Der Büchereulen-Adventskalender 2022

  • Der 21. Dezember von polli



    Das Wunder des Schreibens


    Den Beginn meiner diesjährigen Weihnachtsgeschichte diktiere ich. Das ist nichts Besonderes — oder doch? Meine allerersten Geschichten habe ich mit dem Schulfüller in ein Heft geschrieben. Ich erinnere mich, dass ich als Kind fasziniert davon war, dass man flüchtige Gedanken mit Buchstaben festhalten konnte, so dass sie sich immer wieder nachlesen ließen. Ein Wunder.


    Heute, Jahrzehnte später, diktiere ich meine Gedanken meinem Schreibprogramm, das sich auf meinem Tablet befindet. Ich schweife erneut ab: Ist es nicht wunderbar, dass ein Programm die Regeln der von Menschen gemachten Rechtschreibung so gut beherrscht, dass ich kaum ein Wort nachbessern muss?

    Der Gipfel des Fortschritts wäre es, wenn sich meine Weihnachtsgeschichte von allein, also ohne mein Zutun schreiben ließe.


    „Das gibt es längst“, sagt Mimo, der mir eine Tasse mit heißem Zimt-Pflaume-Tee auf den Schreibtisch stellt und einen Blick auf meinen Bildschirm wirft.

    „Glaube ich nicht“, entgegne ich und korrigiere das Wort „entgegnete“, das das Schreibprogramm eigenmächtig in die Vergangenheitsform umgewandelt hat, obwohl ich das so nicht diktiert habe. Ich unterdrücke ein leichtes Schwindelgefühl: Wie kann man zeitgleich eine Geschichte schreiben und darüber eine Geschichte schreiben?


    Mimo unterbricht mich. „Künstliche Intelligenz“, sagt er. Ich schüttle den Kopf, während ich die Worte „Anführungsstriche oben“ lösche und durch echte Anführungszeichen ersetze. „Du siehst doch, wie begrenzt allein schon dieses Programm ist. Zwar ist es ein Wunder, dass es überhaupt funktioniert, aber zwischendurch treten höchst seltsame Fehler auf.“


    „Moment“, unterbricht er mich erneut und nimmt mein Tablet. Er loggt sich auf einer Seite ein, die ich nicht kenne, und zeigt auf ein schmales Eingabefeld. „Schreib hier hinein, welche Frage oder welchen Auftrag du an die Künstliche Intelligenz hast. Du kannst mit ihr in deutscher Sprache reden, also schreiben, als wäre sie ein echtes Gegenüber. Probier es aus!“

    „Das klappt eh nicht! Na gut, vielleicht etwas Kurzes, ein Gedicht.“

    Ich überlege, dann tippe ich eine Aufgabenstellung ein.


    Schreibe ein kurzes Weihnachtsgedicht mit einem Tannenbaum und Eulen und einer überraschenden Wendung.


    Mimo nickt. „Das ist leicht, warte ab.“

    Während ich noch nach einer schlagfertigen Entgegnung suche, schreibt die Künstliche Intelligenz Buchstabe für Buchstabe die folgenden Zeilen:


    Tief im Wald ein Tannenbaum

    Steht ganz still und stolz.

    Eulen schauen neugierig

    Von ihren dunklen Höhlen aus.


    Doch plötzlich, überraschend,

    Kommt Bewegung in den Wald.

    Die Eulen flattern aufgeregt,

    Der Tannenbaum beginnt zu strahlen.


    Denn es ist Weihnachtszeit,

    die Zeit der Freude und des Lichts.

    Der Tannenbaum erstrahlt nun

    In funkelnden, glänzenden Farben.


    Die Eulen singen fröhlich,

    Ein Fest der Liebe und des Friedens.

    In dieser Nacht, so still und klar,

    Ist alles möglich, alles wahr.


    Mimo lacht, als er mein überraschtes Gesicht sieht. „Habe ich es nicht gesagt? So geht KI heutzutage. Überleg mal, wie das unsere Arbeit revolutionieren wird!“

    „Und die Hausaufgaben, mein Lieber. Kein Jugendlicher schreibt mehr eigene Aufsätze oder Gedichte, jeder bedient dieses Maschinchen für seine Zwecke. Bei jeder handgeschriebenen, altmodischen Weihnachtskarte werde ich mich fragen, ob die Zeilen von Herzen kommen oder von dem Ding da formuliert wurden. Mir zieht es gerade den Boden unter den Füßen weg.“

    „Das ist doch bei allem Geschriebenen so. Woher wissen Leser, was echt ist und was ausgedacht?“


    Ich trinke einen Schluck Tee. „Wenn sie das nicht wissen, sollten wir es ihnen mitteilen. Diese Tasse hier ist echt. Ich bin echt, du bist echt, nur die Seite mit der Künstlichen Intelligenz ist ausgedacht und natürlich ist das Weihnachtsgedicht mit den Eulen von mir selbst. Übrigens, Mimo, meine Geschichte ist gerade fertig geworden, ich ergänze nur eben ein paar Wörter.“


    Frohe Weihnacht, liebe Eulen!


    PS

    Nein, so wie in der Geschichte ist es nicht gewesen. Mimo ist nicht echt, sondern der Name einer App auf meinem Tablet, mit der sich die Programmiersprache Python erlernen lässt. Und die Seite, auf der man mit der Künstlichen Intelligenz in Kontakt treten kann und sich ein Weihnachtsgedicht wünschen darf? Die ist genauso echt, wie ich es bin. Oder?

  • Der 22. Dezember von Sinela



    Ein neuer Versuch


    »Chef, könntest du mal kommen, wir haben da ein Problem.«

    Der Kobold sah den großen Mann bittend an. Dieser schloss erst einmal die Augen, geblendet von den grellen quitschbunten Klamotten, die der kleine Mann trug. Im Stillen schwor er sich, gleich nach dem Stress des Weihnachtsgeschäftes eine Kleiderordnung für seine Angestellten zu erlassen. Er seufzte.

    »Was ist denn jetzt schon wieder? Dauernd kommt ihr mit irgendwelchen Problemen, die eigentlich gar keine sind. Oder die ihr eigentlich selbst lösen könntet, wenn ihr euch anstrengen würdet. Aber nein, immer kommt ihr zu mir gerannt. Glaubt ihr, ich habe nichts anderes zu tun als dauernd in eure Werkstatt zu gehen?«

    Der Kobold wurde rot, er glühte regelrecht. Die beiden Engel, die vor dem allwissenden Monitor standen, grinsten, denn diese Farbe biss sich total mit dem grellen neongrün der Jacke, die der Kobold trug. Und sie wussten, wie der Chef auf so etwas reagieren würde.

    »Nein, nein, diesmal können wir wirklich nichts machen, wir brauchen dich! Wenn das so weitergeht, können wir nicht mehr arbeiten, und dann ...«

    »Ich komme ja schon!«, grummelte der große Mann. »Alles muss man hier selbst machen. Und zieh um Gottes willen diese furchtbare Jacke aus, da erblindet man ja.«

    Mit großen Schritten ging der Chef an dem Kobold vorbei, er konnte diese Farbexplosion einfach nicht mehr ertragen!


    Als der Chef zu der Werkstatt, in der die Kobolde fleißig schnitzten, bastelten, klebten und rollten, kam, traute er seinen Augen nicht: Alle standen vor dem Gebäude und unterhielten sich lebhaft. Das gab es doch jetzt nicht, wie sollten denn die ganzen Geschenke fertig werden, wenn hier alle nur faul herumstanden?

    »Was ist denn hier los?«, donnerte seine Stimme über den Platz, worauf alle Gespräche schlagartig verstummten. Gespenstige Ruhe kehrte ein.

    »Geht sofort wieder an eure Arbeit, aber plötzlich, oder ich vergesse mich!«

    Die Kobolde wurden blass, denn mit dem Chef war nicht gut Kirschen essen, wenn er wütend war.

    »Na los, auf was wartet ihr noch?«

    Die Kobolde blieben wie erstarrt stehen, doch dann traute sich einer von ihnen ein paar Schritte nach vorne zu gehen und dem Chef zu antworten.

    »Das würden wir ja gerne, aber es geht einfach nicht mehr. Wir haben da drin keinen Platz und ...«

    »Was soll das denn bitte heißen? Von wegen und keinen Platz, ihr macht eure Arbeit schon seit vielen Jahren in diesem Gebäude und der Platz hat immer gereicht. Wo also ist das Problem?«

    »Am besten gehst du mal rein Chef«, mischte sich ein anderer Kobold ist das Gespräch ein, »und machst Dir selbst ein Bild von der Situation.«

    Das ließ sich der große Mann nicht zweimal sagen. Er ging los und öffnete die Türe, die zur Werkstatt führte und ging hinein. Doch genauso schnell wie er drinnen war, war er auch schon wieder draußen, denn eine große Kugel aus Wolle drückte sich, endlich von der Enge des Raumes befreit, nach draußen. Sie schob den Chef regelrecht vor sich her bis dieser beim rückwärts laufen ins Stolpern kam und sich auf den Hintern setzte. Die Kobolde, die das Geschehen mit zum Teil offenen Mündern verfolgt hatten, grinsten. Einige lachten auch hinter vorgehaltener Hand. Der Chef sprang auf und drehte sich um.

    »Ruhe! Wenn noch einer von euch über mich lacht, dann könnt ihr im Stollen weiter arbeiten.«

    Alle Kobolde verstummten, denn in den dunklen Tunnel weit unter der Erde wollte niemand von ihnen verbannt werden.

    »Also, was ist hier los? Macht schon den Mund auf, ich werde euch schon nicht fressen.«

    »Es ist so, es ist, also ..«

    »Nun stotter nicht herum, sag mir endlich woher das Zeug kommt, das eure Werkstatt, so wie es aussieht, komplett ausfüllt.«

    Der Kobold atmete tief ein und nahm dann seinen ganzen Mut zusammen.

