Es ist spät, ich kann nicht atmen. Ein nächtlicher Bericht - Mario Wirz

  • Diese Erzählung ist ein Klassiker, sie erschien erstmals 1992. Mario, Autor, Ich-Erzähler und zu einem beträchtlichen Teil tatsächlich das ‚Ich’ in diesem Text, lebt seit fünf Jahren mit der Diagnose HIV positiv. Der ‚Viruswolf’, wie er es nennt, hat sich bei ihm eingenistet und frißt alles weg, was mit Gesundheit zu tun hat. Mario steht kurz vor dem Ende.


    Übernächtigt und hellwach zugleich begibt er sich, ein nächtlicher Detektiv, auf Spurensuche. Er versucht zu ergründen, wie er in diese Situation kam. Was war es, das ihn, krank auf den Tod, nach Neukölln brachte in die kleine Wohnung, in der er sich eingeigelt hat, so, als läge er schon im Sarg. War es eine Herkunft aus einer muffigen hessischen Kleinstadt, das Stigma des unehelichen Kindes in den späten fünfziger Jahren, seine Homosexualität? War er verdammt, anders zu sein? War es sein Hunger nach Sex, war es Liebe?
    Die Gedanken springen hin und her, früher, heute. War er feige oder einfach unterentwickelt, ist er ein ewiges Kind mit einer unstillbaren Sehnsucht nach einem übermächtigen Vater und einer heilen Welt oder mußte er scheitern in einer Gesellschaft, die für ihn nur den Platz des ‚Anderen’ hatte?


    Er versucht zu verstehen, schwankt zwischen Selbstvorwürfen und Anklagen. Aus manchen Passagen springt eine Verzweiflung aus jeder Zeile an. Es entsteht ein bedrückendes Bild über ein Leben als schwuler Junge und schließlich Mann, in dem der Protagonist aus dem Zwang heraus, sich verbergen zu müssen, die Verstellung zur höchsten Kunst erhebt, so sehr, daß er am Ende selbst nicht sicher ist, wer er eigentlich ist. Gibt es ihn oder ist er ein bloßes Bild aus der Vorstellung der anderen, die er zugleich nährt?


    Zugleich ist die Erzählung die Geschichte seiner Liebe, voller Wärme und Schönheit, die bleiben, auch wenn die Beziehung zu Ende ging.
    Das Ganze ist ein sehr persönliches Dokument, eine Lebensgeschichte. Sie brachte dem Buch beim ersten Erscheinen den Vorwurf ein, Betroffenheitsliteratur zu sein.


    Die Erzählung ist alles andere als das. Sie hat weit mehr Ebenen. Homosexualität ist nur ein Teil davon. Sie ist der Ausgangspunkt zu einer Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen, an erster Stelle die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit. Das ist es, wogegen Mario wütet. Daraus ergibt seine wilde Forderung: jemand soll ihn vor dem Tod retten. Aber alle versagen. Auch die Liebe versagt. Die Grunderkenntnis eines Daseins. Trotzdem brauchen wir sie und suchen sie unablässig. Das ist nur eines der Spannungsverhältnisse, um die es hier geht.


    Was diesen Text so beeindruckend macht, ist, daß der Erzähler nie blind wütet. Immer versucht er, auch die anderen zu verstehen. Was kann man ihnen zumuten, wo sind ihre Grenzen? Es gibt schmerzliche Einsichten, etwa die, daß selbst Betroffene kein Gemeinschaftsgefühl entwickeln. Egoismen, Kleinlichkeiten, falsche Träume prägen uns und bestimmen unser Handeln. Trotzdem verurteilt er letztlich nie, er will verstehen. Da man den Tod nicht verstehen kann, bliebt er an einer anderen alten Frage hängen: was ist der Mensch?


    Klarsichtig und eindringlich versucht hier ein Autor einen Sinn zu finden, seinen Sinn. Ein Dokument, eine Autobiographie und zugleich eine großartig formulierte Beschreibung dessen, was das Leben ausmacht.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Danke für die tolle Rezi, magali. Ich habe es mir gerade bestellt.

    ...und jetzt erst gelesen. Lange bin ich um das Buch geschlichen und habe es nicht zu lesen gewagt, als ich erfahren habe, dass Mario Wirz 2013 verstorben ist.

    Ich kann magali in allen Punkten ihrer Rezension zustimmen.

    Mit dem Autor verbindet mich einen Teil meiner ganz persönlichen Lese-Biografie, vieles, was Wirz in diesem Buch schmerzt, liest sich in späteren Gedichten als überwunden.

    Dennoch ist es ein Buch von allgemeiner Gültigkeit. "Der Viruswolf" hat Mario fest im Würgefriff, das Ringen nach Atem ist in jeder Zeile spürbar. Ich konnte beim Lesen sowohl den Durst nach Leben, Liebe und Geborgenheit als auch die zupackende Angst vor dem einsamen Sterben nachvollziehen.

    Eine ganz persönliche Leseempfehlung.



    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin