Schreibwettbewerb August 2007 - Thema: "Traum"

  • Thema August 2007:


    "Traum"


    Vom 01. bis 20. August 2007 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb August 2007 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.



    !! Bitte denkt daran, Eure Beiträge NUR an diese Email-Adresse zu senden, da Wolke noch in Urlaub ist und alle Einsendungen, die an ihre Adresse gehen, nicht berücksichtigt werden können!



    Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!


    Nur für registrierte Mitglieder mit mindestens 50 Beiträgen!


    Eine Bitte: Schickt uns Eure Beiträge als .doc oder .rtf und sendet sie uns als Anhang in einer Mail. Damit kommen dann auch Zeilenumbrüche, etc. richtig bei uns an. In Word könnt ihr dann auch die Rechtschreibhilfe nutzen und unter „Extras“ habt ihr die Möglichkeit „Wörter zählen“.


    Wir wünschen Euch viel Spaß und viel Erfolg!

  • von Leserättin



    „Das ist ein Traumgenerator. Er wirkt auf Ihr Unterbewusstsein und lässt Sie das träumen, was Sie wollen.“
    Karl sah von dem Stein in seiner Hand auf. „Interessant. Funktioniert es?“ Für technische Spielereien war er immer zu haben. Seine Dreizimmerwohnung sah aus wie einer japanischen Hightech-Messe entsprungen. Ein sprechender Kühlschrank, eine Klobrille, die sich von alleine hob und natürlich einen PC der neuesten Generation.
    „Natürlich.“ Der Ton des Verkäufers verlor ein wenig von seiner Freundlichkeit.
    „Dann nehme ich ihn.“ Mit 100 Euro war der blassgelbe, hühnereigroße Stein zwar kein Schnäppchen, aber Karl verdiente als Computerspezialist gut genug, um sich diese Spielerei leisten zu können. Und wenn er nichts taugte, so war der Stein immer noch eine hübsche Dekoration. Seine aktuelle Freundin hatte sich über das sterile, kalte Design seiner Einrichtung sowieso schon beklagt.
    Eigentlich hatte Karl noch einkaufen wollen, aber er brannte darauf, den Traumgenerator auszuprobieren. Außerdem war im Tiefkühlfach noch eine Dreierpackung Pizza, sein Grundnahrungsmittel. Den Kalorienbedarfsrechner, der gleichzeitig Rezepte zur optimalen Nährstoffversorgung ausspuckte, hatte er schon vor Monaten bei ebay vertickt.
    Karl machte es sich in seinem Bett gemütlich und las die Bedienungsanleitung durch. Aha, so war das also. Man konnte die Traumart nach Kategorien sortiert einstellen.
    Er wählte Urlaub, denn sein Hawaii-Trip war aufgrund einer Umstrukturierung in der Firma ins Wasser gefallen. Ein neues Display zeigte sich an der Unterseite des Steins und bot die Möglichkeit, weitere Optionen einzugeben.
    Karl stellte Insel – Palmen – Wasserfall – schöne Frauen ein. Dann löschte er per Fernbedienung das Licht und schloss die Augen.
    Es dauerte nicht lange, bis er einschlief und sich in einem wunderbaren Traum wieder fand.
    Das Geld hat sich gelohnt, dachte er beim Aufwachen, holte sich einen Kaffee aus dem vorprogrammierten Automaten und ging ins Bett zurück. Diesmal wollte er ein römischer Kaiser sein.
    Nach der im Traum erlebten Orgie fühlte er sich wohlig ermattet, so dass er gleich wieder einschlafen konnte.
    Erst das Telefonklingeln riss ihn aus seinen Traumerlebnissen. Karl ärgerte sich, war er doch gerade dabei gewesen, als Alexander der Große auf einen Feldzug zu gehen.
    Am anderen Ende sprach sein Kollege, fragte, ob er krank sei. Karls Blick fiel auf die Leuchtanzeige des Chronometers. Auch das Datum wurde angezeigt. Und es waren tatsächlich volle drei Tage vergangen, seit er den Stein erworben hatte.
    Karl murmelte etwas von Grippe und dass er die Krankmeldung nachreichen würde. Dann legte er auf und kehrte ins Bett zurück.
    In seiner Firma würde man für immer auf ihn verzichten müssen. Abhängig von dem Traumgenerator hatte Karl alle anderen Bedürfnisse ignoriert. Der wenige Kaffee, den er anfangs noch geschlürft hatte, hatte die Dehydrierung nicht verhindern können.
    Als die Nachbarn Gestank meldeten und keiner Karl erreichen konnte, brach die Polizei die Tür auf. Im Schlafzimmer fanden sie den Toten, ein seliges Lächeln auf dem Gesicht und fest in der Hand einen Stein, dessen Bedeutung sich niemand erklären konnte.

  • von Luc



    Mist! Die Zwischenprüfung hatte ich vergeigt, den Fiat Panda zu Schrott gefahren. Das Lästigste war auf jeden Fall, dass mein Ausbildungsleiter mit mir schlafen wollte. Na ja, nicht schlafen. Er war überhaupt kein Typ, der schnell müde wurde. Groß, drahtig, mit so einem Dauergrinsen im Gesicht, wenn er auf einen zukam, dass man als Frau genau wusste, dass er gerade einen Stehen hatte und sich darüber freute, als wäre Weihnachten und er spielte jetzt den Papi, der mit den Geschenken anrückte.


    Ich zapfte das Bier an, stellte das Glas auf ein Tablett und ging auf Tisch 3 zu. Dort quatschte ein Kerl in sein Handy und stocherte mit der Gabel in den Fritten rum. Schwarzes eckiges Brillengestell, dunkler Anzug. Wegen Männern wie dem lebte ich in Köln. Garantiert ein Medienonkel, dachte ich und Hoffnung keimte in mir auf. Sieh mich bitte, bitte an und schaffe mich hier raus in den Pop Olymp, betete ich, setzte mein Trinkgeld Lächeln auf und wünschte ihm einen schönen Eventabend. Hastig griff er nach dem Bier, legte sein Nokia beiseite und schaute an mir rauf als landete ein Ufo vor ihm. Sein offener Mund sagte alles. Endlich! Endlich! Endlich! Die Schinderei in dem Fitnessstudio, das ich viermal die Woche besuchte, hatte sich gelohnt. Den Typ schickte mir der Himmel - oder eine Agentur, was für mich aufs Gleiche raus lief.


    "Darf ich fragen, wie du heißt?", fragte er.
    "Jessica."
    "Jessy, hat dir schon mal jemand gesagt, dass du aussiehst wie ein Popstar?"
    "Nach welchem denn?", erwiderte ich.
    "Nicht nach welchem, Jessy. Du siehst aus wie Jessy der Popstar und so vom Klang deiner Stimme her kommt das ran an die Celine Dion!"
    "Celine, wer?"
    "Dion oder sagen wir, wie Whitney Houston!"
    "Kenn ich nicht!"
    "Madonna?", fragte er und riss die Augen auf. Natürlich kannte ich Madonna. Na ja, ich hatte mal was von ihr gehört. Ganz unterschiedliche Sachen. War wohl nie inner Girl Group.
    "Amy, ähh...?", hakte er nach.
    "Sie meinen echt ich klinge wie Amy Winehouse?",
    "Natürlich kann ich das nicht garantieren. Ich müsste dich bei Gelegenheit mal singen hören. Du musst wissen, ich kenne mich aus!", meinte der Onkel.
    "So? In welcher Branche arbeiten sie denn?", fragte ich.


    "Casting!" antwortete er und erzählte mir, dass er für ‚Deutschland sucht den Superstar', noch Leute suchte, die was hermachten. Ich sollte doch bitte teilnehmen. Über die ersten ein, zwei Runden könnte er mir locker hinweghelfen. Alles nur 'ne Frage der richtigen Kameraeinstellung und des Tones. Außerdem würde er Leute kennen, die in der Jury säßen. Was nicht schaden dürfte. Ich sollte so Hotpants Geschichten wie Kylie Minouge anziehen und was Hochhackiges, das die Beine schön lang machen würde und bei ihm für Probeaufnahmen vorbei schauen. Der Rest wäre eine Sache von Fleiß und Ausdauer. Klar, ohne Fleiß kein Preis.


    Ich bin neunzehn. Ich denke, das ist meine letzte Chance. Wenn ich das nicht schaffe, schlafe ich mit meinem Ausbildungsleiter ohne Kondom oder Pille zu benutzten.

  • von Bell



    Voigt schließt zögerlich die Tür hinter sich, geht auf den roten Sessel zu, lässt sich langsam nieder, rutscht hin und her, bis er die richtige Position gefunden hat und nickt schließlich, die Hände im Schoß, Herrn Dr. Steiner zu.


    „Da sind wir also wieder, Herr Voigt. Dann erzählen Sie mal, Sie sagten am Telefon etwas von einem Traum.“


    „Ich wollte Ihnen noch einmal danken, Herr Steiner, dass Sie mich so kurzfristig dazwischen geschoben haben. Ich weiß ja, dass Sie das nicht mögen.“


    „Schon gut. Also, erzählen Sie mir von dem Traum und warum er Sie so erschüttert hat.“


    „Ja gut. Ich fange ganz von vorne an.“ Voigt reibt sich das Kinn und starrt eine Weile an Dr. Steiner vorbei. Dann räuspert er sich, sieht dem Doktor in die Augen und nickt. „Ganz von vorn...


    Es ist also später Nachmittag. Ich gehe durch die Straßen, weil mich die letzte Therapiesitzung nicht loslässt.“


    „Weil ich Sie dazu gebracht habe, über Ihre Unfruchtbarkeit zu sprechen.“


    „Genau. Ich gehe also so umher und frage mich: ‚Wieso ich? Wieso ich und nicht dieser Doktor‘?“


    Dr. Steiner zieht die Brauen hoch, schaltet sich aber nicht ein.


    „‘Wieso nicht er?‘‚ denke ich also und dann habe ich eine Idee. Ich gehe zur nächsten Telefonzelle und schlage das örtliche Telefonbuch bei Steiner auf. Es gibt vierzehn Steiners hier. Ich fange oben an. Ich frage: ‚Sind Sie verwandt mit Herrn Doktor Martin Steiner?‘ Der vierte Eintrag ist es dann. ‚Ja, ich bin seine Tochter.‘ antwortet mir die junge Stimme. Ich bin so aufgeregt, dass ich auflegen muss.“


    Dr. Steiner sieht Voigt durchdringend an. Der wendet den Blick ab und schaut aus dem Fenster, während er weiter redet.


    „Ich muss schnell handeln, denke ich, bevor ich es mir anders überlege. Ich kenne die Adresse, es ist ganz in der Nähe, also laufe ich los. Ich klingle unten bei einem anderen Namen, es wird mir gleich die Tür geöffnet, ohne Fragen. Ich gehe durch das Treppenhaus und finde den Namen Steiner in der zweiten Etage.“


    Jetzt ist es Dr. Steiner, der in seinem Sessel hin und her rutscht. Er hält die Neugier jedoch zurück.


    „Ich klingle und jemand öffnet, eine junge Frau, klein, dünn, dunkles Haar, mehr kann ich nicht erkennen, denn ich lege in dem Moment, als ich einen Fuß in ihre Wohnung setze, die Hände um ihren Hals und drücke zu, gleichzeitig muss ich ihre Tritte abwehren, es ist sehr nervenaufreibend und anstrengend und ich bin heilfroh, als sie sich nicht mehr bewegt und ich nach Hause kann.“


    Dr. Steiner sieht schnell zu seinem Schreibtisch hin und atmet auf, als er die Fotografie seiner Tochter darauf sieht.


    „Ich gehe nach Hause, da passiert es dann: Meine Frau liegt auf der Couch und murmelt: ‚Versager ... impotent ... jemand Neues ...‘ Später sagt sie: ‚War doch nur ein Traum.‘ Aber ich weiß, sie wird mich verlassen, solche Träume haben doch etwas zu bedeuten! Dabei hatte ich doch schon wieder gedacht: ‚Alles halb so wild, der Doktor hat auch keine Kinder!‘“

  • von Seestern



    Spanninger zählte die Streifen der Schlafzimmertapete und atmete auf, als der Wecker klingelte.
    17.386.
    Er stieg schwerfällig aus dem Bett und markierte den 17.386sten Streifen mit Bleistift.
    Gestatten: Spanninger. Insomnambule. Streifenzähler.
    Immerhin aufregender, als die Decke anzustarren und darauf zu warten, dass die Straßenlaternen ausgingen und die Vögel ihr Morgenlied anstimmten.
    Spanninger schlurfte ins Bad, stellte sich vor den Spiegel und kniff sich fest in beide Wangen. Die roten Flecken, die daraufhin aufflammten, bildeten einen unangenehmen Kontrast mit seinem fahlen Teint, passten aber zu den blutunterlaufenen Augen, die ihm aus dem Spiegel entgegen glotzten.


    „Der Chef möchte Sie sehen.“
    Die Sekretärin stellte Spanninger einen Espresso auf den Schreibtisch und schenkte ihm ein mitfühlendes Lächeln.


