• Kevin war schon seit Stunden keinem Wanderer mehr begegnet und mittlerweile waren seine Schritte unsicher. Hätte er an der Kreuzung doch besser den anderen Weg genommen? Aber da war auch kein Wanderschild. Mittlerweile wurde der Schwarzwald schwärzer und seine Beine schwerer. Die Tannen standen dicht zusammen und trotz hellem Tag ließen sie an dieser Stelle so wenig Licht zu, dass zwischen den Bäumen nichts mehr wuchs. Nur Erde, Wurzeln und gebrochene Äste, die mit Moos bedeckt waren. Es roch nach verfaultem Holz und Tannenharz. Geräusche von Insekten oder Vögeln waren schon lange keine mehr zu hören.
    Vor einer halben Stunde war er noch zu stolz gewesen, umzukehren. Doch die Angst gewann von Minute zu Sekunde Oberhand. Und so blieb er stehen und drehte sich um. Gerade wollte er loslaufen, da hörte er aus dem Gehölz rechts von ihm: „Hilfe! Scheiße verdammt, da ist doch wer! Hilfe, Mann!“
    Kevin riss vor Schreck Augen und Mund weit auf. Für einen Moment erstarrte er und blickte sich nur mit seinen Augen um, als würde bei der geringsten Kopfbewegung sein Hals so laut knarzen, dass Weissgottwas ihn entdecken – und fressen? - könne.
    „Hilfe! Hiiil-feee!“, hörte er wieder und schlich zaghaft zu dem vermoderten Baumstumpf, aus dem die Schreie zu kommen schienen. Die Stimme klang nah, war aber kaum lauter, als ein Flüstern. Und dort, wo er die Quelle der Hilferufe vermutete, konnte sich unmöglich ein Mensch verbergen. Irgendetwas schien hier gar nicht zu stimmen.
    „Was ist denn, da ist doch wer?“, rief es wieder, „hast Du Schiss? Ich tue Dir nichts, verdammt. Ich hänge hier fest!“
    Kevin nahm die letzten Meter entschlossenen Schrittes und trat auf die andere Seite des Baumstumpfes. Was er sah, war kaum zu fassen: Eine kleine, dicke Fee, eingeklemmt in einem Spalt des Stumpfes. Die Flügel schlugen hektisch, doch der runde Hintern hing fest. Auf dem Boden vor ihm lag ein winziger Stab mit einem Stern als Spitze.
    Kevin beugte sich herunter und zwinkerte zweimal. Doch das Wesen war immer noch da.
    „Was glotzt Du denn so doof?“, fuhr ihn die Fee mit außergewöhnlich tiefer Stimme an und zerrte am Holz.
    Kevin bemerkte die starke Brustbehaarung, die aus dem Feengewand heraus quoll. Auf der anderen Seite der tückischen Spalte schauten zwei stramme, behaarte Männerbeine aus einem Tüllrock hervor.
    „Sag´ mal, wer oder was bist Du denn?“ Ein Grinsen lag in Kevins Gesicht.
    Der stoppelbärtige Mann im gelben Kleidchen antwortete gereizt: „Ich bin ein Fee, siehst Du doch! Und jetzt hilf mir endlich!“
    „Aber ich dachte immer, Feen sind Frauen?“
    „Und ich dachte, Menschen seien intelligent. Hilf mir endlich! Mir geht langsam die Luft aus.“
    Kevin drückte mit dem Zeigefinger vorsichtig von unten gegen den schwabbeligen Bauch des Fees und schließlich gab der Stumpf den wohlgenährten Körper frei. Eilig flatterte der Fee auf den Boden und hob seinen Zauberstab auf.
    „Also, Du Feerich…“
    „Das heisst Fee!“
    „Aber Fee ist doch weiblich: die Fee!“
    „Bist Du Deutschlehrer, oder was? Nur weil Ihr Menschen bisher nur Frauen habt rumflattern sehen, oder wie?“
    „Aber…“
    „Nix, aber. Ich bin ein Mann, also heißt es DER Fee, fertig aus! Schreibt halt euren Duden um: Der Fee, die Feein. Oder was auch immer“ .
    Der Fee verschränkte trotzig die Arme oberhalb des Bauchansatzes und flatterte wild vor Kevins Augen herum. Kevin legte ein besserwisserisches Grinsen auf und deutete auf das behaarte Dekolleté.
    „Aber … Du trägst ein Kleidchen!“, sagte Kevin und verschränkte seinerseits die Arme.
    „Ja, Scheiße Mann, das ist halt die Arbeitskleidung. Ausgesucht habe ich es mir bestimmt nicht, das kannst Du mir glauben! Was denkst Du, warum schon lange kein Fee mehr gesehen wurde? Ich wollte eigentlich Flaschengeist werden!“
    Kevin strich sich langsam durch die Haare und kraulte seinen Hinterkopf. „Wie, Du wolltest Flaschengeist werden?“
    „Wie, Du wolltest Flaschengeist werden!“, äffte der Fee ihn nach und kratzte dabei übertrieben an seinem schütteren Haupthaar herum. Glaubst du, wir leben in der Märchenwelt von Luft und Liebe? Wir müssen auch Jobs ausüben, um uns und unsere Familie zu ernähren. Wir sind nichts weiter als Dienstleister für Euch Märchenfreaks.“
    „Und wieso um alles in der Welt wolltest Du dann Fee werden? Stehst Du auf Kleidchen?“
    „Ich zaubere Dir gleich einen Höcker auf die Nase, du unverschämter Rotzlöffel! Ich wollte ja gar nicht Fee werden, hörst Du mir nicht zu? Ich wollte Flaschengeist werden, aber diese scheißverdammte Gleichberechtigungsbewegung hat die Männer in meinem Jahrgang dazu gezwungen, Frauenjobs anzunehmen. Und bevor Du wieder blöd fragst: Ja, es heißt auch „die Flaschengeist“! Aber der Fee ist dem Flaschengeist am nächsten und ich dachte, ‚Hey, da brauchst Du nicht die meiste Zeit Deines Lebens in irgend so einer Flasche rumsitzen’. Da hat man mehr Freiheit, bei exakt derselben Zauberkraft. Außerdem mussten ja auch die Frauen Männerjobs annehmen. Stell´ dir mal einen Drachen mit Lippenstift und BH vor.“
    „Sag´ mal, wo ich Dir doch jetzt geholfen habe… habe ich dann nicht drei Wünsche frei?“
    „Oh, na toll, ein Klugscheißer.“
    „Also was jetzt: ja oder nein?“
    Der Fee ließ die Schultern hängen, schaute zu Boden und grummelte: „Ja.“
    „Hah! Cool … dann muss ich jetzt mal nachdenken.“
    „Du hast exakt fünf Stunden, dann habe ich Feierabend!“ Der Fee landete auf dem Baumstumpf und ließ mit dem Rücken zu Kevin seine Beine baumeln und seine Flügel hängen.
    Kevin dachte lange nach und fragte schließlich den Fee: „Kann ich mir absolut alles wünschen?“
    Der Fee drehte leicht den Kopf und ratterte gelangweilt seinen Standardtext herunter: „Verboten sind alle Wünsche, die die Zeit verändern, jemandes Gefühle beeinflussen oder jemandem das Leben kosten, sowie Metawünsche.“
    „Was sind Metawünsche?“
    „Eine arme Kollegin von mir ist auch an so einen Klugscheißer geraten und der hat sich als letzten Wunsch einfach eine Millionen weitere freie Wünsche gewünscht. Sie arbeitet immer noch für ihn.“
    „Nochmals zu den Regeln: Was ist, wenn ich mir die Wahre Liebe wünschen würde?“
    „Das würde schon gehen.“ Ein flüchtiges Grinsen huschte über das kleine, runde Gesicht.
    „Aber Du kannst doch keine Gefühle beeinflussen?“
    „Nö, aber die Wahre Liebe kann ich Dir trotzdem schenken.“
    „Okay, dann wünsche ich mir die Wahre Liebe!“
    Der Fee fuchtelte theatralisch in der Luft herum und murmelte etwas unverständliches, während er mit den Augen rollte. Dann zeigte er ruckartig auf dem Boden vor Kevin und von einem lauten Knall begleitet stieg Rauch auf, verflüchtigte sich im Wald und gab die Sicht auf einen Schäferhundwelpen frei. Kevin reagierte im ersten Moment freudig, ging in die Hocke und streichelte den Welpen. Dann verfinsterte sich Kevins Blick und er drehte seinen Kopf zum Fee: „Hey, ich habe mir keinen Hund, sondern die Wahre Liebe gewünscht.“
    „Junge, werde erwachsen! Die Wahre Liebe kannst Du nur von einem Hund erwarten. Bist wohl noch nie verlassen worden, was? Rückblickend stellt jeder fest, dass es wahre, vorbehaltslose Liebe unter Menschen nicht gibt.“
    „Dann habe ich jetzt einen zweiten Wunsch: Unermesslichen Reichtum!“
    „Sicher?“
    „Ja!“
    „Gut, wie Du willst.“ Wieder rollte der Fee mit den Augen, während er schwerfällig den neugierigen Hundetatzen auswich und schließlich in die Höhe flog. Wieder deutete er ruckartig auf den Boden und wieder knallte es. Rauch stieg auf und hüllte den Fee ein, was er mit einem trockenen Husten kommentierte. Der Boden lichtete sich, doch Kevins neugieriger Blick fiel auf den nackten Boden.
    „Und? Wo ist denn jetzt der Reichtum? Schon auf meinem Konto?“
    „Nein, mein junger Freund“, der Fee grinste hämisch über beide Backen und räusperte sich, „Geld hast Du keines bekommen.“
    „Aber ich habe mir gewünscht, reich zu sein. Du hast meinen Wunsch nicht erfüllt!“
    „Beschwere Dich doch bei meiner Gewerkschaft!“ Nun fing der Fee an, schallend zu lachen. Sein Bauch wippte auf und ab. So stark, dass er kurz ins Trudeln geriet und wieder auf dem Baumstumpf landete.
    „Du Dragqueen mit Flügeln, glaubst Du, Du kannst mich verkohlen?“
    „Werde nicht wieder unverschämt, Du kleiner Stinker! Du hast Dir unermesslichen Reichtum gewünscht. Unermesslichen! Also immateriellen! Nichts, was man zählen, wiegen oder messen kann. Verstehst Du? Dennoch habe ich Deinen Wunsch erfüllt: Du bist nun unermesslich reich an Erfahrung. Du weißt, dass es männliche Feen gibt, dass unter den Menschen keine Wahre Liebe existiert und dass man bei der Äußerung von Wünschen genau auf seine Wortwahl achten sollte. Damit bist Du ein Reicher Mann.“
    Kevin kochte vor Wut und kickte einen modrigen Ast weg, welchen der Welpe freudig wieder apportierte. Durch die Reaktion seines neuen Freundes etwas besänftigt setzte er sich aufs Moos und begann, nachzudenken. Dabei warf er mehrere verstohlene Blicke auf den Fee, welcher seinerseits gemütlich auf einem Ast lag, unentwegt gähnte und sich den Bauch kratzte. Die Arme in die Luft gestreckt, fragte der Fee schließlich: „Und? Weißt Du Deinen dritten Wunsch?“
    „Naja, Fee, eine Idee hätte ich schon.“ Kevins Augen funkelten.
    „Ja. Und?“
    „Bei Flaschengeistern war es doch so, dass der Besitzer der Flasche dem Geist mit dem dritten Wunsch die Freiheit schenken konnte. Richtig?“
    „Ja, aber was hat das mit uns zu tun? Ich bin frei.“
    „Ich hatte das Gefühl, dass Du darunter leidest, mit einem Röckchen durch die Gegend zu fliegen und kein Furcht einflößender Flaschengeist geworden zu sein.“
    „Was hast Du vor?“
    Kevin bemühte sich um ein freundliches Lächeln: „Ich will Dir helfen! Musst Du alle Wünsche erfüllen, die nicht durch die Verbote ausgeschlossen sind?“
    „Ja.“ Die Stimme des Fees zitterte.
    „Nun, dann wünsche ich mir, dass Du eine Frau bist. Eine Fee!“
    „Was? Spinnst Du?“
    „Du musst mir den Wunsch erfüllen, kleine Fee“, erwiderte Kevin siegessicher.
    „Scheiße, Verdammte! Das kannst Du doch nicht machen. Ich will das nicht!“
    „Es widerspricht nicht Deinen Verboten, also tue es!“
    Deprimiert fuchtelte der Fee mit seinem Zauberstab über seinem Kopf herum und verwandelte sich kurz darauf in eine wunderschöne Frau.
    „Du siehst ja richtig gut aus, Fee!“
    „Halt´s Maul und verzieh´ Dich“, piepste die zierliche Gestalt.
    Der Hund bellte zurück und Kevin machte sich mit seinem neuen Freund auf den Rückweg.
    Die Fee indes tobte, fluchte und schimpfte bis zum Feierabend auf ihre Gewerkschaft.

