Schreibwettbewerb Dezember 2008 - Thema: "Horizont"

  • Thema Dezember 2008:


    "Horizont"


    Vom 01. bis 20. Dezember 2008 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb Dezember 2008 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.


    Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!

  • von Elisa



    Er blickte sich nie um. Immer war sein Blick nach vorn gerichtet. Niemals würde er in der Vergangenheit leben. Immer weiter. Ich konnte kaum mit ihm mithalten, doch meine Sorge trieb mich an.
    Ich spürte die Veränderung, die ihn ergriff. Mit jedem Meter, den er hinter sich ließ und weiter zum Gipfel des Berges vordrang, ließ er den König hinter sich und wurde wieder der Knabe, der sich so nach der Freiheit sehnte.
    Er war gefangen von seiner Besessenheit, schien die Kälte um sich nicht mehr zu spüren. Seine starren Hände lösten den Griff um den dicken Pelzmantel. Er flog mir entgegen, doch er zögerte nicht einen Moment, wollte nur weiter hinauf. Immer weiter. Ich war unfähig seinen Namen zu rufen. Ich konnte nichts tun, als ihm zu folgen.
    Wir gelangten auf eine Anhöhe. Uns schlug der eisige Wind entgegen. Ich keuchte auch, so sehr schmerzte es. Doch er hob nur kurz die Hand, um seine Augen vor der Sonne abzuschirmen. An seiner Hand schimmerte der Ring, dem ich ihm einst schenkte. Kurz verharrte sein Blick auf diesem Schmuckstück. Mir war als würde er zögern, doch das tat er nicht. Immer weiter.
    Plötzlich drang der Schrei eines Adlers zu mir. Ich wollte aufsehen, doch die Sonne blendete mich.
    Ein Ruf des Triumphes verriet mir, dass er ihn auch gehört hatte. Endlich hatte er die Bestätigung, die er brauchte. Vorsichtig blickte ich auf, schütze meine Augen vor der Sonne.
    Er hatte den Gipfel erreicht. Stand im strahlenden Licht der Sonne und blickte über die unendlichen Weiten des Gebirges. Ich sehnte mich danach, ihm nahe zu sein. Ich wurde schneller, doch ich verlor den Halt auf den schneebedeckten Steinen. Hart schlug ich auf die gefrorene Erde auf, doch da war etwas, dass mir Kraft gab aufzustehen. Meine Sonne. Ich stand auf und entdeckte eine Hand, die sich mir entgegenstreckte. Ich griff nach der Hand, unendlich dankbar, dass er seinen Triumph mit mir teilte. Wir erreichten den Gipfel. Hatten menschliche Augen jemals solche Schönheit gesehen?
    Wenige Meter vor mir stand er, den Blick fest auf den Horizont gerichtet. “Eine Welt der Titanen.”, wisperte er und strich sich die Kapuze zurück. Seine blonden Locken wehten im Wind. Die Sonne umhüllte ihn. Er war ein Gott. Ich hatte es schon immer geahnt, doch nun wusste ich es. Ein Gott.
    Er wollte weiter. Getrieben von seiner Sehnsucht. Doch er verharrte, gönnte sich Linderung. Ich tat einige Schritte nach vorn, an seine Seite. In seinen Augen schimmerten Tränen. Er schämte sich ihrer nicht. Unfähig meinen Blick von ihm abzuwenden, streckte ich meine Hand aus, hielt jedoch wenige Zentimeter vor der Berührung inne. Dies war nicht meine Aufgabe. Ich ließ die Hand sinken und zeigte stattdessen, dass ich da war. So wie es mir mein Schicksal befahl.
    Gemeinsam blickten wir in die Ferne, den Horizont fest im Blick. Erneut ertönte der Schrei des Adlers über unseren Köpfen. Die Berge warfen uns das Echo entgegen. Es war als würden ihn die Götter rufen.
    “Alexander…”

  • von Tinchen



    Ich segle der Sonne entgegen. Dort vorne am Horizont sehe ich schon die Umrisse unserer kleinen Insel. Dort sollte mein Mann auf mich warten. Ich sehne mich so nach ihm, wir haben uns schon 8 Monate nicht mehr gesehen. Vor 8 Monaten bekam ich die Nachricht, dass es meiner Mutter sehr schlecht gehe und ich dringend zu ihr kommen sollte. Ich habe mich natürlich sofort auf den Weg gemacht. Nun hatte sie sich wieder gut erholt und ich konnte sie unbesorgt zurücklassen.
    Der Wind beginnt zuzunehmen. Die Wellen des Meeres werden immer höher, der Kapitän des Segelbootes bekommt immer mehr Schwierigkeiten die Segel aufrecht zu halten. Der Wind wird zu einem Sturm, ja zu einem richtigen Orkan.
    Verzweifelt halte ich mich an der Reling fest. Der Kapitän brüllt seiner Crew Befehle zu.
    Mich versucht er unter Deck zu bewegen, aber ich bin so fasziniert von den riesigen Wellen und den Blitzen die vom Himmel zucken, das ich gar nicht reagieren kann.
    Dann passiert es, eine riesige Welle schwappt über das Schiff und bringt es zum Kentern. Ich werde mit ungeheurer Kraft durch die Luft geschleudert und bevor ich klar denken kann, schmecke ich schon das salzige Wasser auf meinen Lippen, im Mund, im Hals.
    Ich versuche über Wasser zu bleiben, aber werde immer wieder von den Wellen verschluckt. Meine Kräfte schwinden langsam, aber ich will nicht aufgeben. Ich bin so nah bei meinem Mann, ich muss einfach weiterkämpfen. Stunden lang hält mein starker Wille mich aufrecht. Langsam wird das Wetter besser und die Wellen werden immer schwächer bis sie ganz abflachen. Völlig entkräftet versuche ich zur Insel zu schwimmen. Ich weiß nicht wie lange ich so weiter machen kann, meine Muskeln schmerzen und mein Wille versiegt.
    Ich gebe auf, ich lasse mich einfach nur noch treiben. Meine Blicke sind auf den Horizont gerichtet, dorthin, wo ich mein Leben mit dem Liebsten was ich habe leben und einfach nur glücklich sein wollte...

  • von ueberbuecher



    Die Medikamente würden nicht mehr anschlagen. Zuviel war zu oft vergeblich probiert worden, bis sie den Eindruck hatte, die Ärzte betrachteten ihn schon gar nicht mehr als Patienten, sondern eher als ein Versuchskaninchen, an dem man selbst die abstrusesten Behandlungsmethoden noch ausprobieren durfte.
    Er würde die nächsten Tage nicht überstehen, eigentlich grenzte es schon an ein Wunder, dass er es überhaupt so weit geschafft hatte.
    Sie betrachtete seinen scheinbar leblosen Körper durch das Glasfenster der Tür. Tausende Gedanken stürmten auf sie ein und verblassten im selben Augenblick. Schmerz durchfuhr sie, wenn sie ihn so daliegen sah, hilflos, abhängig von all diesen unverständlichen monströsen Apparaturen, die über die befristete Verlängerung dessen bestimmten, was die Mediziner mit stoischer Beharrlichkeit immer noch „sein Leben“ nannten.
    Dieses stumme Dahinsiechen, dieses „am Leben gehalten werden“, was so gar nichts mit dem zu tun hatte, was man gemeinhin als Existenz bezeichnete – es war menschenunwürdig.
    Das Wachkoma dauerte nun schon acht Wochen an und sie machte sich keinerlei Illusionen. Er würde nie mehr aufwachen. Zu oft hatte sie in diese toten Augen gestarrt, während sie Stunde um Stunde vor seinem Krankenbett gesessen hatte, in stummer Verzweiflung seine Hand haltend, die letzte spürbare Verbindung zu einer Welt, die er einst gekannt und von der er ein Teil gewesen war. Nun hatte diese Welt ihn ausgespien, ihn ausgestoßen…
    Doch diese Gedanken waren nicht fair und das wusste sie auch. Es war ein Unglück gewesen, eine Tragödie, die keiner hatte vorhersehen können. Der Lastwagenfahrer, der bei dem Unfall ums Leben gekommen war, war nicht übermüdet gewesen. Er hatte alles richtig gemacht, bis…

    Der Arzt hatte ihr unter großer Anteilnahme erklärt, dass er den nächsten Morgen nicht mehr erleben würde. Sie war gekommen, um sich zu verabschieden, diesmal für immer. Sie öffnete die Tür zum Krankenzimmer und trat ein. Zumindest diese frohe Nachricht wollte sie noch überbringen. „Nina ist jetzt im Kreissaal. Keiner kann sagen, wie lange es noch dauert. Sobald das Kind da ist, bringen sie es zu Dir, damit Du es sehen kannst…“ Sie konnte nicht weitersprechen, die Tränen nahmen ihrer Stimme jegliches Volumen, sie brachte nur noch ein Schluchzen zustande. Fassungslos hielt sie seine Hand.


