Der Tote auf der Schaukel – Cynthia Harrod-Eagles

  • Cynthia Harrod-Eagles: Der Tote auf der Schaukel, Originaltitel: Gone Tomorrow, aus dem Englischen von Susanne Aeckerle, München 2008, dtv, Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-21077-5, Taschenbuch, 413 Seiten, Format 12 x 19 x 2,8 cm, Euro 8,95 [D] 9,20 [A] sFr 15,90.


    Auf einem Spielplatz in Sheperd’s Bush wird ein Toter gefunden, ein junger Man, teuer gekleidet, ohne Papiere – aber mit mehr als 1.000 Pfund Bargeld in der Tasche. Jemand hat ihm einen Stich mitten ins Herz versetzt und ihn dann auf einer Kinderschaukel drapiert. „Sieht aus wie einer von den exklusiveren Rausschmeißern“, findet Detective Sergeant Hollis.


    Der Parkwächter, der den Toten gefunden hat, hat den Mann nie zuvor gesehen. Sagt er. Die Fingerabdrücke des Ermordeten sind auch nicht in der Datenbank, also scheint er keine Vorstrafen zu haben. Wer ist er?


    Das Auffälligste an dem jungen Mann ist seine ungewöhnliche Lederjacke. Woher stammt sie? Aus dem Ausland? Polizist Atherton klammert sich an jeden Strohhalm und zeigt die Jacke seinem Schneider, der mit Kennerblick aufs Etikett feststellt, dass das edle Stück aus den USA kommt und nie für den Export bestimmt war. Ist der Mann Amerikaner? Und war er vielleicht kurz vor seinem Ableben in eine Kneipenschlägerei im „Phoenix“ verwickelt? Der zeitliche Ablauf würde passen, und auch seine Verletzungen sprechen dafür. Doch Kneipenwirt Sonny Collins kann nicht mit Sicherheit sagen, ob der Mann an der Auseinandersetzung beteiligt war. Von dem anderen Prügelknaben, einem gelegentlichen Gast, kennt er immerhin den Vornamen: Eddie.


    Wenn Eddie sich mit dem Unbekannten geprügelt hat, hat er ihn vielleicht auch erstochen. Und wenn nicht, weiß er hoffentlich wenigstens, wer der Mann ist.


    Eine Spur gibt es zum Glück schon: Im Zockermilieu kennt man den Toten als den „glücklosen Lenny“ und man weiß, dass er mit einer Prostituierten namens Teena zusammen gelebt hat. Nachname? Adresse? Fehlanzeige! Das ist in diesem Milieu entbehrlich. Detective Inspector Bill Slider und seine Kollegen ahnen, dass ein hartes Stück Arbeit vor ihnen liegt. Wie soll man herausfinden, wer den Mann auf der Schaukel umgebracht hat, wenn man nicht einmal weiß, wer er ist? Und wenn man in einem Umfeld ermitteln muss, in dem niemand darauf erpicht ist, mit der Polizei zusammen zu arbeiten.


    DI Slider, derzeit Strohwitwer, weil seine Lebensgefährtin Joana im Ausland arbeitet, riskiert einen Schuss ins Blaue und bittet die Prostituierte Nichola um ein paar Informationen. Viel weiß sie nicht. Aber sie kennt den prügelnden Eddie, sogar mit Nachnamen: Eddie Cranston. Und sie kennt zumindest eine der Frauen, denen er einen Teil ihrer Sozialhilfe abschwatzt: Karen Peacock. Karen ist nicht die einzige Frau, von der Eddie sich aushalten lässt, und die Damen sind auch nicht eine einzige Einnahmequelle, doch das ist alles, was Nichola darüber sagen kann. Immerhin!


    Eddie Cranston hat ein Vorstrafenregister – und eine Adresse, unter der er nicht zu erreichen ist. Dass er eine weitere Freundin namens Carol Ann hat, erfährt die Polizei von Karen Peacock. Auch vom „glücklosen Lenny“ hat Karen schon gehört, doch seinen Nachnamen kennt auch sie nicht.


    In diesem Stil geht es weiter: Winzige Informationskrümel aus der Halb- und Unterwelt führen erst zu Eddie Cranston – der nur die Prügelei mit Lenny zugibt, mit dessen Tod aber nichts zu tun haben will – und schließlich zu Lenny selbst. Der Buchmacher Herbie Weedon gibt der Polizei überraschend Auskunft: Er hatte Lenny Baxter auf seiner Lohnliste. Nun hat der Tote eine Namen und eine Adresse – und eine spurlos verschwundene Freundin, die offenbar in fliegender Hast die gemeinsame Wohnung verlassen hat. Ist Teena in Gefahr, weil sie zu viel weiß?


    Der Kleinganove Billy Cheeseman bittet DI Slider um ein Treffen und bringt den zwielichtigen Geldeintreiber Everet Boston mit. Boston hat nicht nur Informationen über Lenny Baxter, er macht sich auch große Sorgen um seine Cousine Teena, Baxters verschwundene Lebensgefährtin.


    Wie es aussieht, haben Everet Boston und Lenny Baxter für ein und denselben Boss gearbeitet, und Lenny hat nebenbei noch Geschäfte auf eigene Rechnung gemacht. Dabei ist er allerdings nicht halb so gerissen vorgegangen, wie er gedacht hat. War Lennys Tod also eine Hinrichtung? Wer der gemeinsame Boss ist, darüber schweigt Boston sich aus, zu groß ist seine Angst. Oder erzählt er dem Beamten hier einen vom Pferd?


