Die Ehe - Natascha Wodin

  • Erstauflage 1997, 200 Seiten


    Kurzbeschreibung
    Der neue Roman von Natascha Wodin führt zurück in eine deutsche Kleinstadt im Jahr 1964.
    Die Heldin ist zu Beginn 19 Jahre alt und arbeitet als Sekretärin und Telefonistin. Bald lernt sie Harald kennen, der einen ganz neuen, aufsehenerregenden Beruf hat: Programmierer.
    So recht vorzeigbar vor den Kolleginnen ist Harald wegen eines Körperschadens zwar nicht, aber dennoch ist die Heirat für die junge Frau wie ein Sprung auf die andere Seite des Lebens. Hatten sich doch Kindheit und Jugend in Blocks hinter dem Kanal abgespielt, wo nach dem Krieg fast ausschließlich versprengte, russische Familien wohnten und der Blick gutbürgerlichen Lebens jedenfalls hinreicht. Nun aber adelt ein deutscher Name die neue Existenz. Die Segnungen der neuen Umgebung, die Aufnahme in die Famile des Gatten, die der Christlichen Wissenschaft und der NPD huldigt, Urlaubsreisen nach Italien, Operbesuche, Begleitung des Ehemanns zur Jagd gewähren ganz ungeahnte Genüsse. Mit naivem, fast ungläubigem Staunen nimmt die junge Ehefrau die Atmosphäre wachsenden Wohlstandes in den sechziger Jahren wahr, aber bald erweist sich auch dessen Brüchigkeit.


    Die Autorin
    Natascha Wodin, geb. 1945 in Führt als Kind russisch-ukrainischer Eltern, arbeitete in verschiedenen Berufen, bevor sie 1983 mit "Die gläserne Stadt" einen mehrfach preisgekrönten Debütroman veröffentlichte.


    Eigene Anmerkung: Natascha Wodin war von 1994 bis 2002 mit Wolfgang Hilbig verheiratet. Diese Ehe und das Leben mit diesem Mann hat sie in ihrem zuletzt veröffentlichten Roman "Nachtgeschwister" - was als Gegenstück zu Hilbigs letztem Buch "Provisorium" gilt - beleuchtet.


    Natascha Wodin bei Wikipedia.


    Meinung
    Ein beeindruckendes Buch angesichts der Tatsache, dass Natascha Wodin in ihren Werken ihre Vergangenheit aufarbeitet. So auch in diesem Werk. Es geht vor allem um Heimatlosigkeit, sie bezeichnet sich selbst als Fremde zwischen den Kulturen.
    Der Lebenslauf der namenslosen Ich-Erzählerin ähnelt in allen Eckdaten Natascha Wodins Lebenslauf.


    Die Ehe ist ein Roman vor dem Hintergrund der Nachkriegszeit in Deutschland und ein detaillierter Blick hinter die Kulissen. Die Atmosphäre dieser Zeit ist beeindruckend aufgefangen ("die 68-er", Studentenproteste gegen den Vietnam-Krieg, Willy Brandts Kanzlerschaft etc.). In einem distanzierten und äußerst schlichtem Ton berichtet die Ich-Erzählerin von ihren Erlebnissen dieser Zeit, von ihren Gefühlen und von ihrer Unkenntnis über die Kultur eines Landes, in dem sie zwar geboren ist, in dem sie jedoch völlig orientierungslos herumirrt.


    Als die Ich-Erzählerin eines Tages beim Fernsehabend der Nachbarin auf den einäugigen Harald Sikora trifft, ekelt sie sich zwar, aber sie weiß, er ist ihre Chance auf eine "deutsche" Zukunft.


    "Er sah schaurig aus. Ich wollte davonlaufen, wenn mich ein Blick aus diesem Gesicht traf".


    "Das war er, der deutsche Mann, den ich nie wollte. Aber er war der erste und einzige, der mir ein Leben als Deutsche anbot. [...] Er war das Beste, was ich bekommen konnte, und ich war das Beste, was er bekommen konnte. Er nahm meinen Mangel in Kauf und ich den seinen. Das war unser Handel, das war unsere Bestimmung füreinander."


    Die Ehe steht von Beginn an unter schlechten Sternen. Haralds Eltern und auch er selbst sind Mitglieder einer Sekte, die sich "Christliche Wissenschaft" nennt und nebenbei engagiert sich ihr neuer Mann in einer neugegründeten Partei, die NPD heißt. Ihre Schwiegermutter hasst das Mädchen von Anfang an und versäumt es nicht ihr gegenüber dies zum Ausdruck zu bringen. Was zu Beginn noch Faszination auf die junge Frau ausübt - die Ehe, die Aufnahme in eine echte "deutsche" und bürgerliche Familie, die in Wohlstand lebt - entwickelt sich schon nach kurzer Zeit zu einem konventionellen Gefängnis. Das Mädchen kämpft sich im Laufe ihrer Ehejahre an ihrem Mann vorbei durch die Konventionen und schafft es zuletzt tatsächlich als Frau ihre Unabhängigkeit zu erringen.


    Fazit: Ein kühles und beeindruckendes Buch. Es wirkt oft recht befremdlich, dadurch aber auch faszinierend. Ich bin schon sehr auf "Nachtgeschwister" gespannt. Sehr empfehlenswert!

  • Ja, ich hatte das Buch aus der Bibliothek ausgeliehen - blind, klang vom Klappentext vielsversprechend. Ich glaube aber fast, dass Nachtgeschwister noch besser sein wird, da sie sich darin wohl sehr intensiv mit ihrer Beziehung zu Wolfgang Liebig auseinandersetzt und es sozusagen als Gegenstück zu seinem Werk Provisorium geschrieben hat. Die Kritiken klingen jedenfalls sehr reizvoll!

  • Zitat

    Original von SueTown
    Ja, ich hatte das Buch aus der Bibliothek ausgeliehen - blind, klang vom Klappentext vielsversprechend. Ich glaube aber fast, dass Nachtgeschwister noch besser sein wird, da sie sich darin wohl sehr intensiv mit ihrer Beziehung zu Wolfgang Liebig auseinandersetzt und es sozusagen als Gegenstück zu seinem Werk Provisorium geschrieben hat. Die Kritiken klingen jedenfalls sehr reizvoll!


    :gruebel


    Mit Wolfgang Liebig, oder Wolfgang Hilbig?