    Im Zimmer begann es, aufzuhellen. Sie musste wohl etwas eingenickt sein. Plötzlich öffnete sich die Tür und eine Schwester kam herein. Lächelnd fuhr sie ein kleines Babybett herein und nach einem mitfühlenden Blick auf Anna Rosenberg verließ sie kommentarlos das Zimmer. Sie lass das blaue Schildchen an der Vorderseite des Bettes. „Es ist ein Junge, Robert. Er heißt Michel. Warte, ich zeige ihn Dir.“ Behutsam nahm sie das kleine Bündel aus dem warmen Bettchen und positionierte das winzige faltige Gesichtchen vor sein starres Gesicht.
    Als die ersten Sonnenstrahlen sich auf seinen teilnahmslosen Augen brachen, glaubte sie von ganzem Herzen, ein Flackern gesehen zu haben, aber das konnte auch Einbildung gewesen sein. Sie verließ kurz das Zimmer, um das Kind zurück zu seiner Mutter zu bringen. Als sie wiederkam, hatte auch er den Raum verlassen.

  • von AsterLundgren



    „Irgendwo zwischen der Nacht und dem Morgen sehen sich Tod und Leben einander entgegen.“ Bitter und spröde waren die Worte und blieben über dem Grab im Regen kleben. Margaret weinte nicht, denn sie weinte sehr selten und nur dann, wenn niemand sie sah. Einen Kaktus hielt sie in den Händen, weil sie von Vincent angewiesen worden war, ihm bloß keine Blumen ins Grab zu werfen. Sie zerfallen allzu bald zu Staub, hatte er gemeint.


    „Zwischen der Nacht und dem Morgen sehen sich Tod und Leben einander entgegen.“, wiederholte Margaret und warf den Kaktus auf den Sarg. Polternd schlug er auf und zerriss wie eine Granate die Stille auf dem Friedhof. „Das hat er gesagt, Vincent. Er wollte am Morgen beerdigt werden, über dem Meer. In der vordersten Reihe, von wo aus man am besten zum Horizont schauen kann.“

    Sie trat zurück und wandte der Trauergesellschaft den Rücken zu. Der Himmel über dem Meer war blass vom Regen.
    Lange, sehr lange musste sie warten, bis das Grab zugeschaufelt war und auch die letzten schwarzgekleideten Menschen abzogen. „Furchtbar, so furchtbar.“, flüsterte Vincents Mutter an Margarets Seite und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Ob er seinen Frieden gefunden hat?“


    „Das hat er, ganz sicher.“ Nur das sagte sie, mehr nicht. Wie eine Statue stand sie dort, am Rand der Klippe, und bewegte sich so lange nicht, bis auch Elma verschwunden war.


    Dann schloss sie den Schirm und stieg mit ihm unter dem Arm die Felsen hinab.


    Behutsam holte sie die Urne aus der Manteltasche hervor und drehte sie zwischen den klammen Fingern. Sie hatte den Dorfpfarrer bestochen, damit er ihr erlaubte, die Asche über dem Meer auszustreuen. Natürlich hatte er einige Zeit mit sich gehadert, doch Margaret war überzeugend genug gewesen und am Ende hatte er zugestimmt.


    Elma war natürlich der Annahme gewesen, die Urne läge im Sarg. Sie hatte am Anfang ganz fürchterlich geweint, als sie von Margaret erfahren hatte, dass Vincents letzter Wunsch eine Verbrennung gewesen war. Doch er war schließlich ihr Sohn und sie musste ihm seinen Wunsch, wie schrecklich er auch sein mochte, gewähren. Als Kompromiss hatte sie einen Sarg ausgewählt und der Pfarrer war wiederum zu müde gewesen um zu widersprechen.


    „Irgendwo zwischen der Nacht und dem Morgen sehen sich Tod und Leben einander entgegen.“, hatte Vincent zu ihr gesagt. „Ich will auf dem Friedhof am Meer bestattet werden. Mit Ausblick auf den Horizont. Ich will im Sarg begraben werden, hörst du? Ich will nicht als ein Häufchen Asche enden.“


    Doch die Küste war so schön hier, der Horizont dort hinten … Sie liebte das Meer genauso sehr wie Vincent.


    Weinte Margaret? Ihr Gesicht war feucht von Regen und von Gischt. Sie zerstreute die Asche über dem Meer und stieg zum Friedhof zurück.


    Bei ihrem letzten Schritt verlor sie den Halt und fiel.


    Sie sah noch das Meer und den Himmel, an dem der Morgen näherrückte und die Nacht vertrieb.


    Margaret starb mit der Urne in den Händen, zwischen den Felsen am Strand.

  • von Leserättin



    Er konnte sich nicht erklären, was mit der Kompassnadel geschehen war. Immer stärker wich sie vom Nordstrich ab, je weiter nordwestlich die Karacke vordrang. Es war nicht die erste Schwierigkeit auf dieser Reise. Bereits drei Tage nach dem Aufbruch waren sie gezwungen gewesen, eine Inselgruppe anzulaufen, um den gebrochenen Schiffsmast der Pinta, einer der beiden Karavellen die sie begleiteten, reparieren zu lassen. Erst nach einem Monat hatten die drei Schiffe wieder in See stechen können.
    "Kapitän!"
    Der Ruf ließ ihn herumfahren. Aus seinen Gedanken gerissen, nahm er weitere Geräusche wahr, Stimmen, die sich erhoben, das Rauschen des Meeres übertönten, Holz, das auf Holz geschlagen wurde, Schreie. Mit erzwungener Ruhe begegnete er dem Blick des Jungen. "Was gibt es?"
    "Die Mannschaft meutert. Sie wollen Euch zwingen, den Kurs zu ändern. In den heimatlichen Hafen, Kapitän."
    Seit Tagen kochten Auseinandersetzungen immer wieder so weit hoch, dass es zu Beschimpfungen und oft auch zu Handgreiflichkeiten kam. Als Kapitän duldete er dieses Benehmen nur bis zu einem gewissen Punkt. Die Männer sollten sich austoben, aber jeder einzelne von ihnen war zu wertvoll für ihre Reise, als dass man ernsthafte Verletzungen riskieren konnte.
    Doch eine Umkehr kam nicht infrage. Sie würden weitersegeln, bis sie ihr Ziel erreichten. Sein Blick wanderte zur Pinta, die nun steuerbords mit eingeholten Segeln lag.
    "Kapitän?"
    Die Stimme des Schiffsjungen riss ihn erneut aus seinen Überlegungen. Er musste handeln, als oberster Befehlshaber ihrer Expedition bestand seine Pflicht darin, die Mannschaft lebend ans Ziel zu bringen. Mit schnellen Schritten überquerte er das Deck. Seemänner sprangen zur Seite, um ihm Platz zu machen.
    "Ruhe!", brüllte er, und befand sich damit sogleich im Fokus.
    "Wir wollen umkehren", ergriff Pinzón das Wort. Er war der Kapitän der Pinta, und es geschah nicht zum ersten Mal, dass er die Unruhe weiter anheizte. "Wir sind in einem Gebiet, in dem die Grundgesetze der Natur nicht mehr gelten."
    Sofort wurden hinter ihm Stimmen laut, erinnerten an all die schlechten Omen, die sie seit sie in Palos de la Frontera in See gestochen waren, erlebt hatten.
    Eine Reise ins Ungewisse musste große Angst schüren, besonders wenn man so abergläubisch war, wie die Seeleute. Das war ihm bewusst gewesen, doch mit einer Meuterei hatte er nicht gerechnet. Aber dazu würde es kommen, wenn nicht heute, dann morgen oder am übernächsten Tag.
    Gerade wollte er einen Beschwichtigungsversuch unternehmen, da schrie der Schiffsjunge auf und deutete nach oben.
    Dutzende Augenpaare folgten dem Fingerzeig. Ein Vogel.
    "Seht doch!", rief der Befehlshaber. "Wir müssen in der Nähe von Land sein. Kein Vogel entfernt sich weiter als 100 Meilen vom Ufer."
    Die Angst wich Hoffnung. In den darauffolgenden Tagen wurde diese Hoffnung weiter genährt, denn Äste auf dem Wasser deuteten ebenfalls auf eine Küste hin. Noch war sie nicht zu erkennen, aber es tat der Stimmung an Bord sehr gut.
    Eines Morgens kam endlich der erlösende Ruf. Der Kapitän lief sofort an Deck und sah, was der Junge im Krähennest bemerkt hatte; am Horizont zeigte sich ein schmaler Streifen.

  • von Sonnenblume88



    „Entschuldigung, ist hier noch ein Platz frei?“
    Ich öffne die Tür zu einem Sechserabteil, in dem alleine ein alter Mann sitzt.
    „Hier sind sogar noch fünf Plätze frei.“ Er lächelt mich an, als ich Platz nehme. Aus einem faltigen Gesicht betrachten mich zwei traurige, ausdruckslose Augen.
    „Wie alt sind Sie?“
    Ich schaue in diesen leeren Blick, der meine Person mustert.
    „Ich bin diesen Sommer 25 geworden.“
    Er greift in seine Jackentasche, und zieht ein altes schwarz-weiß Foto heraus.
    „Das ist mein Sohn.“
    Ich registriere das Zittern in seiner Stimme und schaue in das Gesicht eines jungen Mannes, der mich fröhlich aus dem Foto heraus anlächelt. Fast habe ich das Gefühl, als würde er gleich herauskommen, mit seinem Lachen die Stille in diesem Abteil füllen, lustige Geschichte erzählen und die Traurigkeit, die seinen Vater umgibt, verscheuchen. Ich schaue diesem glücklichen Blick entgegen, der so viel Neugierde und Lebenslust ausstrahlt. An der Seite des jungen Mannes seine Eltern. Ich kann den alten Mann wieder erkennen. Er schaut mit fröhlichem und stolzem Blick auf seinen Sohn. Ganz links wohl seine Frau, jung, hübsch, auch sie wirft mir einen glücklichen Blick zu. Im Hintergrund ist das Meer zu erkennen.
    „Wann war das?“
    „Das war vor 24 Jahren in Dover. Mein Sohn war damals so alt wie Sie jetzt, er hatte gerade sein Ingenieursstudium abgeschlossen und wollte nach Amerika segeln, in das Land seiner Träume.“ Er lächelt bei dieser Erinnerung, seine Augen sind in die Ferne gerichtet. Ich sehe Tränen darin.
    „Das war an dem Morgen, bevor er losgesegelt ist. Heute würde ja jeder sagen welch verrückte Idee, aber damals war das noch möglich. Er wollte mir von dort schreiben. Ich stand am Ufer und habe ihm nachgeschaut bis er am Horizont verschwunden ist. Seitdem habe ich nie wieder etwas von ihm gehört.“
    Jetzt rinnen ihm Tränen über sein Gesicht, sie sickern über die Furchen und Gerben, jede Träne, die so viel Schmerz und Trauer mit sich trägt, sie erreichen sein Kinn und fallen zu Boden.
    „Was ist mit Ihrer Frau?“
    Er schüttelt den Kopf.
    Ich schaue aus dem Fenster, als ich plötzlich bemerke, dass der Zug zu stehen kommt.
    „Oh mein Gott, München-Pasing.“
    Hektisch packe ich meine Sachen, reise die Abteiltür auf, murmle ein hastiges „Auf wiedersehen“ und renne hinaus. Eigentlich wollte ich dem Mann noch sagen wie leid mir das alles tut, ihm Mut machen, dass es hinter dem Horizont weiter geht, dass es nicht aus ist, dass es noch Hoffnung gibt. Aber ich muss ja gehen.


    Zwei Tage später verschlucke ich mich beinahe an meinem Kaffee, als der Kopf dieses Mannes in der Zeitung abgebildet ist.
    „Wer kennt diesen Mann?“ Mit einer schlechten Vorahnung lese ich den Artikel, schüttel den Kopf, kann es nicht glauben. Tränen laufen mein Gesicht herunter, unaufhaltsam. Er hatte sich das Leben genommen – wahrscheinlich waren sie jetzt wieder vereint. Ich schließe die Augen, ich sehe die beiden Augen des alten Mannes vor mir. Aus ihnen war der Schmerz und der Kummer entwichen – ersetzt durch Hoffnung.

  • von Voltaire



    Lieber Vater,
    ich verstehe es nicht. Ich versuche dir in die Augen zu schauen – aber du schaust weg. Ist mein schlechtes Gewissen zu deinem schlechten Gewissen geworden? Willst du meine Schuld auf dich nehmen? Willst du mir mein Versagen aufzeigen?
    In meiner Trauer hatte ich auf dich gehofft.
    Ich hätte dich an der Seite gebraucht.
    Kann es sein, dass auch du nur Worte redest, Worte um der Worte willen?
    Kann es sein, dass auch du nur blendest? Eventmässig versaut?
    Du hast die Macht – sie aber auch zu missbrauchen!
    Weißt du eigentlich wie es ist zu sterben, Vater? Weißt du eigentlich wie es ist die Mittel zur Hilfe in der Hand zu haben, sie aber nicht zu benutzen, Vater? Weißt du eigentlich wie es ist verlassen zu werden, Vater?
    Nein, Vater – du weißt nichts. Gar nichts weißt du.
    Gerade bin ich schweinemässig sauer auf dich!
    Vater! Erinnerst du dich an unser Gespräch? Erinnerst du dich als dich fragte was das Ziel sei, wo der Sinn läge?
    Natürlich erinnerst du dich!
    Deine Antwort war mir nicht begreiflich.
    Meine Geburt schaut auf den Horizont – meinen Tod.
    Da Streifen dazwischen, zwischen Geburt und Tod – das wäre das Leben. Nur, man erreicht es nicht.
    Na ja - wenn du meinst!
    Widerspruch ist nicht so mein Ding. Du wirst wissen was du machst, was du anrichtest.
    Nun – bin ich müde – muss schlafen – muss dich vergessen – muss laufen – muss ihn erreichen – den Horizont – den Streifen – das Leben.
    Mir ist klar, begriffen hat niemand – nichts. Ich – übrigens auch nicht.
    Was übrigens zu erwarten war.
    Vater, bitte deck mich jetzt zu – ich möchte schlafen.......

  • von arter



    Den Ranzen gepackt,
    die Schuhe geschnürt.
    Den Frust eingesackt,
    keinen Schmerz mehr gespürt.


    Das Leben verlassen
    die Einsamkeit suchen,
    Was richtig war hassen
    Und das was gut war verfluchen.


    Refrain:
    Wer kann verstehen dass Seelen sich scheiden
    viel zu lang vor der Zeit?
    Willst Du sehen wie Parallelen sich schneiden
    in der Unendlichkeit?
    (in der Unendlichkeit?)


    Wenn du am Ziel bist, beginnt erst die Reise
    Viel zu sehr trügt der Schein.
    Am Ende des Lichts kommt immer ein Tunnel
    Sieh es doch endlich ein.
    (Sieh den Tunnel,
    sieh es ein)


    -


    Eine Hand an der Stirn.
    Hast Du es geschafft?
    Trugbilder verwirren.
    Wo bleibt deine Kraft.


    Im Sand eine Spur
    Bald bist du da
    Die eigene nur
    Das Ende ist nah

    Refrain:
    Wer kann verstehen dass Seelen sich scheiden
    viel zu lang vor der Zeit?
    Willst Du sehen wie Parallelen sich schneiden
    in der Unendlichkeit?


    Wenn du am Ziel bist, beginnt erst die Reise
    Viel zu sehr trügt der Schein.
    Am Ende des Lichts kommt immer ein Tunnel
    Sieh es doch endlich ein.


    -


    Und wenn die Sandstürme wehen
    die Gedanken sich drehen
    Wenn die Sinne vergehen
    Wirst Du dann verstehen?


    -


    Refrain:
    Und bald wirst du sehen dass Seelen verscheiden
    viel zu lang vor der Zeit.
    Kannst verstehen dass Parallelen sich schneiden
    in der Unendlichkeit.


    Als du am Ziel warst, begann deine Reise
    Zu sehr trog der Schein.
    Am Ende des Lichts kam wieder ein Tunnel
    Und du siehst es ein.


    Siehst es ein,
    siehst es ein.
    Bist im Tunnel und
    siehst es ein,
    siehst es ein.


    Siehst es,
    siehst es nicht.


    Siehst du es?
    Siehst du das Licht?

  • von churchill



    Ich frag dich, ob du meinen Text verstehst.
    Du sagst: Natürlich, ich versteh dich immer.
    Dass du das sagst, macht es für mich noch schlimmer,
    weil du mir so sehr auf die Nerven gehst.


