Der Büchereulen-Adventskalender 2021

  • Der 21. Dezember von polli


    Eine Nikolausgeschichte


    Im Dezember ist es meist langweilig zu Hause. Außer an dem Tag, als der Nikolaus und sein Ruprecht zu Besuch kamen. Die beiden sahen so aus, wie Erwachsene sich den Nikolaus und seinen Mitarbeiter vorstellen: Langer roter Bademantel mit weißem Fell an den Rändern und Kapuze, angeklebter Bart, Sneakers. Der andere mit schwarzen Anziehsachen und einer schwarzen Skimütze. So eine, die man bei Banküberfällen braucht.

    Ich tat meinen Eltern den Gefallen und sagte ein Gedicht auf. Nur bei dem Weihnachtslied streikte ich. Das hat dann meine Mutter gesungen und sich danach beim Nikolaus für mich entschuldigt. „Er ist ziemlich schüchtern, wissen Sie!“

    Ich gucke dann immer starr auf meine Fußspitzen, das funktioniert auch in der Schule, und dann lassen sie dich in Ruhe. Danach las der Nikolaus einen Zettel mit Mamas Handschrift vor. Da steht jedes Jahr so ziemlich das Gleiche drauf. Drei Sachen, die Mama gut findet an mir und zwei Sachen, die ich im nächsten Jahr besser machen soll. Dieses Mal war zum Beispiel dabei, dass ich so viel zu Hause bin und zu wenig an der frischen Luft.

    Ich musste versprechen, dass ich mich furchtbar anstrenge, viel an der frischen Luft zu sein. Danach gab es Geschenke. Die fallen bei uns immer zu groß aus. Weil ich ein Nachzügler bin, sagt die Nachbarin immer. Und zu ihrer Zeit hätte es höchstens Nüsse und eine Apfelsine gegeben.

    Der Ruprecht fummelte ziemlich ruppig die beiden sperrigen Riesenkisten aus dem Sack heraus. Ich an seiner Stelle hätte mich gar nicht erst von Papa beschwatzen lassen, die Sachen da reinzutun. Irgendwann klappte es doch und dann zwangen sie mich, dem Nikolaus „DankeschönfürdieschönenGeschenke“ zu sagen. Als ob er das Zeug selbst gekauft hätte. Sie standen alle um mich herum und ich musste die Pakete auspacken.

    Der Nikolaus wollte schnell weiter, er sprang auf und rannte in den Hausflur. Papa hielt ihn fest und schüttelte ihm die Hand, etwas zu lange, weil ich nicht mitkriegen sollte, dass sie einen Briefumschlag mit Geld für den Auftritt dabei hatten, und danach war das Schauspiel zu Ende. Nein, nicht ganz. „Ruprecht, trödel nicht rum!“, rief er und dann kam der Mitarbeiter eilig heraus und die beiden winkten noch, ehe sie verschwanden.

    Ich weiß nicht, warum ich die beiden seltsam fand. Es war nur so ein Gefühl. Und deshalb zog ich meine Winterstiefel und die dicke Jacke an und sagte meinen Eltern, dass ich heute schon mit der vielen frischen Luft anfangen wollte. Das fanden sie gut. Mama rief mir noch hinterher, dass ich mein Handy zu Hause lassen soll. Ich weiß, ich könnte es verlieren oder jemand klaut es. „Ja, Mama!“, rief ich und schob mein Handy tief in die Jackentasche.

    Draußen sah ich gerade noch rechtzeitig den Nikolaus und seinen Ruprecht an der Ecke abbiegen. Sie waren ziemlich schnell und ich hatte Mühe, ihnen zu folgen. Nach ein paar Minuten stoppten sie an meiner alten Schule und ich fragte mich, was sie dort wollten. Schließlich war dort alles dunkel. Dann sah ich, dass das Tor zum Lehrerparkplatz offen stand und ein kleiner Lieferwagen dort parkte. Ich schlich mich näher heran und versteckte mich hinter einem der alten Bäume, die auf der Schulwiese neben dem Parkplatz stehen.

