Die Vereinigung jiddischer Polizisten - Michael Chabon

  • Verlag Kiepenheur&Witsch, 2008 erschienen, Gebundene Ausgabe



    OT: The Yiddish policemen union
    Aus dem Amerikanischen von Andrea Fischer


    Kurzbeschreibung:
    Sechzig Jahre lang haben jüdische Flüchtlinge und ihre Nachkommen den Distrikt Sitka in Alaska aufgebaut und sich nach dem Holocaust und dem Zusammenbruch des Staates Israel im Jahre 1948 eine eigene kleine Welt erschaffen: eine Grenzstadt, in der das Leben trotz der klimatischen Widrigkeiten pulsiert und in der Jiddisch Umgangs- und Amtssprache ist. Doch jetzt soll der Distrikt an Alaska zurückfallen und sich die Geschichte wiederholen - erneut droht den Juden Vertreibung und Heimatlosigkeit.
    Aber Meyer Landsman vom Morddezernat hat noch andere Probleme als die bald anstehende "Reversion". Seine Ehe ist am Ende, er trinkt und steckt auch beruflich in einer Sackgasse: Nicht mal die Hälfte der Fälle ist gelöst. Sein neuer Chef ist seine Exfrau, und in dem billigen Hotel, in dem er wohnt, wurde ein Mord begangen. Das Opfer ist ein ehemaliges Schach-Wunderkind, und Landsman beginnt mit seinen Untersuchungen aus bloßer Routine und mit dem Gefühl, dass er dadurch vielleicht noch etwas gutmachen kann. Doch als von ganz oben die Anweisung ergeht, dass der Fall sofort zu den Akten gelegt werden soll, ermittelt Landsman mit seinem Partner auf eigene Faust und gerät tief in eine Welt, in der politische Ziele und religiöser Wahn eine gefährliche Allianz eingehen.


    Zum Autor:
    Michael Chabon wurde 1963 in Washington DC geboren und wuchs in Columbia, Maryland auf. Seine Arbeiten erschienen im New Yorker, Harper’s, GQ, Esquire und Playboy und zahlreichen Anthologien. Er lebt heute mit seiner Frau und seinen Kindern in Berkeley.


    Meine Rezension:
    Dieser amerikanische Roman ist offensichtlich von Philip K. Dicks Alternativweltroman The Man in the high Castle (deutscher Titel Das Orakel vom Berg) beeinflusst. Dabei kommt aber nicht das Gefühl eines Plagiats auf wie bei Robert Harris Vaterland, sondern Michael Chabon schafft etwas Eigenständiges, dass nur nebenbei auch noch eine Hommage an Alternativwelt und hardboiled bildet.
    Der Inhalt und wie der Roman stilistisch geschrieben ist, kommt hart und direkt auf den Leser rüber.
    Neben einem düsteren Science Fiction Plot sind vor allem die Elemente des klassischen Krimi noir enthalten.
    Sentimental und pessimistisch ist nur der Protagonist Detektiv Meyer Landsman, nicht der Roman. Das macht ihn zu einem so gelungenen Werk.


    Der Mordfall, in dem Landsman zusammen mit seinem Kollegen Berko Shemets mehr unfreiwillig ermittelt, bestimmt einen Großteil der Handlung. Die angekündigte Vertreibung der Juden aus Alaska steht drohend im Hintergrund und trägt zu dem fatalistischen Verhalten der Beteiligten bei. Nur wenige Wochen wird die Mordkommission noch bestehen. Zum Teil gilt das fatalistische daher auch für Landsmans Vorgesetzten, ausgerechnet seine Ex-Frau, Brina von der er getrennt lebt. Dieser Teil der Handlung hat seinen eigenen Witz und trägt mit spitzen Streitgesprächen zu einem Quäntchen Humor in dem Roman bei, der die obskure Handlung erträglich macht.
    Ansonsten gibt es auch einige Passagen, die nicht leicht zu lesen sind, ein Teil der Handlung ist ziemlich verwirrend und der Leser muss hier ein wenig bis zum Finale durchhalten. Deswegen bleibt vorerst noch „The Amazing Adventures of Kavalier and Clay“ mein favorisiertes Buch von Chabon, aber „Die Vereinigung jiddischer Polizisten“ folgt dicht darauf.

  • Hab' das Buch vor Kurzem auf Englisch fertig gelesen. Ich brauchte zwei Anläufe - wie du richtig bemerkst, muss man sich hier und da durchbeißen - spätestens im letzten Drittel gab's dann aber kein Halten mehr. Wirklich empfehlenswert.