    Wenn ich in Rätseln spreche, bleibst du stumm,
    bemühst dich nicht, die Knoten aufzuschnüren
    und dem Geheimnisvollen nachzuspüren.
    Du willst nicht und du kannst nicht. Du bist dumm.


    Ich mag Sarkasmus und die Ironie.
    Du magst es schlicht und einfach. Einfach schlichter.
    Du bist mein Jugendfreund. Und ich der Dichter.
    Du hast nen Job. Und ich hab Phantasie.


    Ich räsoniere über Lessing, Kant.
    Du redest über Autos, über Frauen,
    um beide dann auch gierig anzuschauen,
    was ich schon immer ziemlich peinlich fand.


    Du lebst in einer völlig andren Welt.
    Wir teilten irgendwann mal unsre Zeiten,
    dann öffneten sich nur noch mir die Weiten,
    ich suchte die Erkenntnis. Du das Geld.


    Ich war stets offen für die Weisheit. Du
    bist intellektuell recht knapp bemessen.
    Dir geht’s ums Ficken, Saufen und ums Fressen.
    Ich komm aus vielen Gründen nicht dazu.


    Ich ließ dich in der alten Welt zurück.
    Die neue kann ich nicht mehr mit dir teilen,
    weil geistig Arme in den unt’ren Sphären weilen.
    Ich suche in der hohen Kunst das Glück.


    Und ab und zu, da lass ich mich herab,
    dir deine Dummheit gütig zu verzeihen.
    Du, kannst du mir mal tausend Euro leihen?
    Ich bin g’rad zufällig ein bisschen knapp ...

  • von Oryx



    Wieder waren Meer und Himmel nicht zu unterscheiden. Tom zog seinen Kragen hoch und rannte über das nass glänzende Kopfsteinpflaster zur Bäckerei. Er schüttelte einen Kopf wie ein Hund als er zum Laden hereinkam und bemerkte wie die beiden Verkäuferinnen grinsten. Er schaute kurz aus dem Fenster. Die Boote glichen wild tanzenden Nussschalen. Das war nicht der Arbeitsurlaub, den er sich erhofft hatte. Schlechtes Wetter, eine Ferienwohnung in der die Heizung versagt hatte und nun hatte er sich noch erkältet. Schniefend stellte er sich an de Theke und wartete bis er an die Reihe kam. „Hallo Anna, gib mir bitte eine Baguette.“ So weit war er schon, dass er die beiden Mädchen in ihren blau-weißen Uniformen duzte. Er trommelte ungeduldig auf die Theke und überlegte, wie er seinen Urlaub ein wenig aufhellen konnte. „Wie wär’s mit einem Kaffee heute Nachmittag?“ Anna grinste unverschämt. „Klar doch! Soll ich noch Kuchen oder Gebäck mitbringen?“ Tom schaute sie irritiert an. „Ich wollte Dich in ein Café einladen. Aber wer nicht will, der hat schon. Kommst Du mit, Miriam?“ Miriam war die schüchterne Brünette mit der hässlichen Hornbrille, aber egal, dachte Tom, Hauptsache Gesellschaft und keinen weiteren Tag alleine in diesem Kaff, in dem die Männer in ihre Bärte grunzten und die Frauen wie Stockfische in ihre Tassen blickten, wenn er sie interviewen wollte. Miriam errötete tatsächlich und nickte stumm. Wie klischeehaft! Er packte sein Brot unter den Arm, zahlte und rannte durch den Regen.
    Gegen vier Uhr kehrte er zurück. Miriam hatte ihren Kittel ausgezogen und ihr blauer Pullover ließ sie noch blasser aussehen. Sie lächelte, ließ sich in den Mantel helfen und drückte sich wie ein ängstliches Tier an ihn als er sie durch die Tür schob. Sie gingen zum Café am Hafen. Nach der dritten heißen Schokolade taute sie auf, erzählte aus ihrem Leben, lachte viel und ihre seeblauen Augen glänzten dabei wie Kinderaugen an Weihnachten. „Meine Familie hat ein Boot im Hafen, da kann ich Dir verschiedene Seemannsknoten zeigen und Seemannsgarn erzählen.“ Tom war glücklich, endlich würde er seiner Geschichte Leben einhauchen können. Er ließ sich von ihr an die Hand nehmen und trotz des Regens auf das alte Fischerboot führen. Unter Deck war es zwar kalt, aber trocken. Miriam holte einige Seile aus einer Kiste und begann damit, Knoten zu machen. „Tom, gib mir mal deinen rechten Arm.“ Sie zog ein Seil um sein Handgelenk und verknotete das Seil an einem Haken in der Wand. „Damit Du mir nicht herum fällst“, bemerkte sie und nahm ein weiteres Seil. „Gib mir deine andere Hand. Siehst Du wie gut diese Knoten halten? Die bekommt man nicht wieder auf.“ Sie befestigte das Seil an der gegenüberliegenden Seite und stellte sich vor ihn hin. „Wusstest Du, dass hier am Ort die Mär umgeht, dass eine Sirene Männer in ihren Bann schlägt und sie nie wieder loslässt?“ Sagte es und warf ihn auf die Koje. Durchs Bullauge sah er noch die Sonne am Horizont verschwinden bevor völlige Schwärze ihn umgab.

