Der 1. Dezember von Tom
Weihnachten auf Chinesisch
Mendy müsste eigentlich längst Ursu an der Kasse ablösen, aber wenn noch einmal beim Glücksrad die goldene Winkekatze kommt, kriegt sie zehn Prozent Rabatt extra auf die Projektionslampe mit rotierendem Weihnachtsmotiv, die sich wunderbar auf Leons Nachttisch machen würde. Okay, die Lampe kostet sowieso nur sieben neunundfünfzig, was ein unfassbarer Preis ist, aber mit weiteren zehn Prozent Rabatt wären es weniger als sieben Euro, und dann würde sie vielleicht gleich zwei davon kaufen und dabei fast einsfünfzig sparen.
Auf den Fotos sieht die Lampe voll schick aus.
Während das Glücksrad noch rattert, ertönt zum dritten Mal die Ansage, und dieses Mal ist die leise Wut von Jutta Kritschek, der Marktleiterin, nicht zu überhören. „Frau Meier bitte an Kasse drei.“
Fast gleichzeitig erklingt eine Melodie, die Winkekatze erscheint und winkt fröhlich los, außerdem fliegen sternförmige Konfetti über den Smartphone-Bildschirm. Mendy hat nicht nur die zehn weiteren Rabattpunkte gewonnen, sondern eine einmalige Chance auf den völlig echt wirkenden, siebzig Zentimeter hohen, künstlich beschneiten, beleuchteten und vollständig geschmückten Weihnachtsbaum aus Kunststoff für nur vierzehn neunundvierzig, der regulär fast dreißig Euro kostet und super auf der Kommode im Flur aussehen würde, und außerdem dürfte sie jetzt noch dreimal am Glücksrad drehen. Dreimal! Dabei könnte sie vielleicht sogar ... aber plötzlich steht die Kritschek neben ihr. Vor Schreck fällt ihr das Handy beinahe ins Waschbecken.
Weil sie etwas Arbeitszeit ranhängen musste – die Marktleiterin war echt kurz davor, Mendy rauszuwerfen, und das drei Wochen vor Weihnachten –, hat Mendy den Bus verpasst und muss laufen, weil der nächste Bus erst in dreißig Minuten kommt und Harry in einer Dreiviertelstunde zu Hause ist, und wenn dann noch nicht der Abendbrottisch für ihn gedeckt ist, dreht Harry am Rad, aber an einem ohne Winkekatze. Mendy muss bei dem Gedanken lächeln. Zum Glück sind es nur knapp zwanzig Minuten zu Fuß, aber es schneit, und zwar diese dicken, nassen, schweren Flocken, und Mendy hat weder eine Kapuze an der Jacke, noch eine Mütze dabei, und einen Schirm sowieso nicht, den könnte sie kaum halten mit den vier Einkaufstüten in den Händen. Ihre Haare werden nachher aussehen als wenn sie versuchte hätte, sich einen Afro zu machen. Und der Shopping-Abend bei Ela geht schon in einer Stunde los, da wird sie es kaum noch schaffen, sich die Haare zu machen.
Flo und Leon sind nicht zu Hause, also sind sie unten bei Juli und Ben oder oben bei Finn, denn ihre Telefone liegen in der Ladestation auf der Kommode, und das Haus würden sie ohne die Handys niemals verlassen. Mendy räumt rasch die Tüten aus und die frischen Sachen in den Kühlschrank, schneidet Brot, Wurst und ein bisschen Gemüse für Harry auf, stellt die Bierflasche neben das Glas und legt den Öffner quer vor den Teller, dann will sie ins Bad, um zu schauen, was bei den Haaren zu retten ist, da klingelt es an der Tür. Sie wirft einen gehetzten Blick auf ihr Handy, obwohl sie die Zeit vor wenigen Augenblicken abgelesen hat, denn sie ist natürlich ununterbrochen online, auf TikTok, in der WhatsApp-Gruppe von Ela, aber parallel auch in der Tschiangdao-App, wo eigentlich gleich die heutigen, streng limitierten Superspar-Überraschungs-Weihnachtsangebote kommen müssten, aber das könnte natürlich der Paketbote sein, und den darf sie auf keinen Fall verpassen.
Er ist es. Sie versteht den kräftigen, schwitzenden, glatzköpfigen Mann mit den riesigen Ohren nicht und er sie ebenso wenig, denn er ist irgendwie Russe oder so und kann kein Deutsch und nur ein paar Brocken Englisch. Er ist gerade dabei, den Stapel aus purpurfarbenen Paketen mit dem Tschiangdao-Logo (einer weißen Maske) wieder anzuheben, als Mendy die Tür öffnet, also lässt er die Kartons einfach fallen, holt das Unterschriftsding aus seiner Brusttasche und hält es Mendy wortlos entgegen. Noch während sie unterschreibt, zieht er das Gerät weg und poltert die Treppe runter, und der Einfachheit halber geht Mendy ins Treppenhaus und schiebt den Paketestapel mit den Füßen in die Wohnung. Sie hat ein bisschen den Überblick verloren, aber da könnten die Lichterketten drin sein, das Einweg-Weihnachtsgeschirr, die drei megacoolen Bastelsets (Ela wird Augen machen – die hat nämlich keines mehr abbekommen, obwohl sie Platinstatus bei Tschiangdao hat!), die Bettwäsche, die Weihnachts-Schlafanzüge und die vier oder fünf nachgemachten Legosets für die Jungs, die es zwar hassen, wenn die dämlichen Klemmbausteine nicht original sind, aber erstens ersticken sie sowieso in dem Zeug und wollen trotzdem immer mehr davon, und zweitens kostet das bei Tschiangdao nur ein Fünftel von dem, was es bei Lego kosten würde, aber wenn es aufgebaut ist, sieht man null Unterschiede, das sagt sogar Flo.
Sie bugsiert die Kartons zu den anderen, die noch nicht ausgepackt sind, in die Speisekammer, damit ihr Mann sie nicht sieht, weil der ihr sonst den Kopf abreißt. Er versteht das echt nicht, aber alleine mit den Sachen in diesen fünf Paketen hat sie ihnen über zweihundert Euro gespart. Sie ist mit sich zufrieden, als sie die Speisekammertür zugedrückt hat – eine Tür, die Harry definitiv niemals öffnet.
Auf dem Weg zum Bad wirft Mendy einen Blick aus dem Flurfenster in den Hof. Die beiden großen, blauen Tonnen quillen natürlich schon wieder über, aber Abholung ist erst in vier Tagen, und in diesem Augenblick kommt Ela in den Hof. Sie trägt einen Haufen in Stücke gerissener, purpurfarbener Kartons, das ist gut zu erkennen. Ela bleibt vor den Tonnen stehen, aus denen die gleichfarbigen Pappteile herausragen, als wenn es schnellwachsende Pflanzen wären und die Tonnen Pflanzgefäße. Ela schaut sich kurz um, lässt dann den Stapel einfach neben die Tonnen fallen und hastet zurück zur Hoftür. Mendy muss lächeln. Das hatte sie auch schon mal im Sinn, aber die Adressaufkleber von Tschiangdao kriegt man kaum abgepopelt, also steht auf irgendeinem der Pappreste mit Sicherheit Elas Name, und wenn Ergün, der Hausmeister, das sieht, geht das sofort weiter an die Hausverwaltung. Vermutlich ist Ela inzwischen auch dieser Gedanke gekommen, denn sie stiefelt wieder in den Hof, sammelt die jetzt nassen Kartonabfälle ein und stapft damit zurück zum Haus, wahrscheinlich in Richtung Keller. Mendy winkt sicherheitshalber, aber Ela schaut nicht hoch.
Wie spät es wohl ist? Wo hat sie nur ihr Telefon? Aber sie hat ja eine Armbanduhr, eine kleine goldene, die auch fast echt aussieht, wenn man nicht zu nahe rangeht. Harry hat die Nase gerümpft, als er die gesehen hat, weil das keine gute Qualität wäre, eher im Gegentum, wie er so sagt, und vermutlich würde sie auch nicht genau laufen, womit er recht hat, doch Mendy hat sie ja nicht wirklich fürs Uhrzeitablesen gekauft, aber Harry war wohl auch sauer, weil er ihr eigentlich eine schicke Uhr aus dem Laden schenken wollte, in dem er arbeitet. Er nörgelt in letzter Zeit viel über sowas, der Spielverderber, außerdem spart Mendy für sie alle eine irre Menge Geld – Geld, das sie brauchen können, wenn sie im neuen Jahr den Vertrag für das Haus unterschreiben wollen, und da macht es auch nichts, wenn es zwei Wochen dauert, bis die Pakete ankommen, jedenfalls die, die es durch den Zoll schaffen. Wobei. Bis wann kann sie eigentlich noch bestellen, damit die Sachen rechtzeitig noch vor Weihnachten da sind? Dieser russische Paketbote kommt immerhin bis zehn Uhr abends, aber irgendwann wird das nicht mehr zu schaffen sein, oder? Das muss sie Ela gleich mal fragen.
Sie entscheidet sich für einen Zopf und das Glitzerhaarband, obwohl das ein bisschen komisch riecht, genau wie das Lipgloss, das außerdem ganz schön klebrig ist und ihre Haut austrocknet, aber ihre Lippen sehen damit viel voller aus und glänzen echt lange. Mendy will gerade zur Tür rausstürmen, sendet die WhatsApp-Statusnachricht an die Jungs und checkt einen Wimpernschlag später, ob die Superspar-Überraschungs-Weihnachtsangebote schon in der Tschiangdao-App sind, und dabei prallt sie mit Harry zusammen, der draußen steht und seine Wohnungsschlüssel anschaut, als wüsste er nicht genau, wozu man die benutzt. Er schaut auf, dann wieder auf die Schlüssel und auf die große Tüte in seiner Hand, eine Tüte mit dem Logo des Kaufhauses, in dem er arbeitet, wo er sogar Abteilungsleiter ist. Mendy will ihn küssen und ihm erklären, dass sie zu Ela zum Shopping-Abend geht, vielleicht das letzte Mal vor Weihnachten, eine echte Supergelegenheit, aber dann sieht sie, dass er zu weinen beginnt.
„Wir schließen“, sagt Harry und atmet zitternd aus. „Gleich nach Weihnachten.“