  • Detective Meyer Landsman lebt in einer Welt, die es hätte geben können, wenn sich der Vorschlag des amerikanischen Staatssekretärs für Inneres Harold L. Ickes in den 1938 hätte durchsetzen können: Alaska ist zur Heimstatt der aus Europa emigrierenden Juden geworden, zur Hauptstadt ist in diesem Entwurf Sitka geworden, das Millionenstadt ist. Allerdings steht die Auflösung des jüdischen Staates unmittelbar bevor. Meyer Landsman wird noch für zwei Monate Polizist sein. Was danach kommt, ist ihm ohnehin egal, da sowohl seine Ehe zerrüttet ist als auch seine Karriere nicht mehr vorankommt. Er flüchtet sich in den Alkohol. In dieser Situation wird im Hotel "Zamenhof", in dem Landsman wohnt, ein junger Mann erschossen aufgefunden, der sich unter dem Namen eines berühmten Schachspielers - Emanuel Lasker - im Hotel eingeschrieben hatte. Bald wird jedoch die wahre Identität des Jungen klar: es handelt sich um Mendel Shpilman, einziger Sohn des fanatischen Rabbi Shpilman, der auf Verbov Island vor der Küste Alaskas einen mafiös-religiösen Parallelstaat aufgebaut hat. Als Meyer dieser Spur folgt, kommt ans Tageslicht, dass Mendel Shpilman viel mehr als nur ein begabter Schachspieler war, was die Ermittlungen alles andere als einfacher werden lässt.


    Michael Chabon wurde zu diesem Roman inspiriert durch eine kuriose Begebenheit: Er kaufte sich 1993 eine Wiederauflage aus der Wörterbuch-Reihe "Say it in..." von Uriel und Beatrice Weinreich: "Say it in Yiddish". Die Existenz dieses Buches war für ihn ein derart absurdes Faktum, dass er sich in einem Artikel für Harper's Magazine eine Welt ausdachte, in der es Verwendung für solch ein Buch gäbe: Eine Welt, in der tatsächlich Jiddisch gesprochen würde, etwa ein Europa, in dem der Holocaust nicht stattgefunden hätte - oder eben ein Alaska nach dem Ickes-Plan. Tatsächlich gab es 1958 für "Say it in Yiddish" durchaus Verwendung, so wurde Chabon nach seinem Artikel mitgeteilt. Jiddisch wurde etwa im Israel der 50er durchaus noch verbreitet gesprochen. Es gab aber nicht nur informative, sondern auch böse Stimmen, die ihm vorwarfen, sich über das Verschwinden der Sprache lustig zu machen. Chabon gibt zu Protokoll, diese Kränkung zum Anlass genommen zu haben, einen gut recherchierten Roman zu schreiben: The Yiddish Policemen's Union.


    Herausgekommen ist ein alternative history-Roman, der mit Dicks The man in the high castle nichts zu tun hat. Um den Ausgang des Zweiten Weltkriegs geht es hier nämlich nur sehr bedingt - wir erfahren darüber auch nichts Alternatives -, nur insofern er für die Besiedlungspläne Alaskas von Belang war. Der Krimiplot ist nicht immer ganz schlüssig, schwer zu verstehen fand ich ihn allerdings an keiner Stelle, die Erzählung schreitet recht linear fort. Die Beziehung Meyers zu seiner Chefin und Exfrau Bina stand mir phasenweise zu sehr im Vordergrund. Sie war weder besonders originell noch interessant gestaltet. Überhaupt ist Chabon nicht der brillanteste Schöpfer von Figuren. Die meisten Protagonisten wirken altbekannt und tausendmal gelesen. Ausnahme ist die Familie Shpilman, die mir, obwohl recht knapp beschrieben, bei weitem am interessantesten erschien.
    Über die Hintergründe des Personals erfährt man wenig, nur häppchenweise, was für den Krimiplot notwendig ist. Dafür werden endlose Seiten auf sinnentleerte Nickligkeiten zwischen Berko und Meyer/Meyer und Bina/Berko und Willie usw. verwendet, die eigentlich nirgends hinführen. Das Buch hätte gut und gern 100 Seiten kürzer sein dürfen.


    Alles in allem stört der Krimi an dem Buch. Ich weiß nun wieder, warum ich Krimis nicht lese, die meisten Krimiautoren konzentrieren sich so sehr auf den Fall, dass das Personal einfach nur langweilig wird. Bei den anderen fragt man sich meist, wozu der Fall eigentlich da ist. Bei Chabon ist das ganz ähnlich. Die alternative history ist für die Handlung dabei wichtig genug, um das Buch dennoch interessant werden zu lassen. Es geht um große Themen wie Messianismus und um Welpolitik, wobei vor allem ersteres zwar etwas kurz und ballastreich, aber dennoch nicht uninteressant behandelt wird.


    Chabon schafft so einen Spagat, der sowohl Krimilesern als auch Interessierten an alternative history durchaus einiges bietet, der aber durch den Spagat auch ein bisschen länglich und an manchen Stellen instabil und überdehnt erscheint.


    EDIT ISBN-10 eingefügt


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  • Ich lese zwar sonst kaum Krimis, aber dieses Buch hat mir erstaunlich gut gefallen (was man schon mal daran sieht, dass ich es nach nicht mal 24h gelesen hatte :grin). Am Anfang hatte ich zwar erstmal Probleme in die Handlung reinzukommen, aber danach las es sich eigentlich flüssig und blieb auch bis zum Ende spannend.
    Empfehlenswertes Buch!

    "Es gibt einen Fluch, der lautet: Mögest du in interessanten Zeiten leben!" [Echt zauberhaft - Terry Pratchett]

  • Ich bin nur 100 Seiten weit gekommen, aber das hat mir gereicht: Denn bis dahin lässt Chabon kaum ein Klischee in seinem Krimi aus. Der Prot hat natürlich private Probleme in Form einer Trennung, seine Ex wird - na logo - auch noch seine Vorgesetzte, wie jeder Bilderbuchheld weist er einen überrraschenden Schwachpunkt auf usw usw.
    Die Aufklärung des Falls bekommt einen ersten Anstoß durch einen zufällig gefundenen Hinweis; diesen führt der Autor durch eine Idee ein, die so in jedem zweiten Computerspiel-Adventure bereits verwurstet wurde.
    Nun war auch Richard Morgans guter SF-Krimi "Das Unsterblichkeitsprogramm nicht frei von bereits öfter dagewesenen Handlungselementen. Doch Morgan bietet eine fetzige, schnell und originell erzählte Story, bei Chabon findet sich neben dem lahmen Krimi nur eine Familiengeschichte auf Soap-Niveau, und das Alternativweltszenario ist kaum der Rede wert.

  • Ich bin zwar erst zur Hälfte durch, muss mich aber immer wieder zwingen, das Buch wegzulegen, um den Tagesgeschäften nachzugehen.
    SciFi ist eigentlich gar nicht mein Genre, aber das Buch ist eigentlich auch nicht das, was ich unter SciFi verstehe. Die Atmosphäre ist düster, fast depressiv (Sitka erinnert mich sehr an Batcity), aber dennoch stimmig, die Klischees des einsamen Wolfes mit Alkoholproblemen sind gekonnt überspitzt und die Geschichte einfach hervorragend ausgedacht.
    Die Krimihandlung selbst scheint bisher eher im Hintergrund zu laufen, ist aber ausreichend präsent, um mich als Krimifan auch in dieser Hinsicht auf meine Kosten kommen zu lassen.
    Ich freue mich schon aufs weiterlesen.


    So, ich bin nun durch und vielleicht liegt es einfach nur daran, dass ich keine Adventure-Computerspiele spiele und auch noch nie einen alternative world Roman gelesen habe, dass ich dieses Buch ausgesprochen interessant fand.
    Die Idee, den Staat Israel scheitern zu lassen und statt dessen so was ähnliches in Alaska zu gründen, finde ich zumindest originell, zumal mit jiddisch als Amtssprache, was ja auch für Israel bei seiner Gründung durchaus eine Option war. Diese Idee ist im Roman konsequent umgesetzt und führt zwangsläufig zu einer politischen Dominanz des aschkenasischen Zweigs des Judentums mit all den seltsamen Verwicklungen, die sich daraus ergeben.
    Auch den Kommissar, der sich am liebsten dem Slibowitz hingibt (und nicht etwa Bourbon) fand ich keineswegs klischeehaft, zumindest nicht über die beabsichtigte Klischeehaftigkeit hinaus.
    Der Roman hat durchaus seine Schwächen, in Summe hat er mir aber einige schöne, witzige, nachdenkliche Lesestunden bereitet

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

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  • Der Messias der Metaphern


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    Im Jahr 1940 stellte Roosevelts Innenminister Harold L. Ickes einen verwegenen Plan vor, um der humanitären Katastrophe zu begegnen, auf die aus Europa flüchtende Juden in aller Welt zusteuerten. Er schlug vor, einen Teil Alaskas als jüdisches Territorium auszuweisen und den Migranten dort eine neue Heimat zu bieten, wenigstens vorübergehend.