    Enttäuscht vom Affen, schuf Gott den Menschen.
    Danach verzichtete er auf weitere Experimente.

    - Mark Twain -

  • Danke für diese Geschichte, es hat richtig Spaß gemacht, sie zu lesen! Ich grinse jetzt noch. :grin


    Ich finde sie auch sehr ansprechend geschrieben - obwohl ich allzu viel Dialog nicht mag, aber hier muss es einfach so sein. Und die wenigen Beschreibungen sind genug, um sich das "Drumherum" vorzustellen.


    Und ich mag Kevin und den Fee, sie sind mir irgendwie sehr sympathisch ... :chen Ernsthaft: Ich finde die Geschichte wirklich cool.

  • schön, dass sie Euch gefällt :-)


    Ein "ganz nett" von Voltaire war schon mehr, als ich zu hoffen wagte...


    LG,
    crycorner

    Enttäuscht vom Affen, schuf Gott den Menschen.
    Danach verzichtete er auf weitere Experimente.

    - Mark Twain -

  • Der Herr Fee-rich war ja zum schießen..... :lache

    Man muß noch Chaos in sich haben um einen tanzenden Stern gebären zu können - frei nach Nietzsche
    Werd verrückt sooft du willst aber werd nicht ohnmächtig - frei nach Jane Austen - Mansfield Park