    »Ihr hatte doch die Elfe Luana in einen Raum gesperrt, damit sie dort häkelt und nichts mehr anstellen kann. Da sie den Sommer über sehr fleißig war, quoll die Wolle bald aus den Fenstern des Raumes heraus, bedeckte die Gartenbeete, sodass dort nichts mehr wachsen konnte. Deshalb haben die Wichtel uns gebeten, sie bei uns aufzunehmen. Da wir ein gutes Herz haben, haben wir das gemacht. Wir haben dabei aber nicht bedacht, dass es uns eines Tages auch so gehen würde wie dem Garten.«

    Luana! Der Chef hätte es sich denken können! Wenn es irgendwo eine Katastrophe gab, dann war sie garantiert daran beteiligt. Was sollte er bloß mit dieser Elfe machen? Er hatte wirklich gedacht, er hätte dafür gesorgt, dass sie nichts mehr anstellen konnte. Er seufzte, mit dem denken war das halt so eine Sache. Aber gut, jetzt war das Kind in den Brunnen gefallen und er musste sich etwas einfallen lassen.

    »Nehmt alle Scheren, denen ihr habhaft werden könnt und zerschneidet das Häkelzeug. Und dann befördert es auf den Misthaufen, wo es hingehört. Und danach schickt Luana zu mir. Nein, wartet, gebt mir einen Tag Zeit, sonst kann ich nicht garantieren, dass die Elfe das Treffen überlebt.«

    Der Chef drehte sich um und ging zurück in sein Zimmer. Seine Wut machte Nachdenklichkeit Platz. Gedankenverloren klopfte er sich den Staub von der Hose. Was um Himmels willen sollte er nur mit Luana machen?


    Am Tag darauf betrat eine aufgeregte Luana das Chefzimmer. Was er wohl von ihr wollte? Sie räusperte sich, worauf sich der Chef, der vor dem allwissenden Monitor gestanden und beobachtet hatte, was auf der Erde vor sich ging, umdrehte.

    »Ah, da bist du ja«, sagte er. »Du warst ja das ganze Jahr über fleißig und hast Unmengen von Wolle verhäkelt. Deshalb möchte ich dir eine neue Chance geben, um dich zu bewähren.«

    Luana glaubte ihren Ohren nicht trauen zu können. Sie dürfte wirklich wieder eine Aufgabe übernehmen?

    »Pass jetzt genau auf: In einem kleinen Vorort einer großen Stadt soll es in diesem Jahr zum ersten mal einen "Lebendigen Adventskalender" geben. Und ich habe dich ausgesucht, um dafür zu sorgen, dass dieser reibungslos über die Bühne gehen wird. Damit die Menschen in dieser traurigen Zeit etwas haben, worauf sie sich freuen können.«

    Luana staunte, was um alles in der Welt war ein "Lebendiger Adventskalender"? Sie schaute ihren Chef an, traute sich aber nicht ihn danach zu fragen. Sie würde das schon noch erfahren, spätestens wenn sie vor Ort wäre.

    »Das bekomme ich hin Chef«, sagte sie deshalb zuversichtlich. Dieser hatte da so seine Zweifel, aber was sollte er machen, er musste die Elfe beschäftigen und da er in der Vorweihnachtszeit keinen freien Raum mehr hatte, ging es halt nicht anders. Würde schon schiefgehen.


    »Heute ist die letzte Probe vor unserem Auftritt beim "Lebendigen Adventskalender", sagte die Chorleiterin zu den anwesenden Sängerinnen und Sängern. Deshalb lasst uns gleich anfangen und die Lieder, die wir dort singen wollen, proben. Wir fangen mit `«Macht hoch die Türe ...« an. Ein und zwei und ..«

    Auf das Zeichen der Chorleiterin hin erhoben sich die Stimmen in die Lüfte. Sopran, Alt, Tenor und Bass, es war wunderschön anzuhören, wäre da nicht ...«

    »Halt, halt, so geht das nicht! Irgendjemand im Alt singt falsch.«

    »Das ist Hannelore«, sagte Sabine, die neben der Beschuldigten saß.

    »Stimmt doch gar nicht!«, empörte sich daraufhin Hannelore, »ich habe richtig gesungen!«

    »Kannst du doch gar nicht, kannst ja nicht mal Noten lesen.«

    »Aber nach Gehör singen, das ...«

    »Meine Damen, bitte! Lasst es uns noch einmal versuchen. Und eins und zwei und ...«

    Wieder erhoben sich die Stimmen der Sängerinnen und Sänger, aber egal wie oft sie das Lied sangen, aus der Gruppe der Altistinnen kamen schäräge Töne.

    »Nein, nein, so geht das nicht! Hannelore, ich habe das jetzt auch genau gehört, du singst definitiv falsch. Deshalb möchte ich dich bitten zu gehen.«

    Die ältere Frau, die erst seit zwei Wochen im Chor mitsang, erhob sich wortlos. Sie packte ihre Noten in die Tasche, nahm ihren Mantel von dem Sideboard, das an der Wand stand, und ging. Erst als sie die Türe hinter sich geschlossen hatte, kamen ihr die Tränen. Sie hatte nicht falsch gesungen, ganz sicher nicht!


    Endlich war der große Tag da, der erste Auftritt des Chors nach Corona. Aufgeregt saßen die Sängerinnen und Sänger auf ihren Plätzen, sie hatten gerade alle Lieder noch einmal geprobt, es hatte sich hervorragend angehört. Da, es ging los! Der Chor stand geschlossen auf, wartete die Grußworte der gastgebenden Pfarrerin ab und dann legten sie los. Ihre Stimmen erhoben sich hinauf bis unter die Decke der Kirche, wogten hierhin und wogten dorthin und als das Lied zu Ende war, brach donnender Applaus aus. Doch dieser verstummte schnell wieder, denn schon wurde das zweite Lied angestimmt, doch, halt, was war das? Irritiert verstummten die Mitglieder des Chors einer nach dem anderen. Da stimmte doch was nicht! Die Chorleiterin gab erneut das Zeichen, wieder erklang »Fröhliche Weihnacht überall ...« - und wieder sang jemand falsch. Nicht nur ein wenig, sondern richtig schräg. Die Besucher des Konzerts wurden unruhig. Ein erneuter Versuch – das gleiche Ergebnis. Die ersten Gäste erhoben sich und gingen, worauf die Chorleiterin zur Pfarrerin ging und das Konzert für beendet erklärte. Was für ein Reinfall, das würde dem Chor noch lange nachhängen!


    Die Kirche war leer, nichts erinnerte mehr an den "Lebendigen Adventskalender", das Konzert und die Besucher. Doch halt, da bewegte sich doch etwas! Eine kleine Gestalt erhob sich zwischen den Stuhlreihen des Chors, reckte und streckte sich. Luana schaute sich um, dieser Adventskalender gefiel ihr ausnehmend gut. Das Singen hatte ihr unheimlich viel Spaß gemacht, gut, sie sang nicht besonders schön, aber das war doch egal, die Hauptsache war doch, sie war dabei gewesen! Sie hatte sich ganz klein gemacht und sich dann unter einem der Stühle versteckt, sodass sie keiner sehen konnte. Jetzt hatte sie aber Hunger, so ein Auftritt im Chor machte doch mächtig Appetit.


    Der Chef ballte die Fäuste. Er stand vor dem allwissenden Monitor und hatte verfolgt, wie Luana den Auftritt des Chors geschmissen hatte. Diese Elfe – nichts konnte sie richtig machen. Er entschloss sich, sie sofort nach Hause zu holen. Er wollte gerade den Engel Aurelia zu sich rufen, da knallte die Türe mit Schwung auf.

    »Chef, Chef, du musst sofort kommen! Die Wichtel und die Kobolde haben sich mal wieder in der Wolle, sie bewerfen sich mit den Geschenken, die für die Kinder auf der Erde bestimmt sind.«

    »Ich komme!«, rief der große Mann und eilte zu dem Schauplatz des Kampfes. Luana hatte er zu deren Glück darüber völlig vergessen.


    Einige Tage später saß Luana auf dem Dach einer wirklich schön geschmückten Bude auf dem kleinen Weihnachtsmarkt in dem Ort, in dem sie gerade war. Heute war der letzte Termin des "Lebendigen Adventskalenders" und sie fand, sie hatte ihre Aufgabe gut gemeistert. Der Chef wäre bestimmt zufrieden mit ihr. Und hier würde sie auch nicht auffallen, jeder würde denken, sie gehöre zu der Dekoration dazu. Sie beobachtete die Menschen, die unten standen oder vorübergingen. Manche schauten nur, andere kauften etwas. Wem sie die Sachen wohl schenken würden? Oder würden sie diese vielleicht selbst behalten? Nanu, was war das denn? Der Mann da unten sah ja aus wie ein Sohn des Weihnachtsmannes. Wobei – hatte der überhaupt Söhne? Luana dachte nicht weiter darüber nach, sondern beugte sich nach vorne, um den Mann besser sehen zu können. Immer weiter ging sie in die Schräge und es kam wie es kommen musste – sie bekam Übergewicht und landete mit einem »ach du scheiße« auf dem jungen Mann, der unter ihrem Gewicht zusammenbrach und mit einem lauten Ächzen auf dem Boden aufkam. Luana lag auf ihm, wurde knallrot und sprang schnell auf.

    »Tut mir leid, das war keine Absicht!«

    Der Mann setzte sich auf und sortierte seine Gliedmaßen. Vorsichtig bewegte er Arme und Beine, atmete tief ein und aus, er schien sich nichts gebrochen zu haben. Blaue Flecken würde er aber bestimmt bekommen, der Aufprall war nicht gerade sanft gewesen. Mit erbostem Blick stand er auf und fing an Luana zu beschimpfen:

    »Hast du noch alle Tassen im Schrank? Kannst du nicht aufpassen? Was hast du da oben überhaupt zu suchen gehabt?«

    »Ich … äh …,«, stammelte Luana. »Ich wollte nur mal schauen, du siehst nämlich aus wie der Weihnachtsmann.«

    Der junge Mann nahm dieses leider nicht als Kompliment, sondern wurde noch wütender.

    »Bist du noch ganz sauber? Ich habe weder weiße Haare noch einen Rauschebart und schon gar nicht einen so dicken Bauch wie der Weihnachtsmann! Ich gehe schließlich jeden Tag ins Fitnessstudio! Und überhaupt, was soll eigentlich diese alberne Verkleidung? «

    Er baute sich vor Luana auf, worauf diese es jetzt doch mit der Angst bekam. Sie versuchte rückwärts zu gehen, aber da standen viele Zuschauer, die sich dieses Schauspiel nicht entgehen lassen wollten. Es gab kein Entkommen für Luana, was auch ihr Gegenüber erkannt hatte, denn er begann zu grinsen. Und bevor die Elfe reagieren konnte, hatte er sie auch schon an einem ihrer Flügel gepackt und zog daran.

    »Aua! Spinnst du, das tut doch weh!«, schrie Luana. Sie drehte sich aufgrund des Schmerzes zur Seite, worauf einige ihrer Federn in der Hand des Mannes zurückblieben. Sprachlos schaute er darauf, dann auf Luana, dann wieder auf die Federn.

    »Heiliges Kanonenrohr, das gibt es doch nicht, die ist echt! Ein Engel! Lasst sie auf keinen Fall entkommen!«

    »Nein, ich bin kein Engel«, rief Luana, aber das interessierte niemand. Die Menschen witterten eine Sensation und griffen mit tausend Händen nach ihr. Zumindest kam es der Elfe so vor, weshalb sie sich panisch umschaute und dann in die einzige Richtung, die ihr Sicherheit versprach, floh: Sie schlug kräftig mit ihren Flügeln – dass sie dabei einige der Menschen regelrecht umnietete, war ihr in diesem Moment ziemlich egal – und hob ab. In einem weiten Bogen umrundete sie die Buden und beschloss nach Hause zu fliegen. Sie hatte erst mal genug von der Erde und da der "Lebendige Adventskalender" morgen eh vorbei war, wäre der Chef bestimmt damit einverstanden.


    Was er aber zu Luanas Leidwesen leider nicht wahr. Im Gegenteil, er war stinksauer.

    »Was hast du dir nur dabei gedacht? Zuerst vermasselst du dem Chor seinen Auftritt, davor machst du eines der Mitglieder totunglücklich, verletzt zahlreiche Besucher des Weihnachtsmarkts bei deinem Abgang und zu guter Letzt sorgst du für Schlagzeilen auf der ganzen Welt. Hier, die Stuttgarter Zeitung schreibt »Engel auf Weihnachtsmarkt gesehen!« oder der Focus: »Engel – es scheint sie wirklich zu geben«, am besten allerdings ist der Artikel in der BILD, der dazu aufruft, auf Engelsuche zu gehen. Und jetzt spielen die Menschen total verrückt, nichts von wegen Ruhe und Besinnlichkeit. Anstatt mit ihren Familien unter dem Weihnachtsbaum zu sitzen und Lieder zu singen, laufen sie durch die Wälder, durchsuchen Häuser und Gärten, und was weiß ich noch alles! Und wer darf das alles wieder in Ordnung bringen – ich!«

    Luana wurde mit jedem Wort blasser, so dass sie bald die Farbe von frisch gefallenem Schnee hatte.

    »Ich hatte es ja fast schon befürchtet, du wirst dich halt nie ändern. Du wirst dich sofort in das hinter der Wichtelwerkstatt neu errichtete Haus zurückziehen und wieder anfangen zu häkeln.«

    »Aber Chef, was ist mit der Weihnachtsfeier? Ich möchte so gerne dorthin gehen.«

    »Fordere dein Glück nicht heraus Luana! Du kannst auch in den Stollen zum Häkeln gehen, da ist viel Platz.«

    Luana wagte keine Widerworte mehr, drehte sich um und schlurfte mit gesenktem Kopf aus dem Raum. Das hatte sie wieder gut hinbekommen. Ob sie einmal in ihrem Leben etwas richtig machen könnte? Der Engel, der am allwissenden Monitor stand, sah ihr hinterher.

    »Ist diese Strafe nicht ein wenig zu hart, Chef? Sie kann doch nichts dafür, Luana ist wie sie ist und das wusstest du als du sie auf die Erde geschickt hast. So ganz unschuldig bist du also nicht an der ganzen Misere.«

    Nachdenklich schaute der Chef Aurelia an. Irgendwie hatte sie ja schon recht, er war einfach zu gutherzig, deshalb gab er Luana immer wieder eine Chance. Obwohl er es wirklich besser wissen sollte.

    »Na gut«, seufzte er, »sie darf zur Weihnachtsfeier kommen. Aber erst am Abend, jetzt häkelt sie erst mal einige Stunden, sonst nimmt sie mich nachher nicht mehr ernst.«

    »Das wird bestimmt nie geschehen, Chef«, schmunzelte Aurelia.

    »Sag mal, lachst du über mich?«

    »Das würde ich doch nie wagen. Komm, lass uns gehen, wir müssen uns noch umziehen.«

    Und so verließen der Chef und Aurelia den Raum mit dem allwissenden Monitor. Wäre noch jemand davor gestanden, hätte er dort eine Elfe auf einem Stuhl sitzen und häkeln gesehen.

  • Der 23. Dezember von churchill



    Zwillings-Advent


    Mai Einundzwanzig. In des Maien Wonne

    kamt ihr zu uns. Ein wirklicher Advent.

    Draußen und drinnen schien sofort die Sonne -

    Ein heller, warmer, zärtlicher Moment.


    Ihr solltet ein paar Wochen bei uns bleiben.

    Eventuell auch Monate. Mal seh‘n.

    Und heute könnte ich Romane schreiben

    über euch beide. Reden, stehen, geh‘n


    habt ihr bei uns gelernt. Wir durften feiern

    mit euch Geburtstag. Euren ersten. Dann

    der Sommer, Herbst und Stunden an den Weihern,

    wo ich euch jetzt noch hör‘n und sehen kann.


    Es ward Advent. Das Christkind kam. Ihr beiden

    wart immer noch bei uns. Ein Zwillingsfest.

    Wir durften uns an eurem Lachen weiden,

    Wir gaben euch ein Heim. Ihr uns den Rest,


    der da besteht aus Liebe und Vertrauen,

    aus Neugier, Vorsicht, Mut und Sicherheit.

    Ins neue Jahr mit euch nach vorn zu schauen -

    Wann kommt der Aufbruch? Wann die neue Zeit?


    Wann die Familie, die euch Heimat geben

    und eure Wege lang begleiten kann?

    Es kommt der Frühling. Neu erblüht das Leben.

    Ein ganzes Jahr bei uns schon. Irgendwann


    der neue Sommer. Der Geburtstag wieder.

    Ihr klettert, springt und jauchzt. Ihr seid schon 2.

    Lernt freche Worte und singt leise Lieder.

    Alles zu zweit. Und wir - wir sind dabei.


    Gemeinsam saßen wir am Tisch beim Essen,

    wir etwas saubrer, ihr zumeist verschmiert.

    Gemeinsam haben wir die Zeit vergessen,

    gemeinsam waren wir auch infiziert.


    Jetzt sind sie rum, die Monate, die Wochen,

    sie dauerten ein und ein halbes Jahr.

    So oft von diesem Augenblick gesprochen,

    der stets gewollt und doch gefürchtet war.


    Wir geben euch in neue gute Hände.

    und singen euch ein frohes Segenslied

    mit Kloß im Hals. Ein Abschnitt geht zu Ende.

    Es ist Advent. Mal wieder. Und ihr zieht


    auf frischen, neuen, unbekannten Wegen

    hinaus in die noch unerforschte Welt,

    dem Christkind voll Entdeckungslust entgegen.

    So seid stets unter seinen Schutz gestellt!


    Es leuchten hier am Weihnachtsbaum die Kerzen,

    auch bei den neuen Eltern hell und warm.

    Ihr bleibt für immer tief in unseren Herzen.

    Bewahrt die Fröhlichkeit und euren Charme!


    Wenn wir am Heilig Abend dann bescheren,

    so merken wir bestimmt: Es fehlen zwei.

    Doch werden wir uns sicher nicht beschweren.

    Ihr schenktet uns so viel. Ihr bleibt dabei.

  • Der 24. Dezember von Tom (zum hören oder lesen)



    https://www.tomliehr.de/images/alle_jahre_wieder.mp3



    Alle Jahre, wieder.


    Noch bevor Arthur am Morgen dieses ersten Weihnachtstages seine Augen öffnet, weiß er, welcher Anblick ihn erwartet. Es ist seit fast sechzig Jahren der gleiche Anblick, ein Anblick, den er zwar gewissermaßen auch an den anderen dreihundertvierundsechzig Tagen jeden Jahres hat, doch am Weihnachtsmorgen ist es anders. Dann nämlich trägt Linda Dessous, die sie kurz vorher gekauft hat. Früher in den Boutiquen, später beim Teleshopping, inzwischen online. Früher liebte er den Anblick, später wurde er zu einer erträglichen, oft immer noch reizvollen Routine, aber inzwischen macht ihn der Gedanke daran, was er morgens am fünfundzwanzigsten Dezember sehen wird, schon tage- und wochenlang vorher fertig. Natürlich sieht er Linda sowieso jeden Morgen als Erstes, und er freut sich täglich darüber, denn er liebt sie nach wie vor sehr, aber dieses teuflische Ritual und der Anblick ihres vierundachtzig Jahre alten Körpers in einem Hauch von Nichts an diesem besonderen Tag hat sich von einem liebenswürdigen erotischen Tick zu einer kaum noch auszuhaltenden Folter entwickelt. Zumal er ja nicht nur den Anblick aushalten muss; der ist lediglich die Ouvertüre.


    Wenn er die Augen jetzt öffnet, wird er sie küssen müssen. Arthurs Geruchssinn ist zwar nicht mehr ganz so gut wie früher, obwohl seine Nase deutlich gewachsen ist, aber Linda, die jahrzehntelang starke Raucherin war, was ihr bis zum Ende der Sucht nichts Schlimmeres als diese leicht lädierte Olfaktorik eingebracht hat, rümpft nicht einmal mehr auf Flughafentoiletten die Nase. Sie hat, wie jeder andere Mensch auch, morgens Mundgeruch, mit einer süßsäuerlichen, leicht fauligen Note. Eigentlich findet er das liebenswürdig, auf etwas schräge, intime Art, aber am Weihnachtsmorgen erwartet sie zärtliche Küsse mit allem Drum und Dran, also mit Zunge und adoleszentem Im-Mundraum-Herumgeschlecke. Arthur seufzt tonlos, macht die Augen auf, murmelt „Fröhliche Weihnachten, liebe Linda“, zieht sie an sich und absolviert die erste Etappe.


    Begonnen hat es am Weihnachtsmorgen 1966. Sie lebten in Naples im westlichen Florida, in einer kleinen, lauten Wohnung mit Blick auf eine jederzeit verkehrsreiche Einkaufsstraße. An jenem Weihnachtsmorgen liebten sie sich, und noch während sie dabei waren, schaltete sich mit einem lauten Klack der supermoderne Radiowecker ein, woraufhin „White Christmas“ erklang. Genau das gleiche war ihnen genau ein Jahr vorher passiert – sie hatten sich am 25. Dezember 1965 nach dem Aufwachen geliebt und der Radiowecker, den sie immer wieder auszuschalten vergaßen, hatte zur gleichen Zeit dasselbe Lied gespielt. Weiße Weihnachten gab es absolut niemals in Florida, und einen Hauch von Schnee nur zweimal während des folgenden halben Jahrhunderts – beide Male im Januar. Linda hielt inne, lauschte auf Bing Crosby, stützte sich auf die Hände und hob ihren Oberkörper von Arthurs, was ihm einen prachtvollen Blick auf ihre hinreißenden Brüste ermöglichte. Sie verkündete grinsend, dass es ein Zeichen wäre, was gerade geschähe, ein Omen und eine nahezu religiöse Verpflichtung. Arthur hätte in diesem Augenblick allem zugestimmt, denn er befand sich in seiner Lieblingsstellung und in ihr, und deshalb stimmte er ihrem Vorschlag sofort zu, von jetzt an immer am Weihnachtsmorgen Sex zu haben, ganz egal, wo sie sich befänden und unter welchen Bedingungen, außer, die Rote Armee griffe gerade an, wie es die streng erzogene Linda etwas verschämt nannte, wenn sie menstruierte. Arthur willigte ein; zu jener Zeit hatten sie mindestens zwei-, dreimal die Woche Sex und konnten sich kaum vorstellen, dass sich das je ändern würde. Doch daraus wurden im Laufe der Jahre fünf, sechs Male im Monat, dann ein-, zweimal im Quartal und drei Dekaden später rasch versandende Versuche, aus denen sie das Beste machten, sich also einfach aneinanderkuschelten und die Wärme des anderen genossen. Das war manchmal sogar besser als Sex. Nein, eigentlich immer.


    Inzwischen erleben sie fast alljährlich weiße Weihnachten, denn sie wohnen in einem schönen, geräumigen Haus am Ufer des Lake Winnipesaukee in New Hampshire, 1600 Meilen weiter nördlich, in Sichtweite der White Mountains. Oft fallen schon im frühen November die ersten Flocken, und Arthur kann sich an kein Weihnachtsfest ohne die weiße Pracht erinnern, das es seit ihrem Umzug hierher gegeben hätte. Vor fünfzehn Jahren hat er die Anwaltskanzlei an seinen Nachfolger übergeben. Als er und Linda sich kennen- und liebenlernten, hatte er gerade das Studium beendet und steuerte auf eine solide, höhepunktarme Karriere zu. Sein spektakulärster Fall war die Verteidigung bei einer Körperverletzungsanklage gegen einen Popmusiker, den alle kannten, nur der Jazzfan Arthur nicht, der deshalb vom heftigen Presseaufgebot schon am Tag der ersten Anhörung überrascht wurde, den Prozess aber trotzdem souverän gewann, was ihm eine Zeitlang höhere Nachfrage bescherte, als er bewältigen konnte. Linda arbeitete schon zu dieser Zeit als Assistenz-Chirurgin im Naples Community Hospital, und auch ihre Laufbahn verlief geradlinig. Ihr persönlicher 15-Minuten-Moment war ein späterer NFL-Star mit zerebralem Aneurysma, dem sie in einer riskanten Notoperation das Leben rettete. Der inzwischen ehemalige Footballspieler ruft sie verlässlich an ihrem Geburtstag an, wobei er längst nicht der einzige Ex-Patient ist, der das tut. Linda und Arthur waren zu seiner Hochzeit und zur Taufe seiner ersten Tochter eingeladen. Ihre eigene Ehe blieb kinderlos, woran beide gleichermaßen schuld sind, denn Arthurs Spermien zeigen zu wenig Bewegungsdrang und Lindas Gebärmutter war zu ihren fruchtbaren Zeiten zu ungemütlich für einlagerungswillige Eizellen. Über Alternativen dachten sie nie nach, denn sie waren immer glücklich miteinander. Und sind es immer noch.


