Joyce Carol Oates: Die Lästigen. Eine amerikanische Chronik in Erzählungen

  • Joyce Carol Oates: Die Lästigen.
    Eine amerikanische Chronik in Erzählungen
    Die Andere Bibliothek 2011. 384 Seiten
    ISBN-13: 978-3821862378. 32€
    Hrsg. Gabriela Jaskulla
    Übersetzerin: Susanne Röckel


    Klappentext
    Die versammelten Geschichten von Joyce Carol Oates sind Entdeckungen: alle sind sie hierzulande noch unveröffentlicht. Von der Autorin und der Herausgeberin ausgewählte Momentaufnahmen vom amerikanischen Alltag. Joyce Carol Oates schlüpft in die Haut von Männern und Frauen und aufsässigen sprachlosen Teenagern, verbitterten Arbeitern und heruntergekommenen Boxern, denen sie genauso zu eigener Sprache verhilft wie Gelegenheitsdieben oder pädophilen Vätern.


    Die Autorin
    Joyce Carol Oates wurde 1938 in Lockport (NY) geboren. Sie zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Autorinnen der Gegenwart. Für ihre zahlreichen Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem National Book Award. Joyce Carol Oates lebt in Princeton, New Jersey, wo sie Literatur unterrichtet.


    Die Reihe
    In der Reihe "Die andere Bibliothek" erscheint seit ihrer Gründung 1984 durch Franz Greno monatlich ein Buch in bibliophiler Aufmachung. Bis 1997 noch in limitierte Ausgabe im Bleisatz gedruckt, ragen die inzwischen mit modernen Druckverfahren produzierten Bücher nach wie vor durch Satz und Papierqualität heraus. Eine Sammlung bisher nicht ins Deutsche übersetzter Kurzgeschichten von Joyce Carol Oates erscheint als Band 315 der Reihe - diese "Neuigkeit" war für noch vor meiner Sammelleidenschaft Grund, das Buch zu kaufen.


    Inhalt
    Bis auf wenige Ausnahmen (zwei Erzählungen stammen aus den 60ern, eine war bisher noch unveröffentlicht) erschienen die von Gabriela Jaskulla ausgewählten Geschichten in den 90ern des 20. Jahrhunderts. Die Herausgeberin weist im Vorwort daraufhin, dass einige der Geschichten die Grenze des Genres Short Story überschreiten, weil sie sie sich nicht auf die charakteristische Einheit von des Ortes beschränken. Die Herkunft von Oates Figuren, die zumeist zur vom Abstieg bedrohten weißen Mittelschicht der USA gehören, waren für die Herausgeberin inhaltliches Kriteriun für die Zusammenstellung dieses Bandes.


    Oates zeigt in ihren Arbeiten die dunkle Seite des ehemaligen Landes der unbegrenzten Möglichkeiten. Sie legt (laut Jaskulla) ihren Lesern Gewalt als Leitmotiv der amerikanischen Biografie nahe, indem sie Situationen herausarbeitet, in denen Väter und Mütter ihre Familien nicht vor Eindringlingen von außen schützen können. Besonders deutlich wird diese Hilflosigkeit in "Wo ist hier?" als ein Fremder sich sein angebliches Elternhaus ansehen will und die Familie, die dort inzwischen wohnt, nicht weiß, wie sie den Mann wieder loswerden soll. Einige der Erzählungen beginnen in alltäglichen Familiensituationen (Gib Daddy einen Kuss, Ihr habt mich gestreichelt, Verklärte Nacht), andere stürmen mit Tod, Gewalt oder Selbstzerstörung direkt auf den Leser herein (Leidenschaft, Böses Schäferspiel, Todesmutter). Herausragend finde ich Joyces Fähigkeit aus der Perspektive von Kindern zu erzählen, die Gewalt erfahren haben oder denen Gewalterfahrungen unmittelbar bevorstehen (Todesmutter, Die Lästigen, Ewige Liebe). "Akt der Einsamkeit", "Nackt" und "Der feine, weiße Winterdunst" zeigen das problematische Zusammenleben Weißer mit Afro-Amerikanern. Bemerkenswert, wie die amerikanische Autorin ihre Leser zunächst mit der Vertrautheit in Liebes-Beziehungen einlullt, um kurz darauf die Fassade komplett zu zerstören (Gib Daddy einen Kuss) und die dahinter lauernde Gefährdung zu demaskieren. "Morgen" geht bis in die 60er zurück und beleuchtet die Affäre zwischen der verheirateten Studentin Lydia und ihrem erheblich älteren Dozenten. Lydia begehrt gegen ihre allzu früh geschlossene Ehe auf, um im Verhältnis zu Scott die Hausfrauenrolle zu wiederholen, die jene Zeit für Frauen vorgesehen hatte. Dass für Frauen im Wolfsrudel der Wissenschaftler noch kein Platz vorgesehen war, fiel Lydia damals noch nicht auf. "Das Omen" auf nur 6 Seiten mit seiner Symbolik und der äußerst knappen Landschaftsbeschreibung am stärksten beeindruckt.


    Fazit
    "Die Lästigen" eignet sich für Leser als Einstieg in das Werk der verblüffend produktiven Joyce Carol Oates, die sich von der Fülle ihrer Veröffentlichungen - noch - überfordert fühlen.