    Sie öffneten die Seitentür und stellten den Geschenkesack drinnen im Wagen ab. Der Nikolaus griff hinein und holte einen dunklen Kasten heraus. Als es ihm nach mehreren Anläufen nicht gelang, ihn aufzuklappen, fluchte er.

    Ich hätte ihm locker sagen können, dass an jeder Seite ein kleiner Stift ist, den man hineindrücken muss. Wenn man das geschafft hat, springt der Deckel auf und dann sieht man alle Uhren, die Papa gesammelt hat. Aber ich war einfach nur sauer, dass der Nikolaus und sein Helfer so gemein waren, uns zu beklauen. Ich bin schnell runter vom Schulgelände und dann habe ich von draußen das Tor vom Lehrerparkplatz zugeknallt. Ohne Schlüssel geht das Schloss nicht auf. Die beiden haben total geflucht, sie haben am Tor gerappelt, aber sie konnten es nicht öffnen. Ich habe mich auf der anderen Straßenseite versteckt und mit meinem Handy die Polizei angerufen. Ziemlich bald kam dann ein Streifenwagen und die Polizisten haben gesehen, dass der falsche Nikolaus und sein Helfer zu Fuß abhauen wollten, über den Zaun vom Schulgelände. Das war cool, wie die Polizisten die beiden gefangen haben. So wie im Film, nur besser. Und in echt.

    Später haben sie mich mit dem Streifenwagen nach Hause gefahren, das war toll. Aber am allerbesten war Papas Überraschung, als er die Haustür aufgemacht hat und dann die Polizisten und mich und seinen Sammlerkasten gesehen hat.


    Jetzt, kurz vor Weihnachten, habe ich meine Eltern zu einem ernsten Gespräch gebeten. Sie mussten mir versprechen, dass sie nie wieder einen Nikolaus für mich engagieren. Und dass ich mein Handy überall hin mitnehmen darf, wann immer ich das für richtig halte.

  • Der 22. Dezember von Dieter Neumann


    Meine Frau ist in der Klinik


    Ich verwahrlose nicht. Natürlich nicht.

    Sie befürchtet das, macht sich Sorgen, aber ich beruhige sie. Nein, Schatz, das krieg ich alles hin. Wär doch gelacht. Vergiss nicht: Ich war fast dreißig, als ich mein Junggesellenleben aufgab. Und – hattest du damals den Eindruck, ich würde verlottern, als du meine Wohnung erstmals betreten hast?

    Sie antwortet nicht direkt, stellt fest, das sei ja sehr lange her, und sie könne sich kaum noch daran erinnern.

    Sie hat mir diverse Zettel geschrieben – ‚Agenda‘ steht auf jedem obendrauf, darunter jeweils das Fachgebiet. Wäsche / Waschmaschine steht auf einem, Blumen auf einem anderen, es gibt eine Agenda für Mülltonnen, sogar eine für Sonstiges – und natürlich (es ist ja Adventszeit) eine, auf der Weihnachtsdeko steht.

    Eine Agenda für Essen suche ich vergeblich.

    Brauchst du doch nicht, sagt sie, du kochst eh immer für uns und kaufst die Sachen dafür ein.

    Stimmt natürlich. Nur hatte ich vergessen, wie absolut sinnentleert es ist, für sich allein zu kochen. Also gibt es hier seit Wochen Tiefkühlkost. Das ist praktisch. Fischstäbchen in der Pfanne aufbraten, fertigen Kartoffelsalat dazu – und gut. Prima sind auch diese TK-Pizzen, allerdings schmecken sie allesamt nach Pappe – egal, was für ein Foto auf der Packung drauf ist.

    Hast du die Advents-Deko gefunden?, fragt sie am Telefon. Natürlich, sie ist in dem Karton, auf dem Advents-Deko steht, sage ich. Was vielleicht nicht genau das ist, was sie hören wollte, aber als Antwort nicht einmal falsch. Doch für wen soll ich die Bude adventlich schmücken? Oder ein Buch lesen, ohne mit ihr darüber sprechen zu können? Oder fernsehen, ohne mich sofort mit ihr darüber auszutauschen? Und das Zu-Bett-Gehen zögere ich immer ganz lange hinaus – ein Grauen ohne Gute-Nacht-Kuss von ihr.

    Trotzdem: Ein bisschen Advent kann ich auch! In unseren Karton hab ich gar nicht erst reingeschaut, da werde ich nur melancholisch. Hab mir aber so einen Pott gekauft mit einer dicken roten Kerze in stacheligem Grünzeug. Viel besser als ein Adventskranz, der seine Nadeln überall auf dem Tisch verstreut. Und die Kerze hält noch ein paar Jahre. Ich vergesse nämlich immer, sie anzuzünden.

    Am Wochenende waren meine Töchter hier. Sie haben sich so komisch angesehen, aber ich habe mir nichts dabei gedacht. Tags darauf erhielt ich die Ankündigung, sie würden am Mittwoch kommen und das Haus vorweihnachtlich schmücken. Ich solle bitte die Deko bereitstellen. Jetzt sieht es hier natürlich wunderschön aus, vor allem, wenn es dunkel wird. Und wenn ich ausnahmsweise mal daran denke, die Lichter anzuknipsen.

    Vier Wochen. Eine kurze Zeit, verglichen mit über vierzig Jahren Ehe. Aber lang genug, um etwas wiederzuentdecken. Etwas sehr Wichtiges. Das Wichtigste überhaupt.

    Ich werde es ihr sagen, wenn ich sie kurz vor Weihnachten endlich abholen darf.

  • Der 23. Dezember von Tom


    Atemlose Weihnachten


    Extrakorporale Membranoxygenierung, denkt Steffen und sieht an der Fassade des Gebäudes hoch. Etwas, das noch nicht Schneeflocke ist, aber auch nicht mehr Regentropfen, fällt ihm dabei ins linke Auge. Er blinzelt. Dort oben, im vierten Stock, hinter einem der Fenster, die man nicht öffnen kann, liegt seine Mutter. Menschen in Schutzanzügen und mit Masken versorgen die gerade mal neunundsechzig Jahre alte Frau, die jetzt an der ECMO hängt und das mit neunzigprozentiger Sicherheit nicht überleben wird. Eine Maschine hat die Aufgabe übernommen, ihrem Blut das Kohlendioxid zu entziehen und es mit Sauerstoff anzureichern, weil ihre Lunge das nicht mehr schafft. Gleichzeitig wird Heparin in ihr Blut gemischt, damit es nicht in der Maschine gerinnt. Denn Steffens Mama hat das Virus und ist daran schwer erkrankt. Sie wird sterben, denkt er, und fängt an zu weinen. Und er darf nicht zu ihr.

    „Herr Piesker, ich darf Sie nicht hereinlassen“, hatte der Mann am Stationsempfang gesagt. „Ich darf niemanden hereinlassen. Sie wissen das.“

    „Aber meine Mutter stirbt. Ganz alleine. Und es ist Weihnachten.“

    Der andere hatte traurig genickt. „Ich weiß. Aber ich kann nichts machen. Sie dürften nicht einmal hier oben sein. Bitte, gehen Sie nach Hause. Sie können hier nicht helfen.“

    Also steht er vor dem Klinikum und schaut an der Fassade hoch. Sie haben geschmückt. Die Überdachungen des Haupteinganges und des Nebeneinganges zur Notaufnahme sind mit Lichterketten dekoriert, und auf der kleinen Insel, um die der Wendekreis für die Notarzt- und Krankenwagen führt, steht ein Weihnachtsbaum, an dem silberne Kugeln hängen. Die Silberkugeln fangen jetzt an, blauweiß zu funkeln, denn hinter Steffen biegt ein Krankenwagen aufs Klinikgelände ein. Noch vor dem Anhalten schaltet der Fahrer das Blaulicht aus. Als die Türen am Heck geöffnet werden, sieht Steffen, wie darin ein Sanitäter neben einem Menschen steht, der auf einer Trage liegt. Der Sanitäter beatmet den Patienten manuell. Noch einer, denkt Steffen. Wenn er hier warten würde, vielleicht ein Stündchen, könnte er wahrscheinlich ein halbes Dutzend solcher Ankünfte miterleben.

    Er zieht ein Tempo aus der Jacke und schneuzt sich, schaut dann auf die Uhr. Es ist halb drei, die meisten Menschen, denen es gut geht, werden sich jetzt auf die Bescherung vorbereiten, sich einen Weihnachtsfilm bei Netflix anschauen, vielleicht Kaffee trinken oder einen Spaziergang machen. Die Luft ist frisch und gut, und der Niederschlag scheint sich allmählich dafür zu entscheiden, Schnee sein zu wollen. Steffen sieht noch einmal nach oben, steckt die Hände in die Taschen seiner Winterjacke und schlurft zur Bushaltestelle. Er hat Glück, der Bus kommt fast gleichzeitig an. Die riesigen Wischerblätter schieben matschigen Regen vom Fenster und quietschen dabei leise. Der Busfahrer trägt seine Maske unter der Nase, und zwei der acht Fahrgäste, an denen Steffen auf der Suche nach einer leeren Bank vorbeigeht, tragen überhaupt keine Masken. Einer davon ist ein junger, breitschultriger Mann mit Undercut, der sogar Steffens Blick sucht, als er vorbeikommt, und ihm mimisch mitteilt: Du kannst mir nichts, Wichser, und mir kann sowieso nichts passieren, denn ich bin scheiße-unsterblich. Schräg dahinter sitzt eine Frau in den Dreißigern, die mit ihren modellierten Nägeln klickernd auf dem Smartphone herumtippt. Die Maske trägt sie am Handgelenk. Steffen überlegt kurz, den Busfahrer zur Rede zu stellen. Er denkt sogar darüber nach, die Polizei zu rufen. Kämen die? Aber stattdessen schaut er geradeaus, schiebt sich auf einen leeren Doppelsitz, zieht die Schultern hoch und blickt aus dem Fenster, während sein Blick verschwimmt. Es sind ja nur vier Bushaltestellen. Erstaunlich, dass um diese Zeit an Heiligabend überhaupt so viele Menschen im Bus sitzen.

    Er steigt am Marktplatz aus, wo der Weihnachtsmarkt aufgebaut ist, auf dem sich hunderte Menschen drängen, die meisten ohne Mund-Nase-Schutz. Es ist sehr laut, Musik ist zu hören, Stimmengewirr und das Klirren der Glühweinbecher. Steffen geht im großen Bogen daran vorbei, seine Anderthalb-Zimmer-Wohnung ist in einer Parallelstraße zum Markt. Doch er wird aufgehalten, denn da ist eine kleine Demonstration, wohl gerade in der Auflösung begriffen, aber einige sind noch am Protestieren. Es sind nur zwanzig, fünfundzwanzig Leute. Sie skandieren etwas, in dem das Wort „Diktatur“ vorkommt, und er weiß, was auf ihren Transparenten und Plakaten steht. Steffen muss an ihnen vorbei, es gibt keinen anderen Weg. Er zieht den Kopf ein, aber er erkennt trotzdem ein paar Gesichter. Frau Bellmann, die Nachbarin seiner Mutter, die immer gerade etwas im Treppenhaus zu tun hat, wenn er seine Mutter besucht, und die dabei nie eine Maske trägt. Als er sie darauf angesprochen hat, sagte sie: „Junger Mann, das hier ist mein Zuhause, und da kann ich rumlaufen, wie ich will“, und ihre Stimme überschlug sich dabei fast. Da ist Giancarlo, der Besitzer der „Pizzeria Il Trulli“, nicht weit vom Markt, vor dessen Restaurant ein Schild steht: „Hier 3G – Gut Gegessen und Getrunken!“, und in dessen Laden weder irgendwas kontrolliert, noch auf irgendeine Regel geachtet wird. Steffens Mama hat unter anderem in dieser Pizzeria geputzt, um ihre Rente aufzustocken. Der halbe Ort geht dort essen.

