Schreibwettbewerb Februar 2006 - Thema: "Lesen"

  • Thema Februar 2006:


    "Lesen"


    Vom 01. bis 20. Februar 2006 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb Februar 2006 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de oder über das Kontakt-Formular (s.o. im Forum) zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.


    Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!


    Nur für registrierte Mitglieder mit mindestens 50 Beiträgen!


    TIPP: Schreibt Eure Beiträge in Word und nutzt die Rechtschreibhilfe. Im Programm Word findet Ihr unter „Extras“ die Möglichkeit „Wörter zählen“.


    Wir wünschen Euch viel Spaß und viel Erfolg!

  • von Seestern



    „Und dann soll mir bitte noch jemand erzählen, zu jedem Topf passe ein Deckel…
    Schwachsinn! Absoluter Bockmist!
    Und falls doch ein Funke Wahrheit in dieser Binsenweisheit stecken sollte, bin ich eben eine Pfanne. Und zwar ohne Deckel. Und teflonbeschichtet bin ich auch nicht!“


    15 Wochen, nachdem ich zum dritten Mal innerhalb eines Jahres verlassen worden war, saßen wir in unserer Stammkneipe, wo ich mir beim Wirt das inzwischen achte Bier bestellte.


    „Sei mir nicht böse, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass Du ihn geliebt hast“, setzte sie meinem Gekeife entgegen.
    „Was soll das denn bitte heißen?“
    Kaum ausgesprochen, wurde ich mir der Aggressivität meines Tonfalls bewusst, aber sie blieb, wie immer, gelassen.


    „Ich glaube, Du verwechselst Liebe mit Verliebtheit. Du hast ihn vorher kaum gekannt, eigentlich war er Dir völlig fremd.
    Anfangs wart Ihr verrückt nacheinander.
    Das ist nicht verwunderlich, denn es ist immer ein berauschendes Erlebnis, die Grenze zu überschreiten, sich mit einem Menschen, mit dem einen bisher nichts verbunden hat, eins zu fühlen“,
    referierte sie.
    „Doch irgendwann verliert sich der geheimnisvolle Charakter einer Beziehung.
    Man gewöhnt sich aneinander, das Verhalten des anderen wird vorhersehbar, bis schließlich beide beginnen, sich zu langweilen und…“


    „Stopp!“ Ich schnitt ihr das Wort ab, „was soll dieses ganze pseudopsychologische Gequatsche? Ich hab nicht den blassesten Schimmer, was Du mir eigentlich sagen willst!“


    Ich stand kurz davor, zu explodieren.
    Ansonsten schätzte ich ihre Ansichten, ihr Bemühen, das Wesen der Dinge zu erfassen.
    Doch in diesem Augenblick reizte mich ihre bloße Anwesenheit.
    Ich war betrunken und streitsüchtig.
    Umso mehr ärgerte mich, dass sie in gewisser Weise Recht hatte.


    „Diese ganze Scheiße, die Du hier grade ablässt, hat Dir doch sicher wieder einer Deiner tollen Freunde ins Hirn gepflanzt, oder?“


    Ein zusätzlicher Punkt, der mich rasend machte.
    Wir trafen uns mindestens einmal die Woche.
    Kein Thema, über das sie nicht Bescheid gewusst hätte.
    Kein Problem, zu dem sie nicht eine ganz eigene, für mich zumeist nicht nachvollziehbare Meinung gehabt hätte.
    Und auf die Frage hin, wie sie zu ihren ungewöhnlichen Ansichten komme, stets die bescheidene Erklärung, sie habe gute Freunde, die ihr behilflich seien, Antworten auf die zahlreichen Fragen der menschlichen Existenz zu finden.


    In nüchternem Zustand fehlte mir der Mut, mich zu erkundigen, wo sie ihre klugen Freunde kennen gelernt hatte, denn ich selbst begegnete meist nur gewöhnlichen Menschen.
    Diese Frage zu stellen wäre einem Eingeständnis meiner eigenen Gewöhnlichkeit gleichgekommen.
    Gewöhnliche Gedanken, gewöhnliche Freunde, gewöhnliches Leben.
    Und dabei erhoffte ich mir nichts so sehr, wie in ihren Augen etwas Besonderes zu sein.


    Doch mit gut zwei Litern Bier im Blut und meinem Hass auf die ganze Welt schaffte ich es an diesem Abend, meinen Stolz zu überwinden und herrschte sie an:
    „Nicht jeder ist von so vielen intellektuellen Menschen umgeben wie Du, die einem in jeder Lebenslage beistehen!
    Und was ich mich seit unserer ersten Begegnung frage:
    Wie zu Teufel gabelst Du diese ach-so-lebenserfahrenen Freunde denn immer auf?“


    „Ich lese“, antwortete sie und ein geheimnisvolles Lächeln umspielte ihre Lippen.

  • von Wiebke



    Ich bin neidisch! Es ist dreißig Grad warm, ich sitze allein im Stadtpark – und ein paar Meter weiter liegt ein Pärchen. Das an sich wäre noch nicht schlimm. Aber wie die zwei da liegen! Sie hat ihren Kopf auf seinen Bauch gebettet und er liest ihr aus einem Buch vor. Muss sich dieser Inbegriff der Vertrautheit direkt vor meinen Single-Augen abspielen?
    Gibt es etwas Schöneres, als von dem Menschen, den man liebt, etwas vorgelesen zu bekommen? Das Gesicht auf der warmen Haut des Liebsten, die Vibrationen spüren, die das Sprechen verursacht, die Augen schließen und lauschen – DAS ist für mich wahre Intimität. Zusammen über eine lustige Stelle lachen oder über eine traurige nachdenken und dann abends, wenn es kühl wird, Hand in Hand nach Hause gehen und dort das Buch ins Regal stellen. An einen besonderen Platz, zu dem man immer mal hinsieht und an den Nachmittag im Stadtpark denkt. Weißt du noch, als diese Frau immer so rübergeguckt hat? Wie traurig, wenn jemand an so einem Tag allein sein muss, Schatz, ich bin so froh, dass wir zusammen sind und du mir vorliest, mit dir möchte ich alt werden! Ich erstatte Anzeige wegen seelischer Grausamkeit! Ich will auch!
    Alles kann man hier mieten oder kaufen, an so einem Sommertag, Tretboote und Ballspiele, Rostbratwurst und Eiscreme, Apfelschorle und Laugenbrezel. Warum ist da noch keiner auf die Idee kommen, einen Vorleserverleih zu eröffnen? Und wer seinen Pfand nicht zurückhaben will, darf den Vorleser behalten und zu Hause neben sein Bücherregal setzen.
    Ach, das ist ja Unsinn. Weil es nicht darum geht, dass einem irgendwer vorliest. Das muss schon jemand ganz besonderes sein. Jemand, bei man es sogar großartig fände, wenn er aus Micky-Mouse-Heften zitiert. Wenn man verliebt ist, ist das so. Da gefallen einem selbst die Dinge, die man bei anderen furchtbar findet.
    Einen gab es mal, der hätte mir das Branchenverzeichnis vorlesen können. Und Tennissocken tragen. Kombiniert mit karierter Bundfaltenhose und senfgelbem Strick-Pullunder. Ich hätte mit ihm ein Pur-Konzert besucht und unsere Urlaube am Ballermann verbracht, wäre in schlechte Kinofilme gegangen und hätte mich gefreut, wenn ich hätte miterleben dürfen, wie ihm Jahr um Jahr die Haare ausgehen und seine Hüften speckig werden.
    „Du stellst dir eine Beziehung romantischer vor, als sie ist“, hat meine Schwester neulich festgestellt. Ja, ich bin eine Romantikerin. Immer gewesen und werde es immer sein. Und manchmal habe ich den Verdacht, dass meine Vorstellungskraft mir im Weg steht, die Wirklichkeit so anzunehmen, wie sie ist. Zu akzeptieren, dass es Tage im Stadtpark gibt – und solche, an denen möchte man vom anderen nichts hören. Ich habe das nicht erleben müssen. Für mich wird er der Mann bleiben, der mir alles hätte vorlesen können.
    Langsam wird es kühl im Park, das Pärchen packt seine Sachen und geht. Und ich werde jetzt zu Hause diese Geschichte aufschreiben. Vielleicht wird sie mal irgendwer einem anderen vorlesen. Und danach schmunzeln, dem anderen einen Kuss geben und sagen: „Quatsch, kein Mensch würde sich freiwillig das Branchenverzeichnis anhören!“

  • von Sternenkind



    Jedes Mal, wenn ich meine Tasche öffne, drohen meine Finger an das kalte, gelbe Plastikleder zu frieren. Wie ich solche Tage hasse!
    Und ausgerechnet heute sind ungewöhnlich viele Briefe mit schwarzem Rand einzuwerfen. Sie wiegen schwer in meiner Hand. Ich überfliege den Absender und meine Gedanken wandern zum Schreiber; die krakeligen Buchstaben lassen mich die zitternde Hand erahnen, die den Stift führte.
    Viele Fragen kommen mir in den Sinn:
    War es für den Verstorbenen Erlösung, dass er die Grenze überschreiten durfte?
    Musste ein junger Mensch gehen, ohne Chance, sein Leben zu leben?
    Oder war es ein alter Mensch, weise, erfahren, müde?
    Wie füllen die Hinterbliebenen die Lücke aus, gerade jetzt so kurz vor Weihnachten?


    Der nächste Griff in meine Tasche fördert eine Postkarte zu Tage.
    Viele Treppenstufen lassen mir Zeit, den Text zu überfliegen und er lenkt mich von meinen düsteren Gedanken ab:
    Liebe Grüße aus Ägypten! Sonne, Strand und Spaß pur – so lässt sich’s leben!
    Während ich mit meinen klammen Fingern die Karte in den Briefkasten stecke,
    träume ich von fernen Stränden, Schnorchelrevieren, Korallenriffen … Vergessen sind die Minusgrade und ich bin mir sicher, den schönsten Beruf der Welt zu haben.


    Es ist das, was ich immer wollte:
    Lesen, lesen, lesen

  • von Geli



    Ich schleiche um den Stapel herum, gehe von Regal zu Regal, ziehe ein Buch heraus, nehme mir doch ein anderes, blättere ein wenig drin herum, atme den Geruch des neuen Druckwerks ein und lege es doch wieder weg.


    Jede Woche aufs Neue fahre ich in die Stadt, bummle durch die Gegend und magisch zieht es mich zur größten Buchhandlung am Platz. Es ist ein besonderer Ort für mich, das Haus der Bücher zeigt mir neue Welten, in die ich mich zurückziehen könnte.


    Ein Buch in die Hand zu nehmen bedeutet mir sehr viel. Wenn mal einer dieser Besuche ausfallen muss, werde ich unruhig und kann die Wartezeit kaum überbrücken. Ich liebe diese Atmosphäre, die vielen Geschichten, die hinter den Büchern stecken, die Bilder, die sie mir vermitteln wollen.


    Ich bin Mitte dreißig, hätte ich gekonnt, wäre heute eine Buchhandlung mein Lebensinhalt, ich wäre Buchhändlerin und hätte jeden Tag das Paradies auf Erden. Meine Eltern haben zu diesem Traum nur den Kopf geschüttelt. Ich war die Älteste von 7 Kindern, mein Vater ist früh in die Rente geschickt worden, ein Arbeitsunfall. Das Geld langte hinten und vorne nicht. Und so war eine Ausbildung einfach nicht drin. Sagten sie.


    Und anstatt Hausaufgaben machen zu können, musste ich helfen, ich war ja die Älteste. Als ich nach der 9. Klasse die Schule verließ, um als Helferin in die Fabrik zu gehen, war dieser Traum ausgeträumt. Ich konnte eher schlecht als recht lesen, schreiben war mir nicht möglich.