    Textauszug
    "Eine Stimme klang in meinem Ohr: Hier sind wir! Es war früh, bevor die Sonne begonnen hatte, den Küstennebel aufzusaugen. Möwenschreie rissen mich aus dem Schlaf. Warum lauter als gewöhnlich? – durchdringender, schauriger? Ich lag in meinem Bett und lauschte und kam zu dem Schluss, dass es sich um menschliche Schreie handelte, schrecklich anzuhören. Und doch – so früh? Zu einer Zeit, zu der sicher noch niemand am Strand wäre, geschweige denn im Wasser, um zu schwimmen. An diesem abgelegenen, windigen Ort, auf einer schmalen Landzunge, drei Meilen vom nächsten Dorf entfernt und zwanzig Meilen vom nächsten Städtchen. Hier bestimmten der Atlantik und der Himmel das Dasein. Wie schnell wird, wenn man sein früheres Leben verlassen hat, die Landschaft dieses Lebens zu einer Abstraktion, wie eine Landkarte. Eine Landkarte, die man zusammenfalten und weglegen kann, und dann braucht man sie sich nie mehr anzusehen." (S. 305, Das Omen)


    10 von 10 Punkten

  • 10 von 10 Punkten! Wenn das mal keine Empfehlung ist. Mein erster "Fehlversuch" mit Oates wurmt mich noch immer. Ich sollte doch in absehbarer Zeit einen zweiten Roman der Autorin lesen. Aber der Preis der "Lästigen" ist doch eher abschreckend. Vom Flohmarkt habe ich für einen Euro Erzählungen von Oates mitgenommen: "Lieben, verlieren, lieben". Ob die auch an die 10 Punkte hinreichen? ;-)

  • Zitat

    Original von BuchdoktorWürde es dich trösten, wenn ich nachträglich für das sehr billige Lesebändchen ein Viertelpünktchen abziehe?


    :rofl Scherzkeks! :keks
    Ich habe mich ganz aufrichtig gefreut über die zehn Punkte! Bedeutet es doch, dass du das ultimative Leseerlebnis hattest. Das gönne ich dir von Herzen. :kiss Eigentlich ist doch jeder Leser ständig auf der Suche nach diesen speziellen 10-Punkte-Büchern. Jedenfalls treibt mich der Wunsch nach diesem Kick an.

  • Titel: Die Lästigen. Eine amerikanische Chronik in Erzählungen
    Autorin: Joyce Carol Oates
    Übersetzt aus dem Amerikanischen von. Susanne Röckel
    Verlag: Die Andere Bibliothek im Eichborn-Verlag
    Erschienen: März 2011
    Seitenzahl: 378
    Preis: 32.00 EUR


    In diesen Erzählungen von Joyce Carol Oates lebt der amerikanische Traum – könnte man meinen, denn schließlich wird im Untertitel von einer „amerikanischen Chronik“ gesprochen. Aber es ist nicht der amerikanische Traum der in diesen Kurzgeschichten gelebt wird, nein – ganz und gar nicht; allenfalls könnte man davon sprechen, dass es in diesen Erzählungen um die Umkehr des amerikanischen Traumes geht.


    Es werden Menschen beschrieben, denen im Moment ihres Erlebens der amerikanische Traum weit weg und wohl auch völlig egal ist.


    Wir erleben Menschen in den unterschiedlichsten Situationen. Menschen oftmals an der Grenze ihrer Kraft, ohne Hoffnung auf Änderung zum Besseren. Das was Joyce Carol Oates beschreibt sind reale Lebenssituationen und Lebensumstände – weitab vom „Happy-End-Glamour“ Hollywoods. Denn im realen Leben ist das Happy End eher eine seltene Erscheinung. Gezeigt wird das harte, zum Teil sogar menschenfeindliche Amerika. Ein Amerika, wo eben kein Platz für die Schwachen vorhanden ist, ein Amerika wo der Ellenbogen zählt und wo das Wort „Nächstenliebe“ eher die Diktion eines unbekannten Fremdwortes hat.


    Es sind die realistischen Beschreibungen vieler verschiedener Lebenssituationen die den ganz besonderen Reiz dieser Erzählungen ausmachen. Fiktiver Realismus, gepaart mit einer eher resignierten und desillusionierter Weltsicht. Menschen eingezwängt in Handlungsabläufe und in Lebensformen, die ihnen kaum Spielräume für eigene Entscheidungen lassen. So wie die Eltern und Großeltern lebten, leben mussten, so werden auch die Kinder und wahrscheinlich auch deren Kinder leben. Ausbruchsversuche aus diesem standardisierten Lebensmuster enden zumeist schon an der Stadtgrenze (jetzt sinnbildlich gemeint) – wenn sie denn überhaupt so weit kommen.


    Joyce Carol Oates ist eine gnadenlose Beobachterin und Chronistin. Sie verschweigt nichts, fügt nichts hinzu (was da nicht hingehört) – sie berichtet/erzählt in realen Bildern, Bilder die nichts Imposantes oder Heimeliges bitten – sondern nur das zeigen was ist.
    Heldentum sucht man in diesen Erzählungen vergeblich, auch wenn Gabriella Jaskulla in ihrem im Ergebnis ziemlich einfältigen Vorwort von „Helden der Geschichten“ spricht. Leider ein Vorwort, dass den Geschichten kaum gerecht wird. Da hört sich offenbar jemand nur selbst gern reden und redet am Kern der Sache fast schon genial vorbei. Aber Gabriella hat es sicher nicht bös gemeint – sie kann es wahrscheinlich nur nicht besser.


    In jedem Falle ist diese Sammlung von Erzählungen von Joyce Carol Oates ein wahrlich lesenswertes Buch, ein Buch das eigentlich an keiner Stelle enttäuscht (vom Vorwort jetzt mal abgesehen), ein Buch, dass man sicher auch ein zweites oder sogar ein drittes Mal mit Gewinn lesen kann.
    9 Eulenpunkte.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.