    Er schafft es beinahe, unerkannt vorbeizukommen, aber dann hört er doch noch die schrille Stimme von Frau Bellmann. „Hey, Steffen. Steffen Piesker. Hallo!“, ruft sie. Er bleibt stehen, dreht sich in ihre Richtung und schaut sie an. Sie grinst, ihr Gesicht ist gerötet, möglicherweise vom Glühwein, oder weil es sie so erregt, unter ihresgleichen zu sein. „Was ist?“, fragt er müde. „Fröhliche Weihnachten wollte ich wünschen!“, sagt sie laut. „Dir und deiner Mutter.“ Er ist fast vierzig, aber diese Frau duzt ihn einfach, weil er der Sohn einer Frau in ihrem Alter ist. „Wie geht es ihr denn? Ich habe gehört, sie musste ins Krankenhaus. Hoffentlich nichts Ernstes?“

    Steffen schüttelt den Kopf und will weitergehen. Ihm fällt nichts ein, was er dieser Frau sagen könnte, das sie auch verstehen würde. Er zwingt sich zu dem Gedanken, dass viele Menschen nichts dafür können, wie sie handeln und reden und zu denken glauben, dass sie anfällig für Einflüsterungen sind, und selbstsüchtig und auch nicht sehr schlau. Dass sie es, wie man so schön sagt, nicht böse meinen. Aber dann denkt er wieder, dass sich damit alles rechtfertigen ließe, und er fängt an, eine Replik zu formulieren, doch in diesem Augenblick klingelt sein Telefon. Er zieht es aus der Tasche und spürt, wie die Tränen einsetzen, denn er weiß, wer ihn anruft, und warum – der einzige Mensch, der ihn sonst an Heiligabend anrufen würde, ist heute ganz sicher nicht dazu in der Lage. Er muss blinzeln, um das Display ablesen zu können. Als er erkennt, dass seine Vermutung zutrifft, fangen seine Hände an zu zittern. Steffen schafft es gerade so, den Anruf anzunehmen und sich das Smartphone ans Ohr zu halten.

    „Hallo?“, fragt er, und da ist noch ein Fünkchen Hoffnung, dass es anders sein könnte. Dass ein Wunder passiert ist. Schließlich ist ja Weihnachten, und irgendwo unter Glühwein, Glitzerklimbim, Geschenketürmen und Gänsebraten steckt vielleicht noch das, was dieses Fest irgendwann mal bedeutet hat.

    „Herr Piesker, hier ist Dr. Borchert vom Stadtklinikum. Es tut mir sehr leid, aber ich habe eine sehr traurige Nachricht für Sie.“

  • Der 24. Dezember von Doc Hollywood


    Schöne Bescherung


    „Warum ausgerechnet heute?“

    Mein Gegenüber beugte sich leicht vor, blieb aber mit dem Gesicht im Schatten. Vergeblich versuchte ich mit zusammengekniffenen Augen im Halbdunkel etwas zu erkennen. Ihre Zigarette glühte kurz auf, als sie daran zog und seufzte.

    „Es ist der perfekte Tag dafür.“ Ihre Stimme klang rau, aber weder jung noch alt. Nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Ich schüttelte unmerklich den Kopf, als mir bewusst wurde, dass ich mir darüber nie Gedanken gemacht hatte.

    „Ist das ein Problem für Sie?“, hakte sie nach und zog dabei ein weiteres Mal an der Zigarette. Sie hatte meine unbewusste Bewegung wohl wahrgenommen.

    Ich straffte mich und unterdrückte den Impuls mir mit der Hand durch den Bart zu fahren. „Nein, kein Problem. Es wäre nur an jedem anderen Tag des Jahres wahrscheinlich einfacher.“ Ich starrte auf den Schatten, der in einer Ecke meines Büros in dem hohen Ohrensessel saß. Schmale Finger lösten sich aus der Dunkelheit und zerdrückten den Zigarettenstummel im Aschenbecher, der auf dem Beistelltisch neben ihr stand. Sie deutete auf das Fenster.

    „Es beginnt zu schneien. Es wird eine Nacht, wie aus dem Bilderbuch zu werden.“ Ihr Lächeln war dabei regelrecht zu spüren.

    Ich stand auf, um mir durch die halbgeschlossenen Jalousien das geschäftige Treiben anzusehen. Durch einen Vorhang dicker Flocken schoben sich Fahrzeugkolonnen über den Asphalt, der mit jeder Sekunde von einer weiteren weißen Schicht überzogen wurde. Menschen mit prall gefüllten Tüten in den Händen eilten von Laden zu Laden oder versuchten ein Taxi heranzuholen. Viele Fenster wurden von bunten Lichterketten und blinkenden Sternen erleuchtet. Ich spreizte die Lamellen mit den Fingern etwas weiter auseinander und stellte zufrieden fest, dass die Neonreklame schräg gegenüber immer noch defekt war. „Ich nehme an, Sie haben die Daten parat?“, fragte ich sie, ohne meinen Blick von der Straße zu nehmen. Mein Mobiltelefon in der Hosentasche vibrierte, ich verzog meine Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln.

    „Sie haben gerade seine Termine als iCal bekommen, die Route ist auch dabei. Es muss vor dem Auftritt im Kinderkrankenhaus passieren. Falls Sie das Zeitfenster verpassen, ist unsere Vereinbarung selbstverständlich hinfällig.“

    „Selbstverständlich.“ Ich nickte und versuchte meine abschweifenden Gedanken beim Blick nach draußen wieder einzufangen. Ein kurzes Rauschen, als ob ein Windstoß durch herabgefallene Blätter gesaust wäre, und das leise Klingeln eines entfernten Glöckchens unterbrachen die Stille. Ich drehte mich um. Sie war weg. Ich holte tief Luft und zuckte mit den Schultern, dann begann ich meine Sachen zusammenzupacken.

    *

    Das Schneetreiben hatte inzwischen aufgehört, nur noch vereinzelt schwebten ein paar Flocken durch die Nacht. Ich sah in den Himmel, es war sternenklar und sah nicht mehr danach aus, als ob es heute noch einmal schneien würde. Das machte es einfacher. Ich öffnete die Seitentür des Vans und ließ mit einem hörbaren Klicken die zwei Verschlüsse des Metallkoffers aufschnappen, der im Fußraum verstaut war. Das Steyr HS war eine Präzisionswaffe. Ich strich über den mattschwarzen Lauf und nahm neben dem Gewehr auch den Clip mit den fünf Patronen aus einer gesonderten Schaumstoffeinlage des Koffers an mich. Dann kletterte ich etwas zu behäbig aufs Dach des Vans, den ich auf der einsamen, obersten Ebene eines Parkhauses beinahe einen Kilometer vom Kinderkrankenhaus entfernt abgestellt hatte. Es tat mir nicht gut, mich in der Vorweihnachtszeit mit Lebkuchen und Plätzchen vollzustopfen. So gut es ging, machte ich es mir auf der eiskalten Karosserie bequem. Das Steyr war geladen, eingestellt und hatte auf dem ausgeklappten Zweibein einen sicheren Stand. Ich kniff das linke Auge zu, legte den Kopf leicht schräg und sah mit dem anderen Auge durch die Zieloptik. Die Sicht war exzellent, kein Wind, nichts störte. Die Dachaufbauten des Krankenhauses schienen zum Greifen nah, Klimaanlagen, Triebwerksräume der Aufzüge, eine kleine Wetterstation mit Digitalanzeige. Selbst auf über neunhundert Meter Entfernung, konnte ich die Temperatur ablesen: 2 Grad. Ich schüttelte einen kurzen Schauer ab und ließ den Blick über den Horizont schweifen.

