Andrea Fischer Schulthess: Nur noch fünf Tage, Bielefeld 2025, Pendragon, ISBN 978-3-86532-912-7, Klappenbroschur, 266 Seiten, Format: 20,5 x 13 x 1,6 cm, Buch: EUR 22,00, Kindle: EUR 19,99.
„Aber über […] ihre Entdeckungen, ihre Geschichte und auch ihre Einsamkeit wird sie ehrlich sein und sich ihm offenbaren. Hätte Joséphine das bei ihr getan, wäre alles anders gekommen. Das Schweigen in dieser Familie muss ein Ende finden, soll mitsamt den Wurzeln ausgerissen werden.“ (Seite 231)
Da ich mir das Buch nicht aktiv beschafft hatte – es ist mir gewissermaßen zugelaufen – hatte ich auch keine konkreten Erwartungen an den Inhalt. Dass es kein „Psychokrimi“ ist, wie der Klappentext verheißt, habe ich aber schnell gemerkt. Am Anfang eines Krimis steht ein Verbrechen, dessen Aufklärung wir Leser dann verfolgen. In dieser Geschichte wird zwar am laufenden Meter gegen Gesetze verstoßen, aber nichts davon dringt an die Öffentlichkeit. Was immer auch passiert: Die Familie hält alles schön brav unter dem Deckel. Das ist ein Familiendrama. (Ich stell das jetzt trotzdem unter "Krimi" rein, weil das Buch eben so verkauft wird.)
Amanda plant den Freitod …
Fribourg/Schweiz 2019: Amanda Meijer, 49, Teilzeit-Buchhändlerin mit abgebrochenem Germanistikstudium, leidet schon ihr Leben lang unter Depressionen, genau wie Mutter Joséphine und Großmutter Hermine vor ihr. Mama und Oma haben ihr Leben nur mit Hilfe von Alkohol und Pillen ertragen und sich jeweils im Alter von rund 50 Jahren das Leben genommen – ohne Abschiedsbrief, ohne Erklärung. Auch Amanda ist von Drogen abhängig und plant ihren baldigen Suizid.
Ihr Mann ist ständig unterwegs, angeblich geschäftlich, Sohn Benjamin ist erwachsen. Zu ihrem launischen Großvater Alois Favre hat sie kaum Kontakt, ihren Vater hat sie nie gekannt. Ihr Tod dürfte also für niemanden eine unzumutbare Härte darstellen.
Jetzt muss sie nur noch die letzten 5 Tage durchstehen und sich so unauffällig verhalten, dass niemand ihr Vorhaben durchschaut und vereitelt.
Die einzigen Personen, die in ihre Pläne eingeweiht sind, sind die Mitglieder eines anonymen Freitod-Forums im Internet. Von ihnen fühlt sie sich erstmals verstanden.
… doch das Leben kommt dazwischen
Wie so oft im Leben läuft’s auch hier nicht wie geplant:
Amandas 18jähriger Sohn wird ungeplant Vater. Seine Freundin Hannah zieht bei ihnen beiden ein, um Ruhe vor ihren frömmelnden Eltern zu haben, die sie trotz aller „Christlichkeit“ zu einer Abtreibung zwingen wollen.
Dann ereilt Amanda auch noch die Nachricht, dass ihr Großvater, hoch in den Achtzigern, nicht mehr allein in seiner Wohnung in Zürich leben kann. Notgedrungen nimmt sie ihn bei sich auf, bis eine passende Pflegeeinrichtung gefunden ist.
Als Kind hat Amanda ihren Opa geliebt. In ihren Augen wusste und konnte er einfach alles. Er hat ja auch zwei Doktortitel und war immer ein begnadeter Tüftler und Bastler. Dass er auch brutal und gemein sein kann, hat sie erst sehr spät mitbekommen. Ihre Mutter und ihre Großmutter wussten das schon längst, es ist ihnen aber nie gelungen, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
Opas düsteres Geheimnis
Von der liebevollen Herzlichkeit des Opas aus ihren Kindertagen ist nichts mehr übrig. Alois Favre ist zu einem ungerechten, verletzenden und gehässigen Stinkstiefel mutiert, der nur noch ein einziges Vergnügen kennt: seine Mitmenschen zu quälen. Vor allem Amanda provoziert er mit Andeutungen darüber, dass er ein großes Geheimnis habe, sie aber zu dumm sei, dieses jemals zu enthüllen.