    „Herrgott noch mal, Spanninger! Was ist bloß los mit Ihnen?“
    Das Gebrüll des Chefs drang wie in Watte gepackt an Spanningers Ohr. Dieses wattige Empfinden begleitete ihn seit Wochen.
    „Wenn sich nicht bald etwas ändert, sehe ich mich gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen! Und jetzt gehen Sie an die Arbeit. Und versuchen Sie wenigstens, heute keine Fehler zu machen!“
    Spanninger wandte sich mit hängenden Schultern zur Tür.
    „Ach, und noch was: Ihre Kunden übernimmt bis auf weiteres der Kollege Neuner. Sie sehen ja aus wie Hingekotzt. Eine Zumutung ist das!“


    Mit Hilfe zahlreicher Espressi überstand Spanninger auch diesen Arbeitstag. Der Termin, von dem er sich erhoffte, was Ärzte, Medikamente und autogenes Training nicht geleistet hatten, war um Fünf.


    Die alte Dame, die ihm die Tür öffnete, sah anders aus, als erwartet.
    Spanninger hielt nach einer schwarzen Katze oder esoterischen Accessoires Ausschau. Er schnupperte nach dem Duft von Räucherstäbchen. Nichts.
    „Wir haben einen Termin. Mein Name ist …“
    „Spanninger. Ich weiß. Lassen Sie uns gleich zur Sache kommen.“
    Sie bat ihn herein.
    „Es gibt nur eine Möglichkeit.“
    Sie reichte Spanninger einen bläulich schimmernden Stein und wies ihn an, diesen eine Nacht lang unter sein Kopfkissen zu legen. Danach sollte er ihn „verschenken“.


    Einen Monat später betrat Spanninger mit einem flotten Liedchen auf den Lippen das Büro. Letzte Nacht hatte er von sonnenüberfluteten Bergwiesen geträumt.
    „Der Chef möchte Sie sehen.“
    Die Sekretärin rollte vielsagend mit den Augen.


    „Auf dem Schreibtisch des Chefs türmten sich die Espressotassen.
    „Hören Sie, Spanninger …
    Ich werde die nächsten Tage nicht hier sein und möchte Sie bitten, in dieser Zeit meine Kunden zu betreuen.“
    „Selbstverständlich. Es geht Ihnen wohl nicht gut. Sie sehen ja aus wie …“
    Beim Hinausgehen fiel Spanningers Blick auf die Zimmerpflanze neben der Tür, aus deren Übertopf es bläulich schimmerte.

  • von lyrx



    Sonja ist eine Frau Mitte dreißig, mit glattem, dunkelblondem Haar. "Glatt" und "Blond" bedeuten, dass ihr Haar die Qualitäten von Edelmetall besitzt. Dieses Haar wächst nicht einfach auf Sonjas Kopf, es ist verbaut und verfugt in einem Konstrukt mehrer menschlicher Existenzen, ihrer Freunde. Es dienst als glänzender Schmuck ebenso wie als tragendes Bauteil einer komplizierten Tektonik. Wäre es einmal nicht mehr vorhanden oder würde auch nur beschnitten, bräche ein architektonisches Gesamtkunstwerk der Sonderklasse zusammen. Es gäbe Tote und Verletzte. Sonjas glattes und dunkelblondes Haar schützt uns alle vor einem kollosalen Einsturz, den wir nicht überleben würden.


    Sonjas Hals nenne ich einen Schwanenhals. Darunter sind die zwei obersten Knöpfe ihrer Bluse geöffnet, und es blickt gleichmütig und zufrieden ihr blanker Ausschnitt in die Welt.


    Über dem Hals, auf ihrem Gesicht, erscheint ihr Lächeln. Es ist unpersönlich, sogar allgemein. Es richtet sich an keine Person, auch nicht an uns alle, sondern an das Leben überhaupt. Vielleicht IST es das Leben. Jedenfalls hat es mehr Bedeutung, als ein spezielles Lächeln. Es umfasst Sonjas gesamtes Dasein, nicht nur diese eine Sekunde, in der es erscheint. Zwar zieht es sich in der Landschaft ihres Gesichts nur sanft vom rechten zum linken Mundwinkel, aber zeitlich beginnt es mit dem Tag ihrer Geburt und erstreckt sich bis zum Moment ihres Todes.


    Ich kenne Sonja schon lange, länger, als mir die Person, die ihren Namen trägt, bekannt ist. Genau genommen kenne ich sie schon seit meiner Geburt. Ich bin mit dem Gedanken an sie auf die Welt gekommen. Nein, mehr: Ihr Bild trug ich mit mir herum schon Jahre, bevor ich geboren wurde. Wenn ich sterbe, dann wird sie als ein Kupferstich an meine Seele geschmiedet bleiben, wie sie es zu meinen Lebzeiten ist.


    Die Sonja, die heute Sonjas Namen trägt, ist nicht nur Sonja, sondern gleichzeitig fleischgewordene Erinnerung an eine andere Sonja, die es nicht mehr gibt. Sie trägt eine Geschichte in sich, diese Sonja, die kann sie selbst nicht erzählen, weil sie nichts von der anderen Sonja weiß. Ich aber kann diese Geschichte von ihren Lippen lesen, während Sonja glaubt, von etwas ganz anderem zu sprechen.


    Wenn ich in ihre Augen sehe, schaue ich gleichzeitig tief, tief in ihre Vergangenheit. Die ist wie ein Brunnen. Weit unten auf dem Grund ahne ich das Schimmern eines tiefen Wassers. Höre ich besonders genau hin, vernehme ich ein Plätschern, das dringt leise hoch aus einer Tiefe, von der Sonja selbst nichts weiß. Nur ich weiß, wie tief hinab es geht in ihr, und was sie verborgen hält da unten in ihrem Innern. Das ist eine Geschichte so schwer und bedeutsam, dass man sie nur in getragenen Versen erzählen könnte. Die hat kein Ende, und ihr Anfang ist eine unterirdische Quelle.


    Würde ich noch tiefer dringen in diese Frau und bis zur Quelle der Geschichte vorstoßen, was wäre dann hinter der Quelle? Nur noch ein alter, ein ewiger Traum, mein Traum vom Leben, wie es beginnt, und wie es vergeht ...

  • von Elbereth



    „Komm her mein Gott, ich tu Dir noch nichts, Himmelherrgott bleib doch stehen“, brüllt er hinter dem kleinen Mädchen mit der grünen Hose und dem blauen Anorak her, das sich inzwischen von ihm losgerissen, sich umgedreht hat und mit wehenden Zöpfen von ihm wegstürzt.
    „Gottverfluchte Göre, halt endlich an … da vorne ist die Straße, ich wollte doch nur…
    Bleib stehen!“
    Er versucht noch schneller zu laufen, aber die Kleine hat einfach einen beschissenen Vorsprung.
    Das Reifenquietschen und das Schreien und Kreischen von Passanten und Autofahrern hört er schon gar nicht mehr, als er zusieht, wie das Blau des Anoraks sich zu einem seltsam glänzenden Schwarz verfärbt, das als Kontrast zu den blonden Zöpfen sehr krass wirkt.


    Mit einem Ruck fährt er hoch, die schweißnasse Brust hebt und senkt sich in hektischen Intervallen der fiebrige Blick irrt durch den Raum, gleitet an Schattenwänden und kühlen Weiß hinab auf den Boden, den er voller Sonnenkringel in Erinnerung hatte.
    Das kleine, erschreckte Tier in seinem Inneren, das so panisch von innen gegen seine Brust flattert beruhigt sich nur langsam.
    Er schließt die Augen, sperrt alle Eindrücke die das stumpfe, graue Licht zulässt, und sinkt zurück in die Wolkenberge seines Bettes.
    Sein Atmen wird tiefer, langsamer nur noch verstecken will er sich und versuchen, den Schlaf wieder einzufangen, der sich verschreckt in eine Zimmerecke zurückgezogen hat.
    Noch ehe sich draußen die große Wolke vor die silberweiße Sichel des Mondes schieben kann, kommt er, der Schlaf.


    Das Deckenlicht erwacht kreischend wie ein großes Tier zum Leben und beißt ihm durch die geschlossenen Lider in die Pupillen.
    Er kneift die Augen fester zu.
    „Ich hatte einen beschissenen Traum heute Nacht“ er leckt sich über seine ausgetrockneten Lippen, „ich habe echt gedacht, mein Leben ist vorbei. Scheiße, warum hast Du das große Licht angemacht, Mona?“


    „Ihre Frau ist nicht hier, stehen Sie auf Herr Gräber, ich soll Sie abholen, Ihre Verhandlung ist für zehn Uhr angesetzt und wenn es nach mir geht ist Ihr Leben vorbei, Sie werden dafür bezahlen was Sie getan haben, Sie Schwein!“

  • von Leseratte87



    „Träume. Was sind schon Träume? Das Wort Traum ist ohnehin zweideutig. Man kann etwas träumen oder man hat einen Traum... Das ist alles so verwirrend. Und ich soll ein Referat darüber schreiben. Verstehst du was ich meine, Alina?“
    Ich hörte Marius schon gar nicht mehr richtig zu. Wir waren seit dem Kindergarten beste Freunde und unzertrennlich. Wie jeden Freitag saßen wir zusammen in unserem Stammcafe um über die Geschehnisse der Woche zu reden. Das taten wir schon seit Jahren. Doch mir ging gerade was anderes durch den Kopf…
    „Hallo? Jemand zu Hause? Alina!“
    Ich sah von meinen Tee auf und sah ihn mit einen entschuldigenden Lächeln an.
    „Tut mir leid, ich war gerade… wo anders.“
    „Was kann schon so wichtig sein, das du mir nicht zuhörst?“ Er zog spöttisch eine Augenbraue hoch und ich wusste das er es nicht so meinte.
    „Ich habe auch einen Traum weist du. Und damit meinte ich nicht der Traum an sich, also ein Traum, den man geträumt hat… sondern einen Traum.“ Ein tiefer Atemzug kam durch meine Nase.
    „Wobei wir ja wieder beim Thema wären…Möchtest du mir nicht sagen, was dich so verwirrt?“ er streckte seine Hand aus und legte sie auf meine.
    „Du kennst doch meinen Traum.“
    „Die Schauspielerei?“
    „Ja. Ich habe heute an dem neuen Theater einen Vorstellungstermin. Und mir ist ganz bange. Ich habe gehört wer sich dort alles vorsprechen soll. Das sind alles ganz professionelle Frauen. Dagegen bin ich doch ein Nichts…“
    „Das meinst aber auch nur du, Liebes“ Er lächelte mich aus seinen blauen Augen liebevoll an.
    „Du bist so stark. Und du hast Ergeiz. Talent. Glaub an dich! Ich tue es jedenfalls“
    Ich sah ihn in einer Mischung von gerührt und zweifelnd an. „Meinst du wirklich?“
    „Natürlich! Wer kennt dich so gut wie ich?“ Es breitete sich ein breites Grinsen auf seinen Gesicht aus.
    Jetzt lächelte ich auch. „Gut. Wenn du das sagst muss das wohl so sein“ Ich schaute auf meine Uhr. „Oje! Ich bin schon spät dran. Ich muss jetzt los, wenn ich es noch rechtzeitig schaffen will.“ Ich kramte eilig Geld aus meinem Portmonee und warf es auf den Tisch, während ich eilig meine Jacke anzog. Ich drehte mich Gedankenverloren um und wollte mich schon auf den Weg machen.
    „He! Bekomme ich wenigstens noch eine Umarmung?“ Marius stand grinsend vor mir und zog mich in seine Arme. „Ich wünsche dir viel Glück, Alina. Du schaffst das. Und selbst wenn du es nicht schaffen solltest, es gibt noch mehrere Chancen im Leben. Irgendwann wird sich dein Traum erfüllen. Da bin ich mir sicher. Und jetzt los!“
    Ich löste mich aus der Umarmung und sah ihn strahlend an. „Ich danke dir. Du bist der Beste!“
    Ich drehte mich um, als mir noch was einfiel.
    „Das wäre doch ein gutes Thema für deine Arbeit. Lebe deine Träume und nicht dein Leben. Als Beispiel nennst du eben eine Schauspielerin die die Welt erobern will.“ Ich zwinkerte ihn noch zu und nahm meine Beine in die Hand.

  • von Voltaire



    „Besonderes Antiquariat“ stand auf dem Türschild. Komisch. Dieses Antiquariat musste mir wohl bisher entgangen sein, aber für eine Neuentdeckung ist es ja nie zu spät.


    Ich trat ein.


    Unzählige Bücher, übereinandergestapelt oder nebeneinander aufgereiht, auch auf dem Boden liegend, nahmen fast den gesamten Raum ein.
    Auch die schmale Ladentheke war über und über mit Büchern vollgepackt, sodass man den kleinen Mann, der hinter der Theke stand, fast übersah.


    Der kleine Mann, die dunkle Hornbrille fiel dem Betrachter als erstes auf, schaute mich freundlich an und meinte:


    „Guten Tag. Kann ich Ihnen behilflich sein? Mal wieder auf der Suche nach dem Besonderen?“


    Ich stutzte. Woher wusste er, dass ich in jedem Buchladen „das Besondere“ suchte? Dabei schaute er mich mit einem durchdringenden, wissenden Blick an.


    Bevor ich antworten konnte, meinte er nur, er hätte da etwas wirklich Besonderes für mich, etwas, was mir sicher gefallen würde. Ich möge mich bitte einen Moment gedulden.
    Er kramte unter der Ladentheke herum und holte dann unter großen Mühen einen exakt 46,6 x 37,4 x 13,8 cm (die Maße stimmen!) großen Band hervor. „Zettels Traum“!
    Und nun wusste ich auch, warum der kleine Mann mir so bekannt vorkam. Allerdings, es konnte nicht sein. Es war absolut unmöglich. Arno Schmidt war im Juni 1979 gestorben. Wie sollte er also hier stehen und seine Werke verkaufen.


    Er lächelte.


    „Ja, ich bin es wirklich. Gestatten Arno Schmidt.“
    Konnte der Kerl Gedanken lesen? Aber er sah aus wie Arno Schmidt, es war auch die Stimme von Arno Schmidt; aber es konnte ganz einfach nicht sein. Arno Schmidt war seit 28 Jahren tot.


    „Sie können mir gern glauben, ich bin Arno Schmidt. Ich verlange natürlich nicht von Ihnen, dass Sie verstehen, was hier gerade passiert, aber seien Sie versichert, es passiert. Mein Freund, „Zettels Traum“, ist kein Buch wie jedes andere. Es ist meine Botschaft an die Literaturkritiker, an die, die kaum jemals etwas verstanden haben. Ich habe ihnen ein Buch gegeben, welches nicht interpretierbar ist und wie Sie sicher selbst schon gemerkt haben, gibt es zu diesem Buch keine einzige vernünftige Interpretation. Was es gibt, sind peinlich Erklärungsversuche.“


    Der Mann, der Arno Schmidt sein wollte, hatte sich in Rage geredet.


    „Was kostet es denn?“ Meine Stimme kam langsam wieder, trotzdem machten mir diese vier Wörter arg zu schaffen, es dauerte eine kleine Weile bis ich sie einigermaßen atemlos herauspresste.


    „Für Sie nichts!“


    Ich hatte wohl irgendwas genommen, irgendjemand musste mir irgendwas in irgendeinen Drink getan haben, das passierte doch jetzt nicht alles wirklich. Arno Schmidt war tot und ich war offenbar unter schwerstem Drogeneinfluss.


    Arno Schmidt, vielleicht war er es ja wirklich, wickelte das Buch in braunes Packpapier, Packpapier, dass heutzutage kaum noch benutzt wird und reichte mir das Buch mit einem ganz feinen Lächeln; ja, er war es, denn so konnte nur Arno Schmidt mit dem linken Auge zwinkern.


    „Halten Sie es in Ehren, erfreuen Sie sich daran, und bitte“, er machte eine Pause, „schreiben Sie darüber alles, aber bitte niemals einen Interpretationsversuch, auch Sie würden scheitern.“

  • von Clärschen



    „...und plötzlich wuchsen ihm Blumen aus den Ohren, können sie sich das vorstellen?“


    „Natürlisch, natürlisch ...so etwas abe isch gleisch vermütet... Was für Blümen waren es?“


    „Oh,“ Die junge Frau überlegte. „Ich glaube, sie waren rot...“


    „Waren es vielleischt ... Rosen?“


    „Tatsächlich, ich glaube es waren Rosen, rote Rosen. Sie haben recht! Sie können wirklich hellsehen, Madame!“


    „Uh, sie schmeischeln mir, chérie. Aber das war nischt schwer. Isch wüsste sofort, dass es Rosen sein müssten. Es bedeutet ... aber, oh, mon Dieu, ist es schon so spät? Es wird Zeit, chérie, isch brauche meinen Schlaf. Kommen sie doch morgen wieder, dann kann isch ihnen mehr sagen.“


    Nachdem die junge Frau enttäuscht das Zelt verlassen hatte, hängte die exotisch anmutende Gestalt in dem bestickten Zigeunerkleid ein „Geschlossen“ Schild unter das Banner auf dem es hieß:


    „Madame Onirique – Traumdeutung, Handlesen & Weißsagung“


    Dann kehrte sie ins Zelt zurück, zog die Trennplane beiseite und betrat den hinteren Teil. Dort zog sie sich das alberne Kleid über den Kopf und zum Vorschein kam ein rosafarbener Jogginganzug. Seine Trägerin setzte die schwarze Perücke ab und enthüllte eine blonde Dauerwelle. „Beim ersten Mal richtig – die kommt wieder...“
    Vor sich hin grummelnd schlurfte Uschi zum Sofa und ließ sich in die Polster sinken.
    Wie angenehm es doch war, nach einem langen Arbeitstag endlich den verfluchten französischen Akzent ablegen zu können. Eines Tages würde sie es noch verlernen normal zu sprechen, aber französischer Akzent – dass war es, was die Leute haben wollten.
    Manchmal behauptete Uschi, sie wäre von Beruf Politikerin. Und das war nicht bloß Spinnerei, sondern Uschis tiefe Überzeugung:
    Auch als Wahrsagerin kam es darauf an viel zu reden, aber im Grunde nichts zu sagen.
    Und das war lange nicht so einfach, wie die meisten Menschen dachten!
    Uschi schaltete den Fernseher an und zappte durch die Kanäle.
    Wie blöd die Leute doch sind, dachte sie bei sich, wer glaubt schon an Wahrsagerei...

  • von toRRid



    Vincent lebte in einer riesigen Villa. Die Auffahrt war einige Meter lang und in der angeschlossenen Garage standen zwei Luxusautos, die sein Vater abwechselnd benutze. Vincents Vater arbeitete als Leiter eines Großkonzerns. Wegen seines Jobs war Vincents Vater sehr selten zu Hause und hatte dementsprechend wenig Zeit für Vincent. Dafür hatte Vincent alles vom Fernseher im Zimmer bis zum Pool im Garten und wenn er es nicht hatte, konnte sein Vater es ihm kaufen. Seine Mutter ist bei seiner Geburt gestorben und eine Haushälterin hielt die Villa sauber. Geschwister hatte Vincent keine und deshalb war es im Haus meist totenstill. Ab und zu lud er sich Freunde ein, aber oftmals war er alleine zu Hause, weil er sich für seinen materiellen Besitz schämte, denn dieser konnte nicht über Vincents wahre Verlangen hinweg täuschen.
    Vincent träumte von Zuneigung und Geborgenheit.


    Frank lebte in einem großen Mehrfamilienhaus. In ihr lebten fünf Familien und vor dem Haus standen drei kleine Autos, die meistens nicht gefahren wurden, weil das Benzin immer teurer wurde. Seine Eltern hatten keine Arbeit und seine beiden kleinen Schwestern lebten mit ihm in einem Zimmer, weil die Wohnung für getrennte Zimmer zu klein war. Franks Eltern waren jeden Tag im Jahr zu Hause. Beide kümmerten sich voller Liebe um ihre Kinder. Franks Familie hatte wenig Geld und sie musste an allen Ecken und Enden sparen. Frank mochte seine Eltern sehr und immer wenn er Probleme hatte, konnte er zu ihnen kommen. Allerdings fand er es sehr anstrengend und nervig, dass die Wohnung immer überfüllt von Menschen war, denn seine Freunde konnte er deswegen nicht oft einladen. Außerdem lud er sie sowieso nicht gerne ein, weil seine Eltern diese ebenfalls mit Fürsorge überhäuften, sie hatten ja nichts anderes im Leben. Doch diese Fürsorge konnte nicht über Franks wahre Verlangen hinweg täuschen.
    Frank träumte von finanzieller Sorglosigkeit und Freiheit.


    Vincent und Frank lebten in der selben Stadt , waren in der selben Schulklasse und waren beste Freunde, aber keiner verstand die Träume des Anderen.

  • von Oryx



    Mein Kopf war noch etwas benebelt als ich zum Waschbecken schlurfte.
    War wohl doch etwas viel gewesen gestern. Ich sah in den Spiegel und erkannte mich kaum wieder. Definitiv werde ich nie wieder Cocktail mit der grünen Fee trinken! Ich war mindestens fünf Jahre gealtert und hatte enormes Kopfweh.
    Vorsichtig sah ich mir durch den Spiegel das Bad an.
    Es ähnelte nicht im Geringsten meinem, die beigen Kacheln waren weinroten gewichen und auch der Duschvorhang hatte seine Farbe gewechselt. Nichts war wie es gewesen war. War ich tatsächlich bei mir zuhause? Ich wusch mir das Gesicht und blickte erneut in den Spiegel und sah dabei die nun geöffnete Türe hinter mir und den Flur, der im Wohnzimmer endete. Nichts war mehr gleich.
    Ich hörte Türen knallen und eine weibliche Stimme keifte eine männliche an, diese brüllte zurück und auf einmal hörte ich lautes, dröhnendes Gitarrenstakkato, welches die Stimmen zu verschlucken schien bis ein spitzer Schrei schliesslich alles übertönte und die Musik fast gleichzeitig versiegte.
    Ich sah wie eine Hand ein rotbeflecktes Messer aus rostfreiem Stahl aufhob und überlegte noch, ob ich mich hinter dem Duschvorhang verstecken sollte, als ich mich umdrehte.
    Ich stand wieder in meinem beigen Bad und nichts erinnerte an das, was ich vor Bruchteilen einer Sekunde wahrgenommen hatte. Die Sonne schien und auch als ich unverzüglich in den Spiegel schaute, war alles wieder normal, nur hatte ich ein paar Augenringe, was angesichts der gestrigen Party kein Wunder war. Ich zog meinen Bademantel über und ging den Flur entlang, als es an der Türe klingelte.
    So früh und noch dazu am Sonntag? Der Kurierdienst?
    Ich nahm den dickgefütterten Umschlag entgegen und schlurfte durch den Flur zurück und dann in die Küche, um ihn dort mit einer Schere zu öffnen. Dabei überlegte ich noch, was wohl darin sei. Kein Absender und auch keine Inhaltsangabe auf dem weissen Papier. Auch gut. Ich legte das A3 Ungetüm auf den metallfarbenen Bartisch und suchte in den Schubladen nach der Schere, aber fand sie nicht.
    Ich ging ins Wohnzimmer und fand die Schere auf der Anrichte unter dem grossen Spiegel. Ich blickte hinein und sah in meinen Augenwinkeln, wie eine Gestalt aus dem Zimmer flüchtete und einen Körper, der auf dem Boden lag. Ruckartig drehte ich mich um, aber wieder war alles in Ordnung.
    Leicht verunsichert ging ich in die Küche zurück und schnitt den weissen Umschlag auf. Es fielen eine CD und ein schmales Stahlmesser, beide in einer Plastiktüte verpackt und mit Etiketten versehen, heraus. Als ich sie genauer ansehen wollte, hörte ich eine Stimme im Bad, die meinen Namen rief. Ich ging hinein und eine Frau, die mir unbekannt war, sah mich aus dem Spiegel an. “Bitte nehmen Sie beide Dinge noch nicht aus den Tüten! Erst in sechs Jahren. Und ziehen Sie hier nicht aus!”, flehte sie mich an. “Verkaufen Sie sie wenigstens nicht an den Gitarristen.” Ich schluckte, hatte ich doch die Wohnung erst letzten Freitag meinem hochmusikalischen Bruder versprochen.

  • von Prombär



    Ich bin ein Monster. Ein Ungeheuer. Ein Mensch.
    Ich bin der Schrecken der Nacht. Ich bin nicht real, aber immer existent.
    Ich bin ein Einbrecher. Ich komme einmal, manchmal zweimal, manchmal jede Nacht.
    Ich stehle den Menschen ihre Lebensfreude, ihre Nachtruhe, ihr Glück.
    Ich bin gierig, ich bin unersättlich. Riesengroß, ich bin ein Monster.
    Ich bin ein HengeyMkai, ein Metamorph, ein Gründer.
    Ich bin ein Clown, ich bin ein Künstler. Jongliere mit den Ängsten, tanze Seil auf jeder Furcht.
    Ich bin das Omega, bin der Schatten. Nie das Alpha, nie das Licht.
    Ich bin diesseits vom Bösen und jenseits des Heils. Ich bin der Feind und nie der Freund.
    Ich bin die Sintflut, das Verderben. Nicht der Krug, nur mal die Scherben.
    Nur ein Ausgang und kein Weg. Nie ein Stillstand, ihr versteht. Nur ein Halt.
    Ich bin ein Bumerang. Ich komm zurück.

  • von Tom



    Die Nena-Fraktion war offiziell deutlich kleiner als die Kim Wilde-Fraktion, aber ich vermutete, dass es einigen meiner männlichen Mitschüler ähnlich ging wie mir: Sie polterten zwar gegen die Nena-Anhänger, waren aber ebenso in Susanne Kerner aus Hagen verliebt wie ich. Okay, vielleicht hatten sie nicht heimlich die Bravo gekauft und einen Starschnitt gebastelt, der unter einer Kollektion hochklappbarer Judas Priest-Poster über dem Bett hing. Aber Nena verkörperte all das, was wir von Mädchen erhofften. Sie war nicht viel älter als wir, sah süß aus, hatte eine tolle Stimme. Sie war berühmt. Und man verstand sogar, was sie sang. Technisch jedenfalls. Einige Textzeilen meines Lieblingsliedes, zum Beispiel „Mein Kopf tut weh mach die Augen zu. Ich lieg' im grünen Gras und erzähl dir was“, waren mir nach wie vor ein Rätsel.


    Kloppi, mein Busenkumpel, hatte die Karten geschenkt bekommen. Kloppi hieß eigentlich Andreas Klopmann, aber seit einem Fahrradunfall, bei dem ihm der linke Arm verstümmelt worden war, nannte er sich selbst so. „Bin eben ein Kloppi“, sagte er, wenn ihn jemand fragte, dann wedelte er mit dem verkürzten Unterarm, und alle sahen verschämt zu Boden.
    Kloppi war ein ehrlicher Nena-Anhänger. Er trug sogar ein Nena-T-Shirt. Jeder andere wäre dafür gehänselt worden, aber Kloppi mit seinem Schlenkerarm hatte einen Sonderstatus.


    Es war mein erstes Konzert. Wir standen brav an, bis Kloppi sich vordrängte und vor einem Ordner mit seinem Arm wedelte. Auf diese Art kamen wir in die erste Reihe, direkt an die Absperrung. Hinter uns drückten Tausende schreiender Jugendlicher, bis das Licht ausging und das Intro zu „99 Luftballons“ ertönte. Zwei Stunden später war ich heiser und völlig fertig mit der Welt, und ich konnte kaum erwarten, nach Hause zu kommen, die Poster wegzuklappen und mit Nena und meiner rechten Hand Liebe zu machen.
    Auf dem Weg zur Bushaltestelle kamen wir am Bühnenausgang vorbei. Da standen ein paar Bodyguards und ein Haufen Fans. „Laß uns mal gucken“, sagte Kloppi und schlenkerte uns bis vor die Stahltore. Ein Leibwächter musterte die Fans, dann nickte er einigen Leuten zu. Kloppi schlenkerte wieder, und auch wir wurden reingenickt. Wir schlurften staunend in den Backstage-Bereich, zehn andere, Kloppi und ich. Und dann standen wir vor ihr. Sie war kleiner als auf der Bühne, aber irgendwie noch viel süßer. Und sie lächelte mich an. Mich. Plötzlich saß ich neben ihr, sie nahm meine Hand, lächelte wieder, und dann beugte sie sich zu mir und küsste mich so lange auf den Hals, bis ich bewusstlos wurde. „Es geht um dich in diesem Lied“, waren die letzten Worte, die ich hörte.


    Als ich erwachte, sah ich als erstes das Gesicht von Rob Halford. Ich zwinkerte, blickte um mich, es war mein eigenes Bett und keine Nena weit und breit.
    „Wie war’s?“ fragte meine Mutter am Frühstückstisch.
    „Ganz okay“, sagte ich.
    „Was hast du denn da gemacht?“ fragte sie und beugte sich zu mir.
    „Wo?“
    „Na da.“
    Sie zeigte auf meinen Kragen.
    Ich stand auf und ging zum Flurspiegel.
    Am Halsansatz blühte ein riesiger Knutschfleck.

  • von bartimaeus



    Legt ihr euch nachts zum Schlafen nieder
    Und schließt die Augen, um zu ruhn,
    So zieh ich meine Runden wieder;
    Ein Traumwicht hat nun viel zu tun.


    Ich bin ein wundersames Wesen,
    Das einsam durch die Nächte streift
    Und ohne vieles Federlesen
    Sich heimlich eure Träume greift.


    Ich lese Träume wie ihr Bücher,
    Ich sammle und behüte sie,
    Pack sie in weiche Wattetücher
    Und stürze euch in Amnesie.


    Denn wenn in frühen Morgenstunden,
    Wenn Dunkelheit dem Lichte wich,
    Euch die Erinnerung ist entschwunden,
    Dann hattet ihr zum Gaste mich.

  • von Sinela



    „Guten Morgen. Es ist 9:05 Uhr und Sie hören Radio Sonnenschein. Am Mikrophon sitzt wie immer um diese Zeit Ihr Tristan Bauer. Heute möchte ich die Sendung mit einer Fragerunde eröffnen: Von was träumen Sie? Ich meine nicht die Träume, die Sie während des Schlafes haben, sondern Ihre Wünsche und ihre Sehnsüchte. Lassen Sie mich, lassen Sie ganz Norddeutschland daran teilhaben. Und da blinkt das Telefon auch schon: Hallo, wer ist dran?“
    „Hier ist Rudolf aus Hamburg. Ich träume von einer schnuckligen Blondine mit großer Oberweite, die mir jeden Wunsch von den Augen abliest und mir nicht widerspricht.“
    „Tja, mein lieber Rudolph, das ist doch wohl wirklich reine Illusion. - Hallo, welchen Traum haben Sie?“
    „Ich sehne mich nach einem netten Mann und zwei lieben Kindern. Am liebsten ein Junge und ein Mädchen.“
    „Aha, und wer spricht da?“
    „Oh, tut mir leid, das hatte ich ganz vergessen: Julia aus Bremen.“
    „Na, diese Sehnsucht müsste doch zu stillen sein. - Und der Nächste.“
    „Lars aus Lübeck. Mein Wunsch wäre ein Sechser im Lotto, mit dem ich den Jackpot diese Woche knacken würde.“
    „Ha, das kann ich gut nachvollziehen. 7 Millionen wären ein gutes Ruhepolster, mit dem man sich weitere Träume erfüllen könnte. - Und wer ist jetzt dran?“
    „Hier ist Jasmina aus Hannover. Weißer Sand, blaues Meer, sich im Wind wiegende Palmen – das wäre mein absoluter Wunschtraum.“
    „Wollen Sie auswandern?“
    „Ach du meine Güte, natürlich nicht. Ich will dort drei oder noch besser vier Wochen Urlaub machen. Karibik oder Florida oder irgendwas in der Art.“
    „Na, das müsste doch machbar sein, oder?“
    „Nee, ich bin seit zwei Jahren arbeitslos, da ist Urlaub überhaupt nicht drin.“
    „Ist jetzt vielleicht eine dumme Frage, aber warum träumen Sie dann nicht zuerst mal von einem gut bezahlten Job?“
    „Äh, da habe ich noch gar nicht dran gedacht....“
    „Aufgelegt. Das war Jasmina jetzt wohl peinlich. Dabei hat wohl schon jeder von uns bei einem Problem nicht gleich an das Naheliegenste gedacht. Und der nächste Wunsch.“
    „Hier ist Eva aus Kiel. Ich träume davon, dass Gott alle meine Gebete erhört.“
    „Mit diesem wunderschönen Satz beende ich die heutige Telefonrunde. Und jetzt wieder etwas Musik. Sie hören .....“


    Helen stellte das Radio ab. Ob diese blöde Nuss am Schluss überhaupt wusste, was für einen Wunschtraum sie da hat? Sie hatte sich von Gott sehnlichst ein Kind gewünscht und dafür gebetet, bis ihr Rosenkranz qualmte. Und Gott hatte ihren Wunsch erfüllt und ihr ein Baby namens Multiple Sklerose geschenkt. Hatte nicht irgendjemand mal gesagt – wer hatte sie vergessen-, dass Gottes größtes Geschenk unerhörte Gebete sind? Dem konnte sie nur zustimmen. Ihr Mann und die Kinder waren weg, dafür war der Rollstuhl ihr ständiger Begleiter geworden. Sie brauchte bei fast allen Dingen des täglichen Lebens Hilfe. Ihr sehnlichster Wunsch war Gesundheit, einfach nur wieder gesund sein. Alles machen können – so wie früher. Aber das würde wohl nie Wirklichkeit werden, sie würde für den Rest ihres Lebens in ihrem persönlichen Alptraum gefangen sein.