    Da kam er. Es war ein Leichtes, den von neun Rentieren gezogenen, riesigen Schlitten am Himmel zu erspähen. Noch dazu, weil das vorderste Tier diese bescheuerte, rot leuchtende Nase hatte. Kaum zu übersehen. Ich überprüfte ein weiteres Mal, ob das Gewehr korrekt eingestellt und feuerbereit war. Als der Schlitten auf dem Krankenhausdach landete, hatte die vordere Rentierreihe Mühe rechtzeitig vor Ende der Hubschrauberlandeplattform zum Stehen zu kommen. Der weißbärtige Dicke zog mit aller Kraft die Zügel zurück und schaffte es gerade noch das Gespann einzufangen. Ich korrigierte die Zieloptik, während ich ihm zusah, wie er sich schwer keuchend aus dem Schlitten wälzte und seine Mütze zurechtrückte. Dann angelte er eine Cola aus einer seiner Manteltaschen und köpfte den Kronkorken der Flasche an der Seitenwand seines Schlittens. So, wie die Wand aussah, waren daran schon viele Flaschen geöffnet worden. Ich rollte mit den Augen, der Typ war ein lebendig gewordenes Klischee. Kein Wunder, dass sie ihn so hasste. Als er gerade zu einem kräftigen Schluck ansetzte, war wieder dieses kurze Rauschen in der Luft und irgendwo in der Ferne schien ein Glöckchen zu läuten.

    Mit einem Mal stand sie nur wenige Schritte von ihm entfernt auf dem Dach. Blonde Locken, die ihr bis zu den Hüften hinunterreichten, eine strahlende Krone auf dem Kopf, die gleichzeitig silbrig und golden glitzerte und ein Kleid, das wie aus Licht gewebt war. Bei jeder ihrer Bewegungen schien es, als ob engelsgleiche Flügel hinter ihr fluoreszierten. Mir stand der Mund offen und ich musste mich zusammenreißen, um die Zieloptik wieder auf ihn zu richten. Er schien gelangweilt und leerte die Cola in einem Zug. Dann rülpste er offensichtlich und ich war dankbar nur beobachten, aber nicht zuhören zu können. Die leere Flasche flog in ihre Richtung und es entbrannte ein erkennbar lautstarker und aufgeregter Streit. Dann wurde sie still und lächelte ihn kalt an. Er runzelte unsicher die Stirn und strich sich nervös durch den langen, weißen Bart. Ich richtete das Fadenkreuz auf die Mitte seines Kopfes. Er drehte sich in meine Richtung und sah mich direkt an. Ich hasste es, wenn sie das taten. Verdammte, magische Wesen! Sie konnten es spüren, selbst auf neunhundert Metern Entfernung. Seine Pupillen weiteten sich. Ich zog den Abzug durch.

    *

    „Transaktion abgeschlossen, wie vereinbart.“

    Nach einem letzten Blick auf meinen Kontostand, steckte ich das Mobiltelefon wieder zurück in die Hosentasche. „Ich mache gerne Geschäfte mit Dir.“

    Ihre Fingerspitzen spielten scheinbar unbewusst mit den goldenen Locken. Mit einem Nicken deutete sie auf die Wanduhr hinter meinem Schreibtisch. „Noch ein paar Minuten Zeit, dann ist Heiligabend vorbei.“ Sie kuschelte sich etwas tiefer in den Ohrensessel und schlug die Beine so übereinander, dass der goldglitzernde Minirock noch kürzer wurde. „Und, hast Du vielleicht noch einen Wunsch ans Christkind?“

    Ich sah sie lange an, lächelte und schloss die Jalousien.

    ENDE