    Damals…


    Doch ich habe diesen Traum nie vergessen können und als ich gehört habe, dass es Schulen gibt, für Leute wie mich, habe ich meine kleine Schwester gefragt, sie war immer der Liebling unserer Eltern, ihr wurde der Weg geebnet, heute ist sie Karrierefrau. Sie hat mir geholfen, es hat mich drei Jahre meines Lebens gekostet.


    Doch nun, zu meinem 35. Geburtstag, kann ich mir die größte Freude machen, die ich mir vorstellen könnte, ich habe die Chance ergriffen und Lesen gelernt. Und heute ist es soweit, hier, an diesem magischen Ort, nach all der Wartezeit, werde ich mir ein Buch aussuchen und es selbständig lesen können. Ich nehme das Dickste, was es gibt, ein schweres Buch, mit stabilem Einband in dunkelblauem Leinen und goldenem Lesebändchen. Ich kann es endlich – Lesen

  • von Bücherelfe



    Gwendolyn fühlte sich wie eine Fremde in dem Zimmer, obwohl sie es in- und auswendig kannte, besser als ihre Hosentaschen.
    Sie hätte nie gedacht, sich jemals so fremd in diesem Zimmer zu fühlen. Gut, sie hätte auch nie gedacht, dass sich Leon einmal umbringen würde. Sie hatte es geahnt, aber so recht hatte niemand etwas unternommen.
    Dabei war es ausgerechnet bei Leon so deutlich gewesen. Die schlechten Noten in der Schule, dann die Eltern, die außer ihrer Arbeit nichts anderes liebten – oder lieben konnten.
    Taub und blind, das waren sie alle gewesen. Taub und blind.
    Nun gut, wozu jetzt noch trauern? Es war zu spät.
    In seinem Abschiedsbrief hatte er Gwendolyn all seine Bücher vermacht. Die sollte sie jetzt holen.
    Einladend dazu, die Welt um sich herum zu vergessen, standen sie wie immer ordentlich in den Regalen aus Buchenholz. Mit fahrigen Fingern strich sie über die bunten Einbände. Ein einziges von ihnen war in Packpapier gewickelt.
    Gwendolyn nahm es mit gerunzelter Stirn aus dem Regal, setzte sich auf sein Bett, wo sie das Packpapier zurückschlug. Natürlich kam ein Buch zum Vorschein. Es war ihr Lieblingsbuch.
    Als sie es aufschlug, segelte ein Blockzettel geräuschlos auf den weichen Teppich. Sie erkannte seine Schrift sofort, selbst als ihr Blick wie Worte nur streifte. Hastig fiel sie auf die Knie, schnappte sich das Papier und begann zu lesen. Aber nicht wie sonst kostete sie die Worte, sie verschlang sie, nur um wieder etwas von ihm zu haben.

    Hi, Gwen!
    Ich musste gehen. Ich hoffe, du verstehst es. Das Buch ist für dich. Behalte es, wenn du willst. Ich dachte, vielleicht gefällt’s dir. Na, jetzt kannst du es mir eh nicht mehr sagen.
    Du warst eine gute Freundin in den letzten Jahren, aber das ist nicht genug. Es gibt mehr im Leben als gute Freunde. Und das ist mir leider verwehrt geblieben. Darum gehe ich.
    Das verstehst du doch, oder?
    All die anderen Bücher gehören auch dir. Lese sie, so wie du oft in meinem Gesicht gelesen hast. Bis ich dieses Buch für jeden zuschlug. Wäre ja dumm, wenn man mich bei meinem Abgang stört, oder? Du weißt ja, dramatische Abgänge sind nicht so mein Ding.
    Ich werde jetzt gehen. Zum Fluss gehen ist nicht schwer. Den Stein am Fuß festbinden ist nicht schwer. Und zu gehen ist auch nicht schwer. Aber dabei nicht an dich zu denken, das ist schwer. Es muss sein.
    Dein Leon


    Es war längst dunkel, als Leons Mutter ins dunkle Zimmer blickte. Ihre Augen waren rot angeschwollen. Ihr Sohn war ihr immer selbstverständlich gewesen. Bis er einmal nicht mehr da war.
    Gwendolyn saß auf dem Teppich, zitternd den Brief und das Buch in der Hand. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie geweint hatte. Aber ihr Gesicht war feucht. Vielleicht war ja Leon aus seinem feuchten Grab gestiegen und hatte sie trösten wollen.
    Geschafft hatte er’s jedenfalls. Sie weinte nie wieder über ihn. Aber immer wenn sie ein Buch von ihm aufschlug, sah sie ihn lachend hinter den Buchstaben tanzen.

  • von Spreequell



    Ich trinke meinen Kaffee und wärme mir dabei die ständig kalten Finger. Bevor ich zur Arbeit fahre werde ich noch den Veranstaltungsteil der Regionalzeitung lesen. Die fettgedruckten Überschriften springen mir ins Auge: „Babybasar in der Kirche“, „Lesungen von Goethe“, „Diskussionsabend zum Thema Todesstrafe – JA/NEIN“, „Stadtlauf am Sonntag“ usw. Es ist nichts Besonderes für mich dabei. Wie wird das Wetter morgen? Eigentlich bin ich bei der Wettervorhersage gar nicht bei der Sache. Ich blättere noch mal zurück zum Thema „Todesstrafe“. Die Veranstaltung findet in der Aula des Puschkin-Gymnasiums statt.
    Ich ahne, warum das Thema gerade jetzt aufgegriffen wird. Meine Tochter erzählte mir, dass man vor kurzem das Schwein gefasst hat, das vor fast einem Jahr eine Mitschülerin vergewaltigt hat. In den Zeitungen war damals nichts zum Schutze des Mädchens. Die Eltern hatten sie seither vom Unterricht befreien lassen. Wie es ihr wohl geht? Verflixt, ich hätte damals bereits mit meiner Tochter darüber sprechen sollen! Nun findet ein Diskussionsabend in ihrer Aula statt. Als Gast hat man einen ehemaligen Lebenslänglichen eingeladen!


    Mir ist klar, warum ich dem Thema aus dem Weg gehen wollte. Nicht, dass ich nicht daran gedacht hätte…im Gegenteil! Nachts kann ich, wie damals, nicht schlafen. Ich sehe wieder die irre kuckenden Augen und das braun gebrannte Gesicht vor mir. Ich wache schweißgebadet auf, weil mir der Schrei nach Hilfe im Hals stecken bleibt. Auf der Straße rast mein Herz, wenn ich glaube meinen Peiniger nach 25 Jahren wieder zu erkennen.
    Als er damals mit dem Messer vor mir stand, setzte einfach mein Verstand aus. Ich konnte nichts mehr denken. Nur Angst umgab mich. Nachdem er von mir abließ und verschwand, kam der Selbstvorwurf: Vielleicht habe ich mich nicht genug gewehrt?!
    Gut ging es mir nur, als ich wusste, er wird weggeschlossen. Ich war die Einzige, die den Mut hatte auszusagen. Dabei habe ich triumphierend in seine lüsternen Augen gesehen. Ich hoffte so, die Scham vor ihm und der Welt verbergen zu können. Ich wollte zeigen, dass er mich nicht gebrochen hatte.
    Im Zuhörerraum saßen damals die beiden anderen Frauen und die Mütter der beiden zehn- und zwölfjährigen Mädchen. Alle hatte er innerhalb von 2 Wochen nach seiner Entlassung auf Bewährung überfallen. Er war damals 32 Jahre und hatte die meiste Zeit seit seinem 16. Lebensjahr wegen seines Triebes im Gewahrsam verbracht. Die Hälfte seines Lebens! Eine Freundin hatte er auch noch, die wusste, was er so treibt. Ich frage mich, wer kränker ist. Er oder seine Freundin?
    Es war schlimm die Qualen und die Pein im Gerichtssaal noch mal durchleben zu müssen.
    Die Körperlichen Wunden verheilten schnell, aber die seelischen brechen immer wieder auf, egal wie viel Jahre vergangen sind. Ich dachte, ich kann mich vor ihm verstecken. Ich zog mehrmals um, als sich sein Haftende näherte. Ob er mich wirklich verfolgt, weil ich gegen ihn ausgesagt habe?


    Ich treffe die Entscheidung, zu dem Diskussionsabend zu gehen. Ja, ich habe etwas zu dem Thema zu sagen! Aber vorher muss ich unbedingt mit meiner Tochter sprechen!

  • von Waldfee



    1981


    Ich kauere vor dem Klassenzimmer, ein aufgeschlagenes Buch auf den Knien. Ein Ranzen schlittert über den Steinfußboden und prallt hart an mir ab. „Hey, fette Sau, die Pause ist zuende!“ Ich raffe mich auf und trotte in den Klassenraum. Papiergeschosse treffen mich am Rücken, jemand zieht an meinen Haaren, aus der Reihe hinter mir ertönt ein „Fetti! Fetti!“-Sprechgesang: Ottokar. Stefans bester Freund ärgert mich nur, weil er weiß, dass Stefan mich mag. Seit Schloss Rosenfels renoviert wird, rudern wir Mädchen morgens über den See und nehmen auf Burg Schreckenstein am Unterricht teil. Ich schiebe mein Buch unter den Tisch, lese heimlich weiter, bis die Lehrerin uns nach Hause entlässt.


    „Mama?“ rufe ich in die stille Wohnung und schließe die Tür hinter mir. Im Schlafzimmer stinkt es nach Schnaps, Schweiß und Schlaf. Ich ziehe den Rolladen hoch und reiße das Fenster auf. „Hier zieht’s!“ keift Mama aus dem Bett. Ich mache die Tür von außen zu.


    In der Küche treffe ich meine Zwillingsschwester Hanni. „Die Hausmutter ist krank. Wir müssen uns selbst was zu essen machen.“ erkläre ich. Im Schrank steht eine Dose Thunfisch. „Aber Nanni, die wollten wir doch für die Mitternachtsparty aufheben!“ protestiert Hanni.


    Ich lege die Deutscharbeit auf den Küchentisch. Im Wohnzimmer finde ich Erdnussflips, im Gefrierfach eine angebrochene Packung Eis. Nach dem Essen stopfe ich den Stapel gelesener Bücher in eine Plastiktüte und hopse singend die Treppe hinunter. Ich bin Eva-Lotta. Mein Freund Kalle Blomquist hat mich zur Bücherei bestellt. „Recherchen für einen neuen Fall.“ hat er wichtig gesagt. Seit ich Kalle kenne, erlebe ich die aufregendsten Geschichten.


    Drei Stunden später bin ich wieder da, sieben Bücher im Gepäck. Mama ist aufgestanden. Sie steht immer auf, bevor Papa kommt, damit er uns nicht verlässt. Wenn Papa fragt: „Hat sie dir was zu essen gemacht?“ sage ich: „Ja.“ Ich möchte nicht, dass er uns verlässt. Er sitzt bloß vor der Glotze und redet kein Wort, nicht mit Mama, nicht mit mir, aber so lange er bei uns bleibt, hat Mama einen Grund aufzustehen.


    „Hast du die Deutscharbeit gesehen?“ frage ich gespannt. Eine große 1 steht unter dem Aufsatz und darunter in roter Schrift: „Kristine schreibt sehr schöne Aufsätze. Sie hat eine wundervolle Phantasie.“


    „Christine mit K!“ spuckt Mama aus. „Da siehst du, wieviel deine Lehrerin von Deutsch versteht. Und von wegen Phantasie: Lügen kannst du, lügen wie gedruckt!“



    2006


    „Die tickt nicht richtig.“ raunt meine Zimmergenossin ihrem Besucher ins Ohr. „Heute ist sie die Päpstin und morgen Madame Bovary…“ Dabei ist sie die Verrückte. Nachts fängt sie an zu toben, dann kommen die Ärzte, schnallen sie fest und geben ihr Spritzen.


    Ich ignoriere sie, blättere eine Seite um und fühle mich glücklich. Sie bringen mir Bücher. „Hier, Miss Marple, lesen Sie: ein neuer Fall!“ Die Ärzte fragen, was ich glaube, wer ich wirklich sei. Olive Martin, behaupte ich, Muttermörderin. Oder einfach nur: Annie Wilkes. Dann forschen sie nach, wer Annie Wilkes ist und sagen, ich dürfe noch bleiben.

  • von Branka



    Ich laufe orientierungslos durch die Straßen. Die Straßenschilder sind für mich meist nur eine Aneinanderreihung von Zeichen. Ich finde mich nicht zurecht, weil ich niemals richtig lesen gelernt habe.


    Eine angeborene Schwäche war der Grund dafür und auch, dass niemals jemand geduldig genug mit mir war, um es mir beizubringen. Manchmal blicke ich traurig in die Auslagen der Buchhandlungen. Wie gern würde ich einmal ein Buch lesen. Ganz alleine, ohne fremde Hilfe. Doch für einen Absatz brauche ich so lange, das ich ein Buch erst gar nicht beginne.


    Die meisten Briefe und Zeitungsartikel liest mir mein Mann vor. Er ist sehr geduldig mit mir und hat auch schon versucht, mir das Lesen richtig beizubringen. Aber irgendwie will es nicht klappen. Meine Geduld mit mir selbst ist nicht groß genug, viel zu schnell verliere ich den Mut.


    Heute will ich zum ersten Mal zu einer Beratungsstelle gehen. Ich möchte endlich Lesen lernen. So naiv wie ich war, wollte ich mich selbst zurechtfinden und habe das Angebot meines Mannes, der mich hinbringen wollte, ausgeschlagen. Ich werde die Passanten fragen, sagte ich ihm. Ich finde das schon. Ja, um jeden Preis wollte ich trotz meiner Leseschwäche selbstständig sein, nicht immer auf jemand angewiesen.


    Der Traum, endlich richtig lesen zu können, motiviert mich. Wenn ich endlich richtig lesen kann, dann werde ich in einen Buchladen gehen, um mir mein erstes Buch zu kaufen. Einen richtig dicken Schmöker.


    Das war vor drei Jahren. Es war eine sehr gute Entscheidung, diese Beratungsstelle aufzusuchen. Heute kann ich richtig lesen und es war gar nicht so schwer. Mit etwas Geduld und mit meinem Traum fest vor Augen, machte ich gute Fortschritte. Dadurch konnte ich jetzt eine Ausbildung beginnen und auch den Führerschein will ich noch machen.


    Mein Mann hat mir ein eigenes Zimmer eingerichtet, in dem ich meine Bücher unterbringen kann. Seitdem ich lesen kann, kann ich an keinem Buchladen mehr vorbeigehen und bin niemals ohne ein Buch anzutreffen. Ich habe viele Bücher gekauft seitdem und natürlich auch gelesen!


    Lesen ist für mich zu einem wertvollen Gut geworden, das ich nicht mehr missen möchte. Denn durch meine Leseschwäche kenne ich beide Seiten. Ein Mensch, der von Kindheit an lesen kann, hat keine Vorstellung davon, wie es ist, nicht lesen zu können. Wie es ist, anstelle vollständiger Sätze nur eine Aneinanderreihung von Zeichen vor sich zu sehen. Nicht mal richtig schreiben konnte ich dadurch. Man ist oft abhängig von der Hilfsbereitschaft anderer Menschen und doch kann man an vielen Dingen des täglichen Lebens nicht teilnehmen.


    Wenn ich heute an dem Gebäude der Beratungsstelle vorbei gehe, weiß ich endlich, welch wahrheitsgemäßer Leitspruch auf dem Schild stand, das schon damals mittig über der Tür hing:


    Wer lesen kann, ist klar im Vorteil!

  • von Babyjane



    Ich hoppste ins Bett und zog mir die Decke bis zu den Ohren hoch, bibberte ein wenig auf meiner Seite vor Kälte herum und schob dann kurzerhand meine Eisfüße unter seine Decke, was mir einen trägen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen einbrachte. „Was wird denn das?“ „Nix nix“, nuschelte ich und wackelte ein bißchen mit den Zehen, aber er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, sondern las einfach weiter in seinem Buch. Ich rollte mich zur Seite und schüttelte mein langes Blondhaar über die Buchseiten und legte einen Augenaufschlag hin, der Brigitte Bardot neidisch gemacht hätte. Er brummte nur kurz und schob meine Locken vom Buch, um weiter lesen zu können.


    Ok,ich mußte härtere Geschütze auffahren, ich hob seine Decke und schob mich, den Po voran langsam zu ihm herüber. Schön in Löffelchenstellung mit dem Kopf auf seinem Arm und dabei immer fein mit dem Popöchen gewackelt. „Was willst du?“ kam es unwillig von ihm. Ich rollte mit den Augen, was sollte ich schon wollen. Zur Antwort schob ich noch mal meinem Po hin und her und fuhr mit meinen kalten Füße an seinen Beinen hoch und runter. Er begann mit einer meiner Haarsträhnen zu spielen und las ungerührt weiter.


    Ich schnaufte: „Nun mach schon, du weißt genau, was ich will.“ Er lehnte seinen Kopf an meine Schulter und pustete mir beim Atmen leicht in den Nacken, so dass ich eine leichte Gänsehaut überall bekam. Ich nahm seine Hand und platzierte sie strategisch günstig auf meinem Bauch. Wieder wackelte ich vorsichtig mit meinem Po an seinen Oberschenkeln herum. „Du bist ein Quälgeist.“ nuschelte er in mein Ohr und biß mir zart in die Schulter. „Loslosloslos.“ quängelte ich. Ein Seufzen entrang sich seiner Brust und ich kuschelte mich noch tiefer in seine Decke und atmete tief seinen Geruch ein. „Loslosloslos!“
    „Also gut, du gibst ja doch nicht eher Ruhe!“ „Das hast du gut erkannt.“ Ich grinste und nickte zufrieden.


    Leise begann er zu lesen. Seine Stimme nahm diesen angenehm rauen und verträumten Ton an, den sie nur beim Vorlesen für mich hat. Ich schloß die Augen und lauschte ihm hingerissen. Als er unvermittelt stoppte, wohl der Meinung ich sei eingeschlafen, bohrte ich ihm einen Finger in den Bauch. „Weiter lesen, zackzack.“ Brummelnd ergab er sich und endete erst mit einem kleinen Kuß auf meine Stirn, als ich schon lange leise vor mich hin schnarchend in seinen Armen lag.

  • von Tom



    Maria ist todmüde, aber den Umschlag auf dem Küchentisch sieht sie sofort. Sie geht am Tisch vorbei, den Blick auf den Brief geheftet, dreht sich zur Kaffeemaschine, nimmt die feuchte Filtertüte von gestern heraus, schmeißt sie in den Müll, setzt eine neue ein, kippt Wasser in die Maschine und schiebt sich dann auf einen Stuhl. Hinter ihr ertönt Blubbern, der Duft von Kaffee erfüllt den Raum.
    Der Umschlag ist unverschlossen; die Klappe hebt den Brief leicht an, neigt ihn zu ihr. ‚Maria’ steht darauf, nichts weiter.
    Sie weiß, was dieser Brief enthält.
    Sein Tennisschläger hing nicht an der Flurwand. Sie hat es wohl im Vorbeigehen gesehen, aber ihr Bewußtsein nimmt es erst jetzt wahr. Seine Schuhe fehlten unter der Bank, seine Jacken hingen nicht am Garderobenständer.
    Maria gießt sich einen Kaffeepott voll, zündet sich eine HB an, lehnt sich einen Moment in das taube, wohlige Gefühl der ersten Züge. Dann geht sie ins Arbeitszimmer.
    Die Harley-Bilder sind verschwunden, auf der Schreibtischplatte sind die Abdrücke von Tassen und staubfreie Rechtecke zu sehen, wo der Computer stand. Da hat er vor Internet-Pornobildern gewichst. Den Verlauf im Browser hat er zwar gelöscht, aber die temporären Dateien immer vergessen. Junge Dinger in Strapsen, von hinten, Ärsche und Mösen in die Kamera gereckt. Maria hat Morgen für Morgen knisternde Papiertaschentücher im Müll gefunden, wenn sie von der Schicht kam. Seit Wochen. Monaten.
    Sie geht ins Wohnzimmer. Seine Videos hat er auch mitgenommen, und die CDs von Houston, Carey und diesen Schnepfen. Die Bar ist leergeräumt, natürlich: Seine Whisky-Sammlung. Marias Amaretto steht noch da, sie gießt einen Schluck in ihren Kaffee und bemerkt erstaunt, daß ihre Hände nicht zittern. Der Anrufbeantworter fehlt, aber das Telefon steht noch da. Sie setzt sich auf die Couch, lauscht in die Stille, nimmt das Telefon auf den Schoß und starrt es an.
    Sie muß an den ersten Sex mit Bruno denken, daran, wie sie seinen Körper erlebt hat, an den sie sich seitdem detailgenau erinnern konnte: Die Form seiner leicht abstehenden Ohrläppchen, die Spalte im Kinn, die verwachsene linke Brustwarze, die Blinddarmnarbe, den tiefer herabhängenden rechten Hoden. Seine kräftigen Oberschenkel, seine weichen Hände. Den erigiert leicht nach links stehenden Schwanz. Seine Lippen. Der letzte Sex mit Bruno liegt fünf Monate zurück, eine erbärmliche, für beide demütigende Nummer. Sie wird auf immer der letzte Sex mit Bruno bleiben.
    Sie nimmt den Hörer und lauscht dem Tuten. Der Kaffee ist lau, die Zigarette heruntergebrannt, irgendwo hat sie die Asche verloren. Maria läßt die Kippe in den Kaffee fallen und geht zurück in die Küche.
    Nur ein Brief. Nach fünfunddreißig Jahren. Kein Gespräch, kein Abschiedsessen, nur ein feiger Brief und eine heimlich ausgeräumte Wohnung. Maria spürt sauren Geschmack im Hals, sie geht zur Spüle und erbricht Kaffee.
    Nein, den Gefallen, das auch noch zu lesen, den wird sie ihm nicht tun. Sie öffnet das Küchenfenster, kniet sich auf das Fensterbrett und starrt in die sechsstöckige Leere, die plötzlich so viel Ähnlichkeit mit ihrer Vergangenheit hat. Maria seufzt, dann läßt sie sich fallen.

  • von Callabluete



    Eine heiße Tasse Schokolade in der rechten und in der linken Hand ein Buch. Voller Vorfreude schritt er in sein Lesezimmer. Jack freute sich auf seinen großen grünen alten Sessel, indem er schon so viele Stunden mit Lesen verbracht hatte.
    Er schlug die erste Seite auf, und strich behutsam drüber. Jack nippte an seinem Getränk und begann zu lesen. Wie immer war er sofort in der Geschichte drin, es war diesmal Grimms Märchen nur eine etwas andere Variante. In dieser Geschichte lebten alle glücklich und zufrieden miteinander.
    Nach ein paar Seiten spürte Jack plötzlich einen starken Sog. Bevor überhaupt etwas tun konnte hatte das Buch ihn schon hineingezogen.
    Er landete weich in einem Heuwagen, er bemerkte sofort das Grunzen um ihn herum.
    „Lebt er noch?“, fragte eine helle grunzstimme. „Ich denke schon.“, antwortete eine andere. Jack traute seinen Augen nicht, die drei Schweine! Eben hatte er noch von ihnen gelesen.
    „Wie komme ich hierher?“, fragte er. Erfreut sprangen sie um den Wagen, bis ihnen eine dunkle Stimme Einhalt gebot. „Könnt ihr ihm auch runterhelfen?“, brummte er. Jacks Augen weiteten sich –Der Wolf-
    Eilig rannten die Schweine um den Wagen und holten eine kleine Hühnerleiter.
    „Willkommen! Es freut uns sehr dich hier zu sehen! Ich werde gleich mal auf den Punkt kommen! Wir brauchen deine Hilfe!“ Ein bejahendes grunzen folgte. Jack sah den Wolf aufmerksam an, und sprach dann sehr aufgeregt: „Was mach ich hier? Wobei soll ich euch helfen, und wie komm ich hierher?“, „Du kennst uns! Du weißt wir brauchen dich! Die Menschen lesen immer weniger, du mußt sie dazu bringen wieder mehr zu lesen, sonst verschwinden wir!“ Die drei Schweine fingen lauthals an zu weinen. Mitleidig schaute Jack sie an: „Wie kann ich euch helfen?“ Der Wolf legte behutsam einen Arm um Jack und erklärte ihm alles weitere.
    Bevor Jack wußte was mit ihm geschah, saß er in München auf dem Marktplatz und hielt ein großes Buch vor sich. Zu seiner Überraschung waren die drei Schweine auch bei ihm.
    Nach wenigen Sekunden bildete sich einige riesige Menschenmenge um ihn und Jack begann zu lesen. Fleißig verteilten die Schweine Bücher, die jedes Kind fest an sich drückte und gebannt auf Jack schaute.
    Tag um Tag saß Jack in verschiedenen Städten und las, an seiner Seite war immer eine andere Märchenfigur die einige Bücher verteilte.
    In den Zeitungen wurde berichtet, daß man einen starken Bücherkauf verzeichnen konnte.
    Eines Tages sah Jack den Wolf, er nickte ihm zu und verschwand für immer. Jack hatte seine Aufgabe erledigt , aber er wußte das er dies auch weiterhin tun würde, den Menschen vorzulesen.

  • von Sinela



    Mit vor Verzweiflung stark gerunzelter Stirn schaute Dennis Berchthold den vor ihm liegenden Bretterhaufen an. Sein Blick wanderte von dem Holz auf die dazugehörigen Schrauben in seiner linken Hand. Wie um alles in der Welt sollte er daraus ein Regal bauen? Die Gebrauchsanleitung, die dem Bausatz beigefügt gewesen war, hatte er gleich nach lesen der ersten Seite weggelegt, denn chinesisch würde er wahrscheinlich eher verstehen als das fachliche Kauderwelch dort. Warum hatte er auch sein großes Maul wieder mal nicht halten können, als seine Freundin meinte, sie brauche mehr Platz für ihr Pferde aus Plastik, die sie auch noch hochtrabend Modellpferde nannte? Evelyn wollte ein Regal bei Möbel-Kneisel kaufen, fix und fertig zusammengebaut. Das hatte seinen Stolz ganz schön verletzt, war er doch der Welt bester Heimwerker. Gleich am nächsten Tag ging Dennis zu IKEA und kaufte ein. Das Resultat lag vor ihm. Er seufzte. Es half ja alles nichts, in vier Stunden wollte seine Süsse vom Besuch bei ihrer besten Freundin wiederkommen, bis dahin musste das Ding fertig sein. Entschlossen machte er sich an die Arbeit.


    Zufrieden betrachtete der junge Mann sein Werk. Das Regal stand, alle Bretter waren an ihrem Platz – nur wohin die zwei übriggebliebenen Schrauben gehörten, das entzog sich seiner Kenntnis. Er zuckte mit den Achseln, vielleicht waren sie als Reserve gedacht, wenn etwas verloren gehen sollte. Dennis ging zufrieden mit sich Richtung Küche und hatte gerade die Wohnzimmertür erreicht, als er ein verhängnisvolles Knirschen hörte. Er fuhr herum. Das gerade mit Fleiss und viel Glück zusammengebaute Möbelstück fiel im Zeitlupentempo nach vorne. In Sekundenbruchteilen reagierte der Mann und rannte so schnell er konnte in Richtung Regal, aber er war zu langsam. Die Bretter krachten in das Aquarium, dessen Glas daraufhin in tausend Stücke zerbrach und seinen Inhalt auf den Fußboden entließ. Dennis konnte seinen Schwung nicht mehr bremsen und rannte in das Wasser hinein. Die extrem rutschigen Sohlen seiner Sandalen gingen ab wie Schlittschuhe auf einer Eisbahn und voller Panik griff er nach dem nächstbesten Halt, den er in seine Finger bekommen konnte. Zu seinem Unglück war dies ein Regal mit vielen Modellpferden, dass nun mit ihm zusammen auf den Boden knallte. Wie ein begossener Pudel saß er da, umringt von Wasserpflanzen, nach Luft schnappenden Fischen und vielen zerbrochenen Plastikpferden. Als Dennis sich umblickte und das Chaos um sich herum sah, konnte er nicht anders: Er fing aus vollen Hals zu lachen an.


    Dennis Berchthold hasste Kneipen. Die vielen Menschen, das laute Stimmengewirr, das trunkene Gelaber, das war einfach nichts für ihn. Trotzdem saß er am Tresen des „Goldenen Ankers“ mit einem kühlen Blonden vor sich. Seit seine Freundin ihn rausgeworfen hatte, war er jeden Abend hier. Und das nur, weil er die Gebrauchsanleitung nicht gelesen hatte.

