zur Familie, zum Älterwerden bzw. alt sein (sie ist heute 80 Jahre alt). Für die Geschichte "Vom Aufstehen" erhielt sie 2020 den Ingeborg-Bachmann-Preis und ist vollkommen zurecht nominiert für den Buchpreis der LBM.


    Fassungslos folgt man dem immer wieder aufflackernden Unvermögen ihrer Mutter, ihr Kind, also die Autorin zu lieben und diese erfahrene Ablehnung und Kälte verfolgt Helga Schubert bis zum Tod der Mutter, letztendlich ist eine Aussöhnung möglich. Die Mutter wird in Streiflichtern beschrieben und was ich las, passte überhaupt nicht zu deren Gefühlskälte, die sich allerdings bei der Enkelin wiederum eher in liebevollem Umgang zeigte. Helga Schubert arbeitete als Psychologin und ich fand die Art und Weise, wie sie mit dem Stapel Briefe ihrer Mutter umging, unglaublich gut beschrieben und die Achtsamkeit dokumentierend:


    "sie (die Autorin) stapelt die Briefe der Mutter unter orientalischen Tüchern wie in kostbaren farbigen Meereswellen - ihre Schatzkammer - in der sie nicht ertrinken muss, in der auch alles versinken kann" - so der Text, der mich sehr beeindruckte.


    Die letzten Geschichten im Buch, in denen Helga Schubert u.a. das Älter werden bzw. alt sein beschreibt, konnten mich persönlich am ehesten erreichen, da auch ich nicht mehr ganz jung bin. Hier wurde auch deutlich, dass sie ihren Lebenspartner betreut, der nicht mehr reisen kann und man erlebt sie als liebevollen Menschen. Was mich jedoch am meisten beeindrucken konnte, ist ihre Willenskraft und ihre Unbeugsamkeit; sowohl im eigenen Leben als auch im schriftstellerischen Wirken. In den elementaren Beobachtungen ihrer Texte, die sehr authentisch und schonungslos offen auf mich wirken, gibt sie dem Leser Raum zum Nachspüren und Nachdenken. Durch die sprachliche Dichte und "Formbeachtung" ein außergewöhnlicher Lebensroman, dem auch ein außergewöhnliches Leben zugrunde liegt. Ich wünsche Frau Schubert viel Glück bei der Preisvergabe der Leipziger Buchmesse, auch wenn mich der Roman nicht in allem erreichen konnte.


    3,5 *

  • In der letzten Sendung "Buchzeit" wurde das Buch auch besprochen:

    https://www.zdf.de/kultur/buch…m-fruehjahr-2021-100.html

    Es ist das zweite der besprochenen Bücher.

    Interessant auch die kritischen Worte von Frau Vinken.

  • Danke für die Besprechung! Ich hatte mich sehr auf das Buch gefreut, doch nach der Leseprobe machte sich Enttäuschung breit, da ich von einer Bachmann-Preisträgerin eine größere sprachliche Raffinesse erwartet habe.

    Nichtsdestotrotz werde ich demnächst ins Hörbuch - ausgestrahlt durch den NDR - reinhören.

    Das Cover gefällt mir übrigens ausgesprochen gut.

  • Titel: Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten

    Autorin: Helga Schubert

    Verlag: DTV

    Erschienen: März 2021

    Seitenzahl: 224

    ISBN-10: 3423282789

    Preis; 22.00 EUR


    Das sagt der Klappentext:

    Drei Heldentaten habe sie in ihrem Leben vollbracht, erklärt Helga Schuberts Mutter ihrer Tochter: Sie habe sie nicht abgetrieben, sie im Zweiten Weltkrieg auf die Flucht mitgenommen und sie vor dem Einmarsch der Russen nicht erschossen. In kurzen Episoden erzählt Helga Schubert ein deutsches Jahrhundertleben – ihre Geschichte, sie ist Fiktion und Wahrheit zugleich. Als Kind lebt sie zwischen Heimaten, steht als Erwachsene mehr als zehn Jahre unter Beobachtung der Stasi und ist bei ihrer ersten freien Wahl fast fünfzig Jahre alt. Doch vor allem ist es die Geschichte einer Versöhnung: mit der Mutter, einem Leben voller Widerstände und sich selbst.


    Die Autorin:

    Helga Schubert, geboren 1940 in Berlin, studierte an der Humboldt-Universität Psychologie. Sie arbeitete als Psychotherapeutin und freie Schriftstellerin in der DDR und bereitete als Pressesprecherin des Zentralen Runden Tisches die ersten freien Wahlen mit vor. Nach zahlreichen Buchveröffentlichungen zog sie sich aus der literarischen Öffentlichkeit zurück, bis sie 2020 mit der Geschichte ›Vom Aufstehen‹ den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann.


    Meine Leseeindrücke:

    Ein Leben das alles andere war als frei von Fallstricken. Trotzdem hat sich die Autorin nie verbiegen lassen. Sie ist ihren Weg gegangen und steht auch zu ihren Fehlern und Fehlentscheidungen. Sie ist nicht selbstgerecht oder sucht für alles nach einer Entschuldigung. Sie ist eben ein Mensch.

    Dieses Buch hat mich sehr beeindruckt. Keine Selbstbeweihräucherung.

    Das was die Autorin schreibt wirkt authentisch und sehr ehrlich – ist aber auch keinen Seelen-Striptease. Diese Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit ist wirklich angenehm für den Leser. Man beginnt als Leser gar nicht erst zu zweifeln.

    Dieses Buch ist sehr lesenswert, es ist keine Autobiographie – es eine Sammlung von Geschichten die das Leben geschrieben hat.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.