Afterdark - Haruki Murakami

  • Originaltitel: Afuta daku
    Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe

    Hörbuch: Deutsche Grammphon
    5 CDs, Laufzeit: 330 min. gelesen von Ulrich Matthes


    Handlung (Amazon):
    Geschichten zwischen Mitternacht und Morgengrauen, die sich in unseren Fantasien weiterspinnen.
    Afterdark - nach einer Jazznummer - heißt der neueste Roman von Haruki Murakami. Und: Afterdark ist das spannungsvolle Buch einer Nacht, erzählt wie durch das Auge einer Kamera. Diese streift über das Panorama der nächtlichen Großstadt: Leuchtreklame und digitale Riesenbildschirme, Hip-Hop aus Lautsprechern, Ströme erlebnishungriger Angestellter und weißblonder Teenager in Miniröcken. Wie mit einem Zoom beobachten wir die Orte nächtlicher Handlungen, die sich dramatisch verbinden und entfalten. Wir begegnen dem jungen Mädchen Mari mit einem Musiker in der Filiale einer Restaurant-Kette sowie der Geschäftsführerin eines Love-Hotels, in dem gerade eine chinesische Prostituierte von einem Freier misshandelt wurde. Wir sehen im 24-Stunden-Supermarkt einen Büroangestellten, wie er das Handy der Chinesin aus dem Love-Hotel in ein Kühlregal legt. Und wir haben die Videoüberwachung bemerkt und dass ihm bereits der Zuhälter auf der Spur ist. Außerdem betritt der junge Musiker diesen Supermarkt und hört das fremde Handy läuten, während das wunderschöne Mädchen Eri, die Schwester von Mari, seit Monaten ununterbrochen schläft.
    Afterdark bleibt voller Geheimnisse. Am Ende der sich überstürzenden und mysteriösen Ereignisse schickt uns Haruki Murakamis beunruhigende Prosa in den Tag zurück.


    Über den Autor laut Random House:
    Haruki Murakami, geboren 1949 in Kioto, studierte Theaterwissenschaften und Drehbuchschreiben in Tokio. 1974 gründete er den Jazzclub „Peter Cat“, den er bis 1982 leitete. In den 80er Jahren war Murakami dauerhaft in Europa ansässig (u. a. in Frankreich, Italien und Griechenland), 1991 ging er in die USA, ehe er 1995 nach Japan zurückkehrte. Murakami ist der international gefeierte und mit den höchsten japanischen Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein Roman "Gefährliche Geliebte" entzweite das Literarische Quartett, mit "Mister Aufziehvogel" schrieb er das Kultbuch seiner Generation. Ferner hat er die Werke von Raymond Chandler, John Irving, Truman Capote und Raymond Carver ins Japanische übersetzt.


    Zum Sprecher:
    Ulrich Matthes ist in Berlin geboren, Schauspieler und Hörbuchsprecher. Er las auch schon Murakamis langes Buch Mister Aufziehvogel.
    Weiterhin las er Die Vermessung der Welt, Middlesex, Der englische Patient, Klassiker von Camus, Hesse u.a.


    Meine Meinung:
    Bei diesem Kurzroman erzeugen die einzelnen Episoden, der in einer einzigen Nacht handeln, das Gefühl des Miterlebens in Echtzeit.
    Das Gefühl wird auch durch die drehbuchartige Erzähltechnik vermittelt, indem der unsichtbare Erzähler den Leser mit in eine anstrengende Kameraperspektive setzt und so eine Distanz schafft. Diese eigentliche kalte Perspektive wirkt bemüht und vojuristisch. Ich vermisse Haruki Murakamis frühere Leichtigkeit. Ich vermute, dass die Hörfassung diesen Eindruck noch verstärkt.
    Einen Ausgleich schaffen die beiden jungen Protagonisten Mari und Takahashi und die Dialoge, die realitätsnah und echt wirken. Diese Plaudereien haben schon fast Fontan´sche Ausmaße, werden aber dann immer intensiver. Ihre Themen kreisen um ihre eigene Wahrnehmung, um Ängste, um Vergangenheit und Zukunft, um Maris ständig schlafende und schöne Schwester Eri und auch um Jazz. Maris und Takahashis Innenleben und ihre seelischen Qualen der Einsamkeit und Melancholie werden langsam, aber dann immer mehr aufgebrochen.


    Ulrich Matthes liest routiniert, aber zur düsteren Stimmung der Handlung und dem speziellen Murakami-Ton passend. Besonders gut ist er bei den Dialogen. Er liest nuanciert und erlaubt sich auch Pausen, wenn es notwendig ist. Sein Tempo ist der Geschichte angemessen.


    Hilfreich sind die Angaben im Booklet zu den Spielzeiten der einzelnen Tracks. Das sorgt für eine bessere Orientierung beim Hören in kleinen Hörabschnitten.


    Nicht schlecht, aber für Murakamiverhältnisse auch kein Highlight.

  • Der Meinung von Herrn Palomar schließe ich mich an.
    Vordergründig möglicherweise eine Liebesgeschichte zwischen Mari und Takahashi, kann man das Buch auch als Kriminalroman, Roman über das Erwachsenwerden, als Gesellschaftssatire oder phantastische Erzählung lesen (wobei „Roman“ – das ist an anderer Stelle schon gesagt worden – für das schmale Bändchen möglicherweise etwas hoch gegriffen ist). Wer sich mit Murakami befasst, lässt sich aber auf einen spezifischen Begriff der „Wirklichkeit“ ein, bei dem die Handlung jederzeit das konkret Greifbare, Materielle verlassen und ins Phantastische, Surreale, gelegentlich Alptraumhafte geraten kann. Und so sind die „harten Fakten“, an die sich der Leser in „Afterdark“ klammert (z.B. die sorgfältig den einzelnen Kapiteln vorangestellte Uhrzeit: „23:56“, „23:57“, …) allesamt nur scheinbare Rettungsinseln des Verstandes.
    Hauptthema von „Afterdark“ scheint mir das Rätsel der schlafenden Eri und ihres ruhelosen männlichen Counterparts Shirokawa (dt. „weißer Fluß“) zu sein. Beide entwickeln ein jeweils eigenes, perfektes System der Verriegelung gegenüber der Außenwelt. Doch während Eri in letzter Konsequenz als Opfer erscheint, sondert sich Shirokawa, der Täter, bewusst immer weiter in der gefühlskalten Mechanik seines Alltags ab.
    „Afterdark“ ist wegen seines überschaubaren Umfangs (237 Seiten in der TB-Ausgabe) gut für eine Stippvisite in das Gedankenreich des japanischen Autors geeignet. Eingebettet in die futuristische Welt des heutigen Tokyo mit seinen 24-Stunden-Shops, Love-Hotels und durchgestylten Cafehausketten zeigt er, wohin es führt, wenn seine Bewohner ihre Menschlichkeit – bewusst oder unbewusst – fahren lassen. Und was man dagegen tun kann.
    Zum Hörbuch kann ich nichts sagen, da ich nur das Taschenbuch gelesen habe.
    Fazit: Lesenswert. Von mir 6 Punkte.