    Auch ein wohlbekannter Name fällt im Zusammenhang mit dem ominösen Boss: Sonny Collins, der Wirt des „Phoenix“, soll ebenfalls für ihn arbeiten. Als die Polizei Collins vorlädt, kommt er in Begleitung eines berühmten Anwalts, den er sich von seinem Einkommen als Kneipenwirt nie im Leben leisten könnte. Eine mögliche Erklärung wäre: Der Boss hat für ihn bezahlt.


    So langsam glaubt auch die Polizei an die Existenz des „Big Boss“ – spätestens als der redselige Buchmacher Herbie Weedon ermordet aufgefunden wird. Hat der Boss ihn beseitigen lassen, weil er die Polizei auf die Spur von Lenny Baxter geführt hat?


    Die Ermittlungen geraten in eine Sackgasse. Da meldet sich ein amerikanischer TV-Journalist, der Lenny Baxter gekannt hat. Er war es, der ihm die amerikanische Lederjacke verkauft hat – und noch drei weitere derselben Marke. Da seine Geschäfte mit Baxter allesamt nicht ganz koscher waren, hat er so lange gezögert, sich bei der Polizei zu melden. Jetzt ergibt auch die Beobachtung einen Sinn, die Athertons Schneider gemacht haben will: Der Fahrer eines seiner Kunden, des vermögenden Geschäftsmanns Trevor Bates, trägt genau die gleiche Jacke wie das Mordopfer.


    Bates ist aalglatt und behauptet, seinem Fahrer die Jacke selbst aus den USA mitgebracht zu haben. Die Polizei glaubt ihm nicht. Bates’ Butler sieht eher wie ein Bodyguard aus. Und womit der Geschäftsmann sein Vermögen gemacht hat, ist auch nicht so ganz klar. Was weiß man zum Beispiel über seine Zeit in Hongkong? Ist Bates vielleicht der Big Boss?


    Es hat zumindest den Anschein, als kämen die Ermittlungsarbeiten der Polizei dem unbekannten Boss gefährlich nahe, denn Herbie Weedon ist nicht der letzte Tote in diesem Fall. Wer redet oder auch nur zu viel weiß, wird liquidiert. Der Boss scheint nervös zu werden.


    Je dichter die Polizisten dem geheimnisvollen Boss auf den Pelz rücken, desto spannender und dramatischer wird die Geschichte. Wenn dann am Ende alle Informationskrümelchen, die die Ermittler zusammengetragen haben, am richtigen Platz sitzen, ergibt sich ein überraschendes Bild ...


    Akribische Ermittlungen, winzige Fortschrittchen, Kollegengezicke und Machtkämpfe im Polizeirevier, jede Menge Nebenfiguren, private Probleme der Polizisten, Zeugen und Verdächtigen – diese realitätsnahen, sehr britischen Kriminalromane mit ihren filigran verästelten Handlungssträngen muss man schon mögen, um sich für den Toten auf der Schaukel begeistern zu können. Wer unbedingt Action braucht, dem wird es vermutlich zu lange dauern, bis die raffiniert konstruierte Geschichte zu ihrer verblüffenden Auflösung kommt. Wer sich auf die Story einlässt, wird mit intelligenter Krimi-Unterhaltung belohnt, bei der man nicht schon auf Seite 7 ahnt, wer der Mörder ist.


    Manchmal allerdings lenkt die manirierte Sprache vom Geschehen ab. Mehrseitige Befragungen in indirekter Rede lesen sich recht befremdlich, unnatürlich und umständlich und tragen nicht unbedingt zu Tempo und Spannung bei: „Und er habe sich nie ein anderes Mädchen kommen lassen? Auch Sassy nicht? – Nein, Gott sei Dank. Er möge keine großen Mädchen, habe Susie gesagt. Er wolle nur Susie. Zuerst habe sie nicht erzählt, worauf er stand, aber über die Monate hätten sie mitbekommen, dass sich Susie nicht auf die Besuche freute. Sie wäre dann still und irgendwie deprimiert geworden, wenn sich der Tag näherte (...)“ (S. 362)


    Auch die Polizisten reden manchmal so merkwürdig papieren und geschwollen daher: „Wenn du aus frevelhaften Gründen in den Park einbrechen würdest, kämst du dann auf die Idee, das Vorhängeschloss und die Kette mitzunehmen? Oder würdest du sie, nachdem du sie durchgeschnitten hast, einfach liegen lassen?“ (S. 25) Das klingt mehr nach Bühne als nach Polizeirevier. Oder sind die britischen Polizisten um so vieles vornehmer als ihre deutschen Kollegen?


    Unübersetzbare Wortspiele sind ein Schicksal übersetzter Bücher. Warum sich die Polizisten an einer Stelle so über den Namen „Bates“ amüsieren, erschließt sich erst, wenn man auf Englisch um die Ecke denken kann – oder wenn man eine Internet-Suchmaschine befragt. Schon lästig, wenn man über einen nicht verstandenen Witz nachgrübelt, nach eventuell überlesenen Hinweisen sucht und sich dadurch aus der Handlung reißen lässt.


    Sieht man von den etwas schrulligen Sprachmarotten ab, hat man einen clever konstruierten Kriminalroman mit überraschenden Wendungen und einer sich ständig steigernden Spannung. Kurz gesagt: gute Unterhaltung.


    Die Autorin:
    Cynthia Harrod-Eagles wurde am Schauplatz ihrer Bill-Slider-Krimis in Sheperd's Bush im Westen von London geboren. Sie studierte Englisch, Geschichte und Philosophie. Ihren ersten, mit dem Young Writers Award ausgezeichneten Roman schrieb sie 1972. Berühmt wurde sie mit ihrer Morland-Saga. Die Autorin lebt in London mit ihrem Mann und drei Kindern.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner