Das Volk im Kristall - Astrid Vollenbruch (ab ca. 12 J.)

  • Der vierte Band der Serie ‚Einhornzauber’ beginnt genauso, wie Nachtfrost, das wunderschöne schwarze Einhorn mit der Mähne und dem Schweif aus Silber es am Ende des dritten Bands gesagt hat: er verliert ein Rennen. In der Welt, die nicht Parva und damit seine ist, lebt er nämlich als einfaches Rennpferd. Sonja und Melanie, die Ben, den immer noch ziemlich geheimnisvollen ‚Stallburschen’ des Gestüts von Stetten auf die Rennbahn begleitet haben, erleben Nachtfrosts Versagen mit. Vor allem Sonjas Eitelkeit ist gekränkt, auch Nachtfrost kann sie nicht recht trösten. Das ist aber gar nichts im Vergleich zu den Schwierigkeiten, die fast umgehend eintreten. Ein äußerst unsympathischer Mann will Ben nämlich das vermeintliche Versager-Pferd abkaufen. Er läßt sich auch durch ein energisches ‚Nein’, nicht abspeisen. Zugute kommt ihm, daß die Besitzerin des Gestüts, die eigentlich die Brückenwächterin Asarié ist, seit dem letzten Band in Parva festhängt, der Hof also von Ben allein bewirtschaftet werden muß, weil die Besitzerin offiziell ‚verreist’ ist. Die Polizei taucht auf und will Ben mitnehmen, weil eine Anzeige gegen ihn eingegangen ist. Sonja, noch frustriert von Nachtfrosts Versagen und zugleich voll Angst vor dem düsteren Pferdekäufer, reagiert mit reiner Panik. Sie schwingt sich auf Nachtfrost und stürmt mit ihm davon, ziellos, direkt nach Parva. Sie landen mitten im Krieg.


    Melanie muß ihre Aufgabe als neue Brückenwächterin erfüllen, aber ihr steht ein gewaltiger Schrecken bevor. Die Verbindung reißt ab, die Nebelbrücke ist verschwunden. Von da an überschlagen sich die Ereignisse, in dieser Welt und in Parva. Es dauert eine gute Zeit, bis die Freundinnen wieder zusammentreffen, aber auch das bringt ihnen wenig Glück. Die Nebeldämonen haben an Boden gewonnen, der Kampf scheint nahezu aussichtslos. Ein altes Buch und ein rätselhafter Kristall, Überbleibsel eines geheimnisvollen Volkes scheinen zunächst Aussicht auf Rettung zu bieten. Diese Rettung aber verheißt zugleich Schreckliches für jemanden, an den Sonja ihr Herz verloren hat. Der letzte Satz des Buchs ‚Es ist alles in bester Ordnung’ ist eine einzige Lüge und einer der gemeinsten Cliffhanger, den eine Autorin sich nur ausdenken kann!


    Im vierten Band steht ‚Action’ im Vordergrund. Die Geschichte wird rasant erzählt, es ist ein rechter Galopp. Die Ruhepausen sind nur eine Ruhe vor dem nächsten Sturm. Das Ganze ist voller Schrecken, Krieg, Tod, Ungeheuer. Zum erstenmal tauchen auch die Nebeldämonen in voller Größe auf. Sie sind beeindruckend.
    Die kindlichen Protagonistinnen und Protagonisten müssen mit inneren Ängsten kämpfen, deren Ende nicht abzusehen ist. Dabei gelingt der Autorin das Kunststück, recht unterschiedliche Reaktionen überzeugend nachzuzeichnen. Es ist keine Geschichte mutig-strahlenden HeldInnentums, im Gegenteil, hier gibt es Raum für Zögern, Zaudern bis hin zum Ausrasten. Zugleich wird ganz deutlich gemacht, daß ab einem gewissen Punkt ein Ausstieg nicht mehr möglich ist. Das ist gemessen am Alter der Zielgruppe eine beachtliche Leistung.
    Wunderschön und zugleich schreckenerregend sind die Legenden und Gestalten Parvas, die Sonja begegnen. Die eigentliche Geschichte des ‚Volks im Kristall’ verdiente wahrhaftig einen eigenen Roman.


    Im Mittelpunkt neben Sonja steht diesesmal nahezu vollberechtigt Melanie, die jetzt einen eigenen Charakter gewinnt, sei es in Parva, sei es in ihrer Welt in der Auseinandersetzung mit ihrer Mutter. Das eine oder andere ist (wieder) zu kurz geraten, so erfährt man z.B. nicht, wie Corinna und Paul, Sonjas andere Geschwister neben Philipp, dem geplagten ältesten Bruder, nach dem Ende des dritten Bands darauf reagierten, mit Asariés unheimlichen Alraunen ausgetauscht worden zu sein. Immerhin bekommt Corinna eine winzige Szene, in der sie mit einem einzigen herben Satz klarmachen darf, daß sie zurecht Sonjas und vor allem Philipps Schwester ist. Wieder auftreten darf auch die kleine Schlägerbande der Hell’s Devils, die Sonja und Melanie im ersten Band gepiesackt haben, ein schöner Dreh in der Handlung. Max, der Anführer, entpuppt sich als mutiger, als seine große Klappe glauben ließ.


    Abgesehen davon, daß dieser vierte Band sehr fesselnde Fantasy-Lektüre bietet, ist das Bestechende daran weiterhin, daß man ihn problemlos als Parabel auf die beginnende Pubertät und die ersten Schritte junger Mädchen ins Erwachsenen-Dasein lesen kann. Hier, inmitten dieses Strudels an Angst und Schrecken, werden zum erstenmal auch Liebesbeziehungen unter den Figuren sichtbar. Sie aber bringen, so schön sie sind, gleich die nächsten Ängste. Das ist recht realitätsnah und alles andere als rosarot mit Herzchen. dazu gibt es Auseinadersetzungen mit Eltern, die Frage von Familiensolidarität wird diskutiert, Teenager-Ausrasten thematisiert. Es geht in hohem Maß um Verantwortung, für Menschen und Tiere, hier und in der Fantasy-Welt. Es geht um Fehler, Mut und immer wieder um Veränderung. Auch der Tod ist eine.


    Weiterhin höchste Empfehlungsstufe.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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