  • von Ida



    Wir liegen nebeneinander im Gras und sehen den Wolken zu.


    „Die da sieht aus wie ein Hund!“, behauptet sie und zeigt in die blauweiße Weite.


    „Nein, das ist eher ein Drache.“ Ich kneife die Augen zusammen, um ihn besser erkennen zu können. „Der Schwanz hat Zacken ... und die kleinere Wolke vorne könnte das Feuer sein, das er spuckt.“


    „Okay, dann ist es ein Drache!“


    Die anderen Wolken sehen nicht aus wie irgendetwas anderes als Wolken.


    „Woran denkst du?“, fragt sie, richtet sich auf und stützt ihren Kopf in die Hand. Ihr T-Shirt ist verrutscht, und ich kann ihre Schulter sehen. Die Haut ist glatt und schimmert bronzefarben bis auf den hellen Streifen von ihrem Bikiniträger. Sie streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr und sieht mich an.


    „An nichts Besonderes.“ Unmöglich, ihr zu sagen, dass ich an sie denke, in beinahe jedem Augenblick. Wir sind befreundet, seit wir zusammen im Sandkasten gespielt haben und kennen uns unser ganzes Leben lang. Die Jungs in der Schule träumen von ihr, aber sie ist am liebsten mit mir zusammen. Ich weiß nicht, wie lange noch. Und ich denke an das Holzkästchen mit den eisernen Beschlägen, das ich für sie gemacht habe. Es hat sogar ein Schloss mit einem winzigen Schlüssel. Mein Vater sagt, das sei schon fast ein Gesellenstück. Sie liebt Schätze und Geheimnisse. Ich werde ihr das Kästchen geben. Bald. Es gab nur noch nicht die richtige Gelegenheit.


    „Und du? Woran denkst du?“


    Sie hat sich wieder hingelegt und zeigt auf ein Flugzeug, das hoch über uns einen hellen Streifen zieht und den Himmel teilt.


    „Ich wäre gerne dort oben“, sagt sie, „und würde in andere Länder fliegen, rund um die Welt. Ich möchte so viel kennenlernen und erleben! Vielleicht gehe ich auch auf ein Kreuzfahrtschiff ... Auf jeden Fall bleibe ich nicht hier in diesem Kaff, wo nie etwas passiert!“


    Das sagt sie oft. Ich fürchte mich vor dem Tag, an dem sie es wahr macht.


    „Oh, sieh mal, ein Marienkäfer! Der ist für dich!“ Sie hält mir die Hand mit dem Käfer hin. Ich berühre sie mit dem Zeigefinger und lasse den Marienkäfer zu mir krabbeln. Ihre Hand ist kühl und viel zarter als meine.


    „Und du? Weißt du nun, was du später machen willst?“


    „Ich werde hier bleiben und irgendwann die Schreinerei von meinem Vater übernehmen.“


    Ihre Augen weiten sich. „Das ist doch kein Beruf für eine Frau!“


    „Für mich schon“, sage ich und sehe zu, wie der Marienkäfer auf meiner Fingerkuppe ein paarmal seine Flügel aufklappt, um die richtige Startposition zu finden und sich schließlich von einem Luftzug davontragen lässt.

  • von flashfrog



    Es gibt einen Berg, auf dem seit Urzeiten ein weißer Drache liegt und schläft.
    Rührt er sich beim Träumen nur ein wenig, dann gibt es eine Lawine. Aber gewöhnlich ist er recht friedlich. Im Dorf wurde erzählt, dass dieser Drache den Eingang zu einer Höhle bewacht, in der sich Schätze von unermesslichem Reichtum finden. Einen jungen Burschen, der diese Geschichte gehört hatte, ließ sie nicht los. Nacht für Nacht malte er sich aus, was er mit Gold und Silber in Hülle und Fülle alles anstellen könnte. Und so beschloss er, auf den Berg zu steigen, den Drachen zu töten und den Schatz zu erobern.
    Den gefährlichen Aufstieg hatte niemals jemand aus dem Dorf gewagt, und unser Held wäre auch beinahe einmal abgestürzt. Aber er hatte Glück. Und tatsächlich fand er zwischen den gewaltigen Klauen des Drachen den Eingang zu einer Höhle.
    Er wollte dem Drachen gerade seinen Spieß ins Herz stoßen, da erwachte der und hob den Kopf, und da donnerte eine ungeheure Lawine zu Tal.
    Der Bursche hatte sich zwar in die Höhle retten können, aber auch deren Eingang war nun von Schnee und Eis versperrt. Von sehr weit oben drang Licht in die Höhle, deren Wände von Kristallen nur so glitzerten und funkelten. Aber obwohl ein geschickter und ausdauernder Kletterer, hier war er verloren, aussichtslos war es, zu dem Licht zu gelangen, und so blieb ihm nichts übrig, als sich in Geduld zu üben und zu warten, bis der Schnee schmelzen und den Eingang freigeben würde.
    Als es Nacht wurde trat plötzlich die Gestalt einer Frau aus dem Felsen hervor. Ihre Haut war aus Mondlicht, ihr Haar aus Quellwasser, ihre Kleider aus Sommerwind, sodass ihn nicht mehr fror, und ihre Stimme war rein wie ein Bergkristall. Viele Nächte kam sie zu ihm und lehrte ihn alles über die Sterne, über die Pflanzen und die Tiere, und über die Liebe.
    Dann war eines Tages das Eis, das den Eingang der Höhle versperrte, geschmolzen und die weise Frau hatte sich in Felsen zurückverwandelt. Als er aber aus der Höhle trat und hinunter ins Tal stieg, waren sieben mal sieben Jahre vergangen und er fand das von der Lawine zerstörte Dorf schon von Gestrüpp überwuchert.