Björn Kuhligk: An einem Morgen im März (Langgedicht)

  • Die richtigen Worte weggelassen


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    Als wir alle seit ein paar Wochen im ersten Corona-Lockdown steckten und unsere freie Zeit auf begrenztem Raum zu ventilieren versuchten, machte in Literaturkreisen die Prognose die Runde, dass wir nach Corona mit Coronaliteratur überschwemmt werden würden, weil genau in diesem Moment tausende und abertausende Autoren und -innen eingesperrt in ihren Wohnungen säßen und über nichts anderes nachdenken würden als eben über Corona. Als sich die Lage beruhigt hatte und alle Podcasts produziert waren und die neue Normalität zum Alltag geworden war, starrten wir die Verlagsvorschauen an und sahen verblüffend wenig. Man schien viel froher darüber, dass es vorüber war, als darüber, nun Pandemie-Fachperson zu sein, und zwar aus erster Hand, so unmittelbar und authentisch wie nur denkbar, quasi ganz ohne lästige Recherche, weshalb der große deutsche Corona-Roman eigentlich unumgänglich schien, aber, nein. Pustekuchen. Ja, einige Anthologien und auch ein paar halbherzige Erzählungen widmeten sich quasi prä-posthum der Thematik, aber das Gros stellte Camus zurück ins Regal und schien diesen Abschnitt der unmittelbaren Vergangenheit eher schnellstmöglich ignorieren zu wollen.


    Nicht so Björn Kuhligk, auf den ich vor gut zwei Jahren nicht nur zufällig aufmerksam wurde, sondern auch in besonderer Weise abseits meiner normalen Interessenlage, nämlich über ein Gedicht, auf das jemand, den ich schätze, energisch in seiner Facebook-Chronik hinwies. Ich las die ersten Zeilen von „Das Gedicht geht durch einen Körper und grüßt nicht mal“ und konnte nicht mehr aufhören. So etwas passiert mir mit Lyrik, die ich gerne mit Ü schreibe, praktisch nie. Lyrik ist für mich wie Rosinen oder Rosenkohl oder Game of Thrones oder Gewichtheben oder Line Dance. Ich weiß, dass es das gibt, aber mein Leben hielt ich für besser ohne. Nunwohl, ich hatte mich geirrt.


    Das Problem an der Coronathematik ist, dass nicht nur ein paar Leute plötzlich alles darüber wussten, sondern quasi alle, weil alle dabei waren. Wir warfen einander Fachbegriffe wie „Inzidenz“ und „Respirator“ entgegen und fühlten uns für das Gesundheitsministeramt qualifiziert. Wir überstanden es, wurden Maskenfachleute, änderten unser Verhalten und wetterten mit den gleichen Argumenten gegen die „Querdenker“, bis sie noch überflüssiger wurden als ohnehin schon. Am vorläufigen Ende hatte sich die Geschichte selbst auserzählt, in aller Tragik, Komik und Schicksalhaftigkeit. Was sollte man also noch erzählen? Gar fiktionalisieren?


    Überhaupt nichts, im Gegenteil. Im liebenswürdigen und klugen Bericht „Überall Nachbarn“ (bebra Verlag, 2022) hat Björn Kuhligk die Gelegenheit zum Narrativ gemacht und auf dem Fahrrad Berlin umrundet, während die erste, vorübergehende Lockerung wieder kleine Freiheiten erlaubte. Corona war nicht das Thema, sondern die Perspektive.


    Hier, in diesem unglaublichen Langgedicht, ist es Taktgeber. Und es lässt jetzt, schon unfassbare drei Jahre nach dem ersten Lockdown, wiedererleben, erinnern, nachfühlen, korrigieren. Ich habe einen solchen Text noch nie gelesen, einen so aufmerksamen, verdichteten, durchaus auch verengten, präzisen und wirklich cleveren Inworteguss eines Gemeinschaftserlebnisses, das für jeden anders war, und das sich in unseren Leben ausbreitete wie nur wenig zuvor, das zugleich mit solcher Dramatik ausgestattet war. Kuhligk beginnt an diesem Morgen im März, als die Rückspiegel plötzlich leer blieben, und leitet das Ende siebzig Seiten später mit dem Zitat „Niemand will, wenn diese Zeit vorbei ist, davon lesen“ ein, was ich auch unterschrieben hätte. Bis zu dem Moment, als ich dieses Buch in den Händen hielt, dieses Langgedicht. Das erste Langgedicht, das ich freiwillig gelesen habe, und vermutlich auch das letzte, aber in jedem Fall das beste. Was sogar vor meinem lyrischen Hintergrund etwas heißen soll. Wobei sich „An einem Morgen im März“ eigentlich wie Prosa liest, bei der einfach ein Haufen Worte weggelassen wurden.


    Die richtigen.

    ASIN/ISBN: 3446276386