  • von Sinela



    „Sag mal Mutter, was ist eigentlich mit Vater los? Er benimmt sich so sonderbar in der letzten Zeit.“
    Bedächtig drehte sich die Frau am Herd um.
    „Ach, Hendrik, es ist das alte Lied. Er will weiterziehen.“
    „Weiterziehen? Warum denn? Es geht uns doch gut hier. Der Fluss führt auch in Trockenzeiten immer Wasser, die Wiesen liefern genügend Winterfutter für die Rinder und Schafe, die Felder sind ertragreich, die Häuser aus Stein und stabil gebaut, ich verstehe das einfach nicht.“
    Mit einem seufzen setzte sich Johanna zu ihrem Sohn an den Tisch.
    „Es ist das Blut, mein Junge. Nach einigen Jahren an einem Ort wird er nervös, es zieht ihn einfach weiter. Die Wiesen hinter dem nächsten Hügel könnten saftiger sein, die Flüsse fischreicher. Er kann nicht mehr schlafen, kann sich nicht mehr auf seine Arbeit konzentrieren. Er ist ein Treckbure mit Leib und Seele und wird es bis zu seinem Tod bleiben!“
    Mit einem Ruck stand Hendrik auf.
    „Ich rede mit Vater. Vielleicht täuscht du dich ja.“


    „Mutter sagt, dass du die Farm aufgeben und weiterziehen willst. Stimmt das?“ Willem nickte.
    „Es wird Zeit, dass wir von hier fortgehen. Die Engländer kommen uns immer näher und ich will nichts mit ihnen zu tun haben.“
    Hendrik lachte laut auf.
    „Deshalb willst du dieses gute Land aufgeben? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ „Wir müssen gehen, so schwer es auch für deine Mutter und dich sein wird.“
    „Und was ist mit dir? Kannst du das alles leichten Herzens zurücklassen?“
    „Nein, aber schon mein Vater und mein Großvater waren Treckburen. Seit Dein Ur-Ur-Großvater Martinus van Houren 1662 in Kapstadt ankam, zog die Familie in jeder Generation weiter nach Osten, floh vor dem Einfluss der Niederländischen Ostindienkompanie, vor ihren Gesetzen, vor den Einschränkungen, die sie uns auferlegten. Die Kompanie gibt es nicht mehr, nun sind es die Engländer, die wir meiden müssen. Sie wollen uns verbieten holländisch zu sprechen und Sklaven zu halten. Und sie glauben nicht an das Alte Testament, ihre Moral ist zweifelhaft.“
    Willem legte seine Hände auf die Schultern des Sohnes.
    „Nein, Hendrik, wir müssen gehen! Ich habe lange darüber nachgedacht, es gibt keinen anderen Weg. In zwei Wochen brechen wir auf. Nach Nordosten über den Vaal.“
    Der junge Mann schüttelte die Hände ab und sagte bitter:
    “Ich muss dir folgen, ob ich möchte oder nicht, denn du bist mein Vater. Aber einverstanden bin ich mit deiner Entscheidung nicht.“


    Gelassen zogen die 16 Ochsen den Kastenwagen, auf dem sich das gesamte Hab und Gut der Familie van Houten befand, über das flache Veld. Am Horizont sah man bereits die blauen Hügel der Drakensberge aufragen, in deren Richtung die Gruppe gemächlich zog. Willem war sicher, dass sich dort das gelobte Land befand. Aber er wusste nicht, dass sie es nie erreichen, sondern noch in der kommenden Nacht den Tod durch die Assagais der Xhosa finden würden.