    Als das Kussritual beendet ist, erhebt sich Arthur aus dem Bett, nimmt die Brille vom Nachttisch und schlurft ins Bad. Linda haucht ihm „Ich warte auf dich, Liebster“ hinterher, was ihn zum Lächeln bringt, aber nur kurz. Im Badezimmer betrachtet er für ein paar Augenblicke das eigene Bild im Spiegel. Er erfreut sich bester Gesundheit, wenn man die Umstände berücksichtigt, wie Doc Miller letztens gesagt hat, den er und Linda „Quincy“ nennen, und zu dem sie natürlich beide gehen. Arthur fühlt sich definitiv gesund, und er fühlt sich viel, viel jünger als dieses Bild sagt, das er im Spiegel sieht, und das einen alten, blassen, fleckigen, dünnhaarigen, dünnbeinigen, stoppelbärtigen, krumm dastehenden Mann mit über den Bund der Schlafanzughose hängendem Bauch zeigt. Einen Mann, bei dem Arthur nicht verstehen kann, wie man sich Sex mit ihm wünschen könnte, und der Gedanke, dass dies bei Linda nach wie vor der Fall ist, wärmt ihm das Herz schlagartig so sehr, dass ihm tatsächlich heiß wird, aber leider nicht auf sexueller Ebene. Wenn es dich gibt, Weihnachtsmann, denkt Arthur, dann erfüll mir nur diesen einen Wunsch, nimm diese Bürde von mir und lass die Liebe zwischen mir und meiner Frau in Würde bis zu meinem Lebensende andauern. Er seufzt leise und öffnet den Spiegelschrank, nimmt die kleine Blechdose heraus, in der er sein Sildenafil-Präparat aufbewahrt. Er schluckt eine Pille und spült sie mit Wasser aus dem Hahn hinunter. Aus medizinischen Gründen, wie Linda glaubt, bräuchte er das tatsächlich nicht, aber keine seiner schwindenden erotischen Erinnerungen schafft es noch, ihn über die Zeit zu retten, und, da ist sich Arthur sicher, es bräche ihnen beiden das Herz, wenn er mitten im von Linda so innig ritualisierten Weihnachtssex die Segel streichen würde. Also hat ihm Quincy die blauen, rautenförmigen Pillen verschrieben, die allerdings ein bisschen brauchen, bis sie ihre Wirkung entfalten, und auch das schaffen sie nicht von alleine. Seine schönsten erotischen Momente hatte Arthur mit seiner geliebten Frau, der er ausnahmslos treu war, aber die fünfundzwanzigjährige Linda beim Vögeln im vom Ufer des Rock Creek aus sichtbaren Ruderboot wird in Arthurs Gedächtnis vom Anblick der vierundachtzigjährigen, flatterhäutigen, wässrigäugigen Linda im schwarzen Negligé aus dem Victoria’s-Secrets-Shop bei Amazon überdeckt. Die siebzehn Jahre alte Suzanne, mit der er seinen ersten Sex hatte, zwar nicht besonders schönen, aber sehr aufregenden Sex, die sieht in seiner Erinnerung allerdings noch genau wie damals aus, denn er hat sie danach niemals wiedergesehen. Aber auch das genügt heute nicht, also nimmt Arthur das iPad zur Hilfe, das er zu diesem Zweck gestern Abend in den Medizinschrank gelegt hat. Es ist ihm längst egal, dass man in Cupertino weiß, welche Pornoseiten er hin und wieder aufruft. Während er nach inspirierenden Videos sucht, bemerkt er, dass es wieder zu schneien begonnen hat, und als Arthur darüber nachdenkt, dass er am Nachmittag wenigstens die Einfahrt wird freischaufeln müssen, hört er aus dem Schlafzimmer mehrere eigenartige Geräusche. Erst eine Art Poltern, danach ein Schleifgeräusch und schließlich ein Kieksen, fraglos aus dem Mund von Linda.


    Scheiße, der Weihnachtsmann ist da, denkt Arthur und muss lächeln. Er dreht sich um und öffnet die Tür. Und, Scheiße, der Weihnachtsmann ist wirklich da.


    Das Eigenartige ist: Dieser Weihnachtsmann sieht aus wie er selbst, also wie Arthur, nur ein paar Jahrzehnte jünger, und dass es der Weihnachtsmann ist, kann er auch nur an der roten Mütze erkennen, denn von dieser abgesehen ist der Weihnachtsmann nackt; allerdings entdeckt Arthur jetzt das Kostüm hinter ihm am Boden, direkt vor dem Kamin. Der Weihnachtsmann stürzt sich in diesem Augenblick auf die abermals kieksende Linda, die sich ebenfalls wundersam verjüngt zu haben scheint, und die noch eigenartigerweise nicht bemerkt, dass der gealterte Zwilling ihres Sexpartners in der Badezimmertür steht und genau in diesem Moment einen Ständer bekommt. Und zwar was für einen, heiliger Santa Claus. Kurzerhand wirft sich der alte Arthur auf sein jüngeres Ich, zerrt es vom Bett, was verblüffend leicht gelingt, und nimmt bei der hochgradig erregten Linda dessen Stellung ein, die von der Aktion nichts mitzubekommen scheint. Und dann haben Arthur und seine Frau den besten Sex in diesem Jahrtausend, mindestens.


    Als sie zwanzig Minuten später verschwitzt, verausgabt und selig keuchend nebeneinander liegen, verändert sich wieder alles. Linda und er sind alt und das Negligé ist für eine ganz andere Frau gemacht, aber Arthur findet es plötzlich nicht mehr lächerlich, sondern wunderschön, und er spricht stumm ein paar Dankesworte an den Weihnachtsmann, dessen Spuren sich in Luft aufgelöst haben.


    „Das war sensationell“, sagt Linda ein paar Sekunden später, küsst ihren Mann und ergänzt: „Fröhliche Weihnachten.“ Arthur nickt und ist auf friedliche Art unheimlich glücklich. „Aber“, fährt sie fort, richtet sich mit etwas Mühe auf und stützt sich auf einen Unterarm. „Aber ich glaube nicht, dass ich das noch einmal durchhalte. Was hältst du davon, Liebster, wenn wir unser Ritual für beendet erklären? Schöner oder auch nur halb so schön kann es nicht mehr werden.“ Arthur nickt abermals und lächelt, dann dreht er den Kopf zur Seite, küsst sie und zwinkert dabei in jene Richtung, in der der Nordpol liegen müsste.