  • von Jass



    Du verwunderst mich, du verwunderst mich sehr.
    Wenn ich die Art dieser Verwunderung in klare Worte fassen sollte, sie definieren, ich glaube, ich könnte es nicht. Eigentlich hat diese Verwunderung ihren Ursprung auch mehr in mir selbst, als in dir.
    Es ist die Frage eines Momentes, eines einzelnen Augenblickes, der aus den verschwommenen Umrissen eines Menschen in der Masse plötzlich die scharfe Silhouette eines Individuums macht. Dieser Augenblick markiert eine neue Stunde Null. –Und diese Stunde Null hast du eingeleitet.
    Was genau ist diese Stunde Null? Sie markiert den Punkt, an dem ein Herz, das sich nach zu schmerzlichen Momenten hinter den Verstand zurückgezogen hat, wieder an die Oberfläche drängt und den Verstand, der jeden und alles um sich herum nur nach klaren Kriterien erfasst, in seine Schranken weist.
    Es war nur ein Blick, nur ein einziger, unerwarteter Blick. Du hast nur einen Meter von mir entfernt gesessen, als ich den Kopf hob und deine Augen direkt in die meinen sahen. Es war kein großer Blitzschlag, kein Feuerwerk, kein Glockenspiel, nur ein Augenblick hundertprozentiger Wahrnehmung. –Mein Herz hat dich wahrgenommen.
    Aber das war nur Phase Eins der Verwunderung, die ich empfinde.


    Phase Zwei geht tiefer, viel tiefer als ein einziger Augenblick.
    Es ist nicht so, dass dich mein Verstand nicht schon früher wahrgenommen hätte, nicht schon früher analysiert und seine Schlussfolgerungen gezogen. Dennoch tut er es jetzt noch einmal. Und sooft ich auch über dich nachdenke, das Ergebnis bleibt sich ähnlich, zählt eine Menge negativer Aspekte auf, äußert eine Menge Zweifel an deiner Persönlichkeit und der Kompatibilität mit der meinen.
    Aber wenn ich in deinen Augen lese, erkenne ich keines der Dinge, die mein Verstand dir unterstellt, sie sind offen und freundlich und jederzeit steckt ein Lächeln in ihnen.
    Und auch, wenn mein Herz sich irren sollte mit dem, was es in deinen Augen liest, du hast es dazu gebracht, wieder wahrzunehmen, wieder zu lesen –Wieder Menschen zu finden, mit denen es sich umgeben möchte. Deshalb verwunderst du mich. Deshalb verwundere ich mich selbst.

  • von Nudelsuppe



    Das Rauschen der Hauptstraße musste als Meer reichen. Dafür war es Sommer, die Hitze machte mich träge und ziellos. Den Tag hatte ich rauchend und wie ein Idiot lächelnd verbracht. Als es später wurde spülte es mich zu Juan ins Havanna. Ich hatte Lust auf Cocktails und schöne Frauen, und darauf, über sie zu schreiben. Das Havanna war voll, die Musik laut, die Frauen hübsch und die Geschichten flossen mir aus den Fingern, kleine Fische aus Tinte schwammen durch mein Notizbuch.
    Nach dem dritten Mojito spürte ich die kommende Ebbe in meiner Brieftasche und den Übermut, die Menschheit mit meinen Geschichten umarmen zu wollen. Juan, der Barkeeper, schaute mich fragend an.
    „Die Menschen da drüben, die retten dir den Augenblick. Ich kann dich aber unsterblich machen“, sagte ich.
    Er schaute mich immer noch fragend an.
    „Ich bin Schriftsteller“, erklärte ich. „Sie sprechen noch in hundert Jahren von dir, weil ich über dich schreibe.“
    „Bis dahin bin ich tot. Du bist ein Scharlatan.“ Sein weißes Hemd glänzte, sein schwarzes Jackett war eine matte Nacht. Weit darüber die Stecknadeln seiner braunen Augen.
    „Gib mir noch einen Rum.“
    „Nein.“
    „Willst du nicht unsterblich werden?“
    „Du lebst für die Zukunft, ich im Jetzt.“ Seine Stimme blieb sanft dabei. Wir schauten uns an.
    Ich hielt seinem Blick stand.
    „Du hast hübsche Frauen hier“, sagte ich.
    „Und keine davon ist für dich.“
    „Oh doch. Ich verrate dir ein Geheimnis.“
    „So?“
    „Die Frauen machen uns unsterblich, nicht die Schriftsteller. Sie sind Inspiration für alles, was geschrieben wird. Und sie sind es, welche die Bücher kaufen und lesen, um sich mit unseren Augen in aller Schönheit wieder zu finden.“
    „Du bist verrückt. Aber ich mag dich.“
    Er holte uns zwei Gläser, goss großzügig ein, und drückte mir eins in die Hand.
    „Nun gut, mein kleiner Schriftsteller.“ Er prostete mir zu. „Auf die Zukunft.“
    „Auf die Frauen“, erwiderte ich. Und ich sah zum ersten Mal die Andeutung eines Lächelns auf seinem Gesicht.

  • von Churchill



    Seit Jahren kommen sie zu uns aus Polen,
    um abends müde in ihr Bett zu sinken,
    damit die Hiesigen den Wein gar günstig trinken.
    Auch dieses Jahr wird Deutschland Polen holen.


    Den meisten ist es nie bewusst gewesen,
    dass jeder Wein, den sie da konsumieren,
    Geschichte hat. Was sollten sie verlieren
    Gedanken auch an jene, die für sie gelesen?


    Dass Lesen Arbeit ist, wird oft bestritten,
    doch wer im Weinberg sieht, was Leser leisten,
    der lässt das Lästern und er wird bescheiden.


    So will ich , der nur Bücher liest, euch bitten:
    Schätzt hoch den Wert des Lesens! Doch die dreisten
    und dummen Konsumierer sollt ihr meiden...