Das könnte ihr egal sein, weil sie sowieso in wenigen Tagen aus dem Leben scheiden will. Aber sie hat einen ungeheuerlichen Verdacht. Und wenn dieser sich bestätigt, darf Alois seine Geschichte nicht einfach so mit ins Grab nehmen. Das muss ausgesprochen werden, auch wenn man ihn nicht mehr dafür zur Verantwortung ziehen kann.
Amanda forscht nach und ihre Suizidpläne liegen erst einmal auf Eis. Sie ist mit dem Leben noch nicht fertig. Erst muss sie die Vergangenheit ihres Großvaters ans Licht bringen. Wenn nur Mutter und Großmutter beizeiten mit ihr geredet hätten! Dann hätte sie es jetzt leichter. Doch diese beiden kann sie leider nicht mehr befragen.
Der Nachbar weiß mehr als er sagt
Was aber weiß Edouard, der creepy Nachbar, der schon als Kind bei der Familie Favre ein- und ausgegangen ist und ständig bei Opa in der Kellerwerkstatt herumhing? - Weitaus mehr, als Amanda Meijer ahnt! Doch auch er behält sein Wissen lieber für sich.
Wird es ihr gelingen, die Mauern des Schweigens zu durchbrechen, hinter denen die Frauen ihrer Familie über Generationen hinweg die Hölle erlebt haben?
Wenn sie endlich wüsste, woher all die Probleme rühren, hätte sie etwas, womit sie in einer Therapie arbeiten könnte und dürfte ihre Suizidpläne ad acta legen. Oder haben alle schon so lange geschwiegen, dass die Wahrheit jetzt gar keinen Unterschied mehr macht?
Diese Familiengeschichte ist starker Tobak: Depressionen, Suizid und immer mehr abscheuliche Verbrechen, je weiter Amanda nachforscht. Und das alles unter dem Deckmäntelchen der bildungsbürgerlichen Wohlanständigkeit.
Wir müssen miteinander reden!
Manche Entwicklungen sieht man als Leser:in kommen, andere erwischen einen völlig kalt. Und nicht immer habe ich das Verhalten der Personen mit ihrem mutmaßlichen Hintergrund in Einklang bringen können:
Was, dieser proletenhafte Angeber hat promoviert? Und der Typ, der daherkommt wie ein tumber Gehilfe ist ein pensionierter Lehrer? Im Ernst? - Das hat mich etwas irritiert.
Wichtig fand ich die Botschaft, dass wir ehrlich miteinander reden müssen, wenn wir gut und friedlich miteinander leben wollen. In einem Interview mit ihrem Verlag sagt dazu die Autorin:
„Mich beschäftigt Kommunikation in Familien seit langem. Und was passiert, wenn sie eben nicht stattfindet. Ich glaube, dass Lügen, Schweigen und fehlende Kommunikation eine Familie über Generationen vergiften können.“ (Verlags-Interview)
Wenn ich gewusst hätte, worauf ich mich bei dem Buch einlasse, hätte ich es vermutlich nicht gelesen. Die Sprache hat mich hineingezogen:
„Ich versuche, nicht aktiv über Formulierungen nachzudenken, sondern eher tief in eine Situation einzutauchen und sie wie eine Zuschauerin zu beobachten, mitzufühlen und dann zu beschreiben, wie es aussieht, klingt, riecht, sich anfühlt.“ (Verlags-Interview)
Packend, düster und verstörend
Drangeblieben bin ich, weil ich meine Vermutungen bezüglich Amandas Familiengeschichte bestätigt sehen wollte, was nur teilweise geklappt hat. Und weil ich gehofft habe, dass sie doch noch die Kurve kriegt und einen Grund zum Weiterleben findet. Amandas Spurensuche ist packend, aber düster und verstörend ist sie auch.
Die Autorin
Andrea Fischer Schulthess wurde 1969 in Zürich geboren. Nach dem Zoologie-Studium an der Universität Zürich hat sie die Ringier Journalistenschule absolviert und für diverse Medien geschrieben. 2019 übernahm sie künstlerische Leitung des Millers Theaters in Zürich, wo sie auch regelmäßig selbst auf der Bühne steht. Ihr erster Roman »Motel Terminal« erschien 2016. Sie lebt mit ihrer Familie in Zürich.
![]() |
ASIN/ISBN: 3865329128 |