    Michael Chabon hat in diesem sperrig betitelten Geniestreich, der zuweilen leider als „Kriminalroman“ gehandelt wird, Ickes‘ Idee aufgegriffen und den Zweiten Weltkrieg insgesamt ein wenig anders ausgehen lassen. Deshalb ist in seiner Version aus der verwegenen Idee ein Status Quo und aus diesem ein Dauerzustand geworden, jedenfalls für 60 Jahre.


    Viele hunderttausend jüdische Menschen leben in der Region Sitka, einer Inselgruppe im Westen von Alaska. Meyer Landsman ist einer von ihnen. Landsman ist 42 Jahre alt, geschieden, Polizist, etwas fettleibig, Raucher und Säufer. Und eher Atheist. Er lebt für die Arbeit und von ihr - er gilt als sehr guter Polizist, aber als nicht besonders angenehmer Zeitgenosse. Wenn er nicht arbeitet, beschädigt er seinen Körper. Landsman lebt im schlimmsten Hotel von Sitka, einer Absteige namens „Zamenhof“.

    Doch in knapp zwei Monaten wird die so genannte Reversion stattfinden. Wieder einmal steht den Juden die Diaspora bevor, denn nur wenige werden nach der Rücknahme der Sonderregelung in Sitka bleiben dürfen. Während die meisten in großer Sorge sind, geben sich vor allem die ultraorthodoxen Sekten, die in ihren abgesicherten Gebieten leben, eigentümlich entspannt.


    Und dann wird ein Toter gefunden, ausgerechnet im Zamenhof, also Meyer Landsmans hassgeliebtem Zuhause. Der Mann wurde erschossen - ein junger, etwas verwahrloster Mann, offenbar ein Junkie, und ein Schachspieler, denn in seinem Besitz befanden sich ein kleines Reiseschachspiel und ein Schachbuch, außerdem war der Mann unter dem Namen eines berühmten Spielers eingecheckt. Doch der Tote war zwar, wie sich bald herausstellt, ein mehr als exzellenter Schachspieler, aber kein berühmter, sondern der Sohn des orthodoxen Rabbi Heskel Shpilman aus Sitka.

    Und er wurde als der kommende Messias gehandelt.


    Während ihm ausgerechnet seine Exfrau für die letzten zwei Monate als Chefin vorgesetzt wird, schnappt sich Landsman seinen Partner und Schwager, den Indianer, der zum Judentum konvertiert ist. Und wie es vorherzusehen ist, offenbart sich den Polizisten beiden alsbald eine ziemlich mächtige Verschwörung, deren Ziel im fernen Nahen Osten liegt. Nebenbei geht es um Schach, amerikanische Politik, die Liebe, Freundschaft und jüdische Eigenarten.


    Während man dieses Buch liest, wird einem kalt und man fühlt sich unsauber. Chabon vermittelt die Atmosphäre so anschaulich und eindringlich, dass man Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Gerüche, Windbewegungen, Niederschlag und Geräusche beim Lesen wahrzunehmen meint. Ungeheuer detailreich und unfassbar fantasievoll entwirft der Autor Schauplätze und Schicksale, zaubert eine noch originellere Figur und ein noch abgefahreneres Szenario nach dem anderen aus dem Ärmel.

    Aber die Krönung ist Chabons Sprache. Er schafft nicht nur das Kunststück, einen von jiddischen Formulierungen und Begriffen - von denen einige auch Erfindungen des Autors sind - durchsetzten Roman hochgradig lesbar zu halten, nein: Er ist ein Meister der Metaphern, ein Symphoniker der treffenden Sprachbilder, ein Virtuose der Vergleiche. Seine Bücher sind ja ohnehin allesamt über jeden Zweifel erhaben, aber ausgerechnet in diesem weniger populären und anfangs sicherlich nicht leicht zu erschließenden Text präsentiert sich Michael Chabon in einer sprachlichen Form, die einem schlicht die Füße wegreißt. Wer nicht schon ein Fan war, wird mit diesem Buch einer, und wer Chabon, wie ich, bereits vorher als gottgleich empfand, muss sich überlegen, welche Stufe der Anbetung dem noch folgen kann. Hinzukommt - natürlich -, dass die Geschichte großartig, vielschichtig, erhellend, liebenswürdig, facetten- und wissensreich ist. Das einzige, das man an diesem Buch bemängeln kann, ist wirklich nur der Titel.