Wolfgang Herrndorf - Arbeit und Struktur

  • Wolfgang Herrndorf - Arbeit und Struktur


    Verlag: Rowohlt Verlag

    Erscheinungsdatum: 2013

    ISBN: ‎ 978-3499268519


    Über den Autor:

    Wolfgang Herrndorf, Jahrgang 1965, studierte zunächst Malerei, widmete sich dann jedoch der Schriftstellerei.

    Bekannt wurde Wolfgang Herrndorf mit Romanen wie "Diesseits des Van-Allen-Gürtels", "Tschick" und "Sand",

    für den er den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt.

    Wolfgang Herrndorf lebte und arbeitete bis zu seinem Tod im Jahr 2013 in Berlin.


    Über den Inhalt:

    Nach einem Telefonat mit einem ebenfalls an einem Glioblastom erkrankten Mann,

    der nach seiner Diagnose entgegen ärztlichem Rat zu arbeiten beginnt und nun schon zehn Jahre mit der Erkrankung lebt,

    steht für Wolfgang Herrndorf fest, sei verbleibendes Leben aufzuzeichnen und es mit Arbeit und Struktur zu füllen.

    Nachzulesen sind die Aufzeichnungen im nunmehr öffentlichen Blog: https://www.wolfgang-herrndorf.de/


    Meine Meinung:

    Abschied, Arbeit, Avastin


    Als der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf im Frühjahr 2010 die Diagnose Glioblastom erhält, wird ihm schnell klar, dass ihm nur noch wenig Zeit bleibt,

    sowohl zum Leben als auch zum Arbeiten.

    Er beginnt Tagebuch im Bewusstsein zu schreiben, dass seine Aufzeichnungen nach seinem Tod veröffentlicht werden.

    Die Diagnose verändert alles; Wolfgang Herrndorf nutzt die Zeit, um zu arbeiten und seiner Arbeit eine Struktur zu verleihen.

    Nichts ist dringender als sein Wunsch, jetzt nach dem "Tschick" ein Erfolg ist, weiterzuschreiben und veröffentlicht zu werden.

    Die anfänglichen und durchgehend im Telegrammstil gehaltenen Notizen erzählen minutiös von Arztbesuchen, Googlerecherchen und dem Bedürfnis,

    seine Krankheit und Therapiemöglichkeiten zu verstehen. Diese Aufzeichnungen sind keines traurig, oftmals wechseln sich Zynismus und Hoffnung ab,

    vor allem dann, wenn Wolfgang Herrndorf als Patient gute Nachrichten erhält.

    Doch dieses Tagebuch ist viel mehr als das Protokoll eines Todes; es verarbeitet literarisch das Schreiben und Leben eines vielseitigen Künstlers

    mit unzähligen Interessen. Wenn er von Büchern schwärmt oder sie verflucht, Gedichte wie das der "An der Weser, Unterweser" rezitiert oder

    von seinen Reisen nach Marokko und an die Ostsee erzählt, dann wird der Mensch warmherzige, kluge und tatkräftige Wolfgang Herrndorf spürbar.

    Zweifelslos ist dieses Tagebuch nicht nur Zeugnis eines Sterbenden, der wie ein Irrer arbeitet, noch plant, vier Romane in einem Jahr zu schreiben,

    mit Zeit jongliert und Rückschläge erlebt, auf Therapien hofft und von der großartigen Unterstützung seiner Freunde erzählt;

    es geht auch um die kritische Auseinandersetzung mit dem Feuilleton, das keine Buchbesprechungen mehr zu schreiben vermag,

    um sich selbst kreist und Bücher nur noch anhand der eigenen Erfahrungswelt beurteilt.

    Neben Arbeit und Krankheit spielen viele weitere Facetten eine Rolle, auch das Leben in Berlin und Begegnungen mit Menschen, die nicht wissen, wie sie mit seiner Erkrankung umgehen sollen.

    Die berührendsten Momente sind jedoch die, in denen Wolfgang Herrndorf die Frage nach einem würdevollen und selbstbestimmten Tod stellt.

    Eine Frage, die weitestgehend unbeantwortet bleibt und die er für sich mit dem Freitod beantwortet.

    "Arbeit und Struktur" erzählt vom Sterben, von Therapien und nicht zuletzt von Arbeit und Leben, nur selten tieftraurig, immer hoffnungsvoll und macht schmerzlich bewusst,

    dass wir mit unserer Zeit sorgsam und nützlich umgehen sollten.


    ASIN/ISBN: 3499268515

  • Schon damals immer mal wieder in Herrndorfs Blog geschaut, nun lese ich das Buch – mit großem Gewinn. Mehr als eine ergreifende Krankengeschichte: es geht über das Leben und das Sterben.

    Die besondere Tragik ist greifbar: Im Moment des Erfolgs ist der vitale, sportliche Mann in seinen Vierzigern urplötzlich dem Tode geweiht. Er, der das Leben liebte und bekannte, schon „vorher“ unter Thanatophobie gelitten zu haben, wird getragen in seinem langen Scheiden von einem großen Freundeskreis. Kommunikation war ihm das Wichtigste.

    Und ja, sie schienen das Leben in vollen Zügen zu genießen: Baden, Fußballspielen, Kino, Literatur, Ritte von Party zu Party. Der Autor einer zelotischen Gazette bezeichnete in einem Nachruf den Kreis um Herrndorf als „Bildungsprekariat“, womit er im Gegensatz zur ursprünglichen Bedeutung des Begriffes wohl meinte, dass die – mindestens literarisch – hochgebildeten Jungs und Madels erheblich weniger verdien(t)en als Jürgen Drews oder die Wildecker Herzbuben. Herrndorf schrammte in seiner Ein-Zimmer-Hinterhauswohnung finanziell immer knapp am Existenzminimum vorbei, Geld bedeutete ihm nichts, und als er nach dem Erfolg von „Tschick“ plötzlich „Geld wie Heu“ hatte, konnte er nicht mehr viel damit anfangen. Plante nicht noch ein Abenteuer der intensiven Art, eine Weltreise etwa, jetzt, da der Sensenmann an die Pforte klopfte, nein, er stürzte sich geradezu manisch in die Arbeit.

    Originelle Gedanken und hübsche Passagen, wie eingangs die rund um das Bekenntnis, den Blick früh schon auf die Vergangenheit gerichtet zu haben, Goethe fiel mir sofort ein, obwohl leicht deplatziert: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt“ , oder etwa sein gespaltenes Verhältnis zu Tellkamp (und den Quatsch, den Mann mit Thomas Mann auf eine Stufe stellen zu wollen), oder plötzliche, originelle Gedankenblitze, einmal auch um den in seiner Badewanne ertränkten Schopenhauer. Und natürlich um die Kankengeschichte selbst ...

    Auch ein Berlin-Buch. „Berlin war richtig“ meint er an einer Stelle. Na ja, da darf man durchaus anderer Meinung sein …

    Herrndorf hat unglaublich viel gelesen. Ich bin noch nicht ganz durch, glaube aber nicht, dass er einen Hinweis gibt auf das, was ich selbst lesen würde, wenn ich mich zur letzten Tat entschlösse: Seneca und Marc Aurel, und noch einmal den „Diskurs über den Freitod“ von Jean Amery.

    Herrndorf spricht von Caro-Kann. Schade, hätte zu gern mal gegen ihn Schach gespielt.