Der Büchereulen-Adventskalender 2013

  • 20. Dezember 2013 von polli



    Wann wird's mal wieder richtig Weihnacht?


    Wir brauchten früher keine zehn Geschenke,
    wir kriegten Bücher und ein Puzzlespiel,
    doch heute, wenn ich an den Kaufrausch denke,
    dann wird die Weihnachtszeit mir schon zu viel.


    Ja früher gab's noch Weihnachtsduft
    von Pfeffernüssen in der Luft,
    die Kerzenhalter war'n aus Goldpapier,
    wir lasen uns Geschichten vor,
    Bratäpfel brutzelten im Rohr,
    doch heut' – da klingt zur Ukulele unser Lied:


    Wann wird's mal wieder richtig Weihnacht,
    ein Fest, so wie es früher einmal war.
    Mit Gemütlichkeit und Kerzen im Dezember
    und nicht so laut und nicht so hektisch wie im letzten Jahr.


    Im Supermarkt stehn' Printen ab September,
    das Grillfleisch liegt direkt noch nebenan.
    Bei Aldi gibt den Nikolaus zum Wenden,
    zu Ostern pappt man Hasenohren dran.


    Beim Nachbarn blinkt's am Gartentor,
    es kommt mir wie 'ne Disko vor,
    ein Plastikelch plärrt blechern „Holy Night".
    Der Weihnachtsmann nimmt schon Reißaus,
    auch ich halt' das nicht länger aus!
    Oh Mann! Und alle Engel singen laut im Chor:


    Wann wird's mal wieder richtig Weihnacht,
    ein Fest, so wie es früher einmal war.
    Mit Gemütlichkeit und Kerzen im Dezember
    und nicht so laut und nicht so hektisch wie im letzten Jahr.

  • 21. Dezember 2013 von Dieter Neumann



    Weihnachtsmarkt in Brummühlen


    Es fing damit an, dass Fiete ausfiel.
    Seit gefühlten Jahrhunderten für die Organisation des Weihnachtsmarktes in Brummmühlen zuständig – ehrenamtlich inzwischen, was die Kasse erfreulich entlastete –, machte der ehemalige Stadtangestellte im gesegneten Alter von 91 Jahren plötzlich von seinem Recht auf Ableben Gebrauch. Das ging, wie alles, was Fiete je getan hatte, recht zügig vonstatten. Eben hatte er noch ausgiebig gefrühstückt und wollte nun hinunter zum Marktplatz, da entfuhr ihm ein erstauntes „Wat hett dat denn to bedüten?“, er fasste sich an die Herzgegend, setzte sich auf den Sessel im Flur der Seniorenresidenz „Abendsegen“ und verschied unverzüglich und geräuschlos.
    Dem in aller Eile von der Stadtverwaltung zum Nachfolger des Heimgegangenen ernannten Herrn Dombrowsky wurde Fietes abgewetzte „Weihnachtsmarkt-Aktentasche“ übergeben, die neben den nummerierten Schildchen für die Stände allerlei Papier, Quittungsblöcke, viele alte Listen und natürlich auch die der diesjährigen Standverteilung enthielt. Da Fiete alle Marktbeschicker, Budenaufsteller und Kinderkarussellbetreiber persönlich kannte, gab es aber auf seiner Liste an den eingezeichneten Positionen der Stände nur Kürzel, von denen er allein wusste, wer sich hinter ihnen verbarg. Schon beim ersten Blick auf dieses eigenwillige Formular traten dem armen Herrn Dombrowsky dicke Schweißperlen auf die Stirn, denn er konnte sich beim besten Willen keinen Reim darauf machen, wer „Nasi“ war, ob „B.P.“ Glühwein oder Schmiermittel feilbieten wollte, und welche Attraktionen sich wohl hinter der „Trulla“ verbergen mochten.
    Also machte Herr Dombrowsky sich auf die Suche nach irgendeinem „offiziellen“ Dokument.
    Ergebnislos. Selbst in der Stadtkasse sagte man ihm, so etwas habe es nie gegeben, denn „Dat hett Fiete jümmers regelt.“ Der Alte sei nach dem Ende des Weihnachtsmarktes immer auf dem Amt erschienen, habe ein stattliches Sümmchen eingezahlt, über das sich der Kämmerer jedes Jahr aufs Neue freute – und das war’s.


    So geschah es, dass in diesem Jahr am Tag des Marktaufbaus auf dem mit uralten Kopfsteinen gepflasterten Platz vor der Stiftskirche ein heilloses Chaos herrschte. Inmitten desselben sah man Herrn Dombrowsky mit hektischen roten Flecken im Gesicht herumrennen. Immer wieder sprach er die Leute an.
    „Sie da, Sie backen doch die süßen Crèpes, da sind Sie doch sicher …“, Blick auf Fietes Zettel, „da sind Sie doch sicher ‚Nutelli’, oder?“
    „‚Nutelli’? Nie gehört. Ich heiße Hansen, und Fiete hat für mich den 1a reserviert!“
    „Fiete kann doch nicht für alle den 1 a und den 1 b reserviert haben“, stöhnte der verzweifelte Herr Dombrowsky.
    „Ist mir egal. Jedenfalls hab ich für 1 a bezahlt.“
    Das war natürlich nicht nachzuweisen, da auf keinem einzigen Einzahlungsbeleg der Stand vermerkt war. In diesem Fall stand da: „‚Nutelli’ bezahlt wie vereinbart.“ Und derlei kryptische Vermerke fanden sich auch auf allen anderen Belegen.
    Es war zum Haareausraufen. Jeder der Aussteller behauptete mit großem Nachdruck, dass Fiete ihm diesmal einen der besten Plätze reserviert habe, einen von denen direkt vor der Kirche, wo jeder Besucher vorbeikam, der einen Bummel über den Platz machte.

    1a oder 1 b also.
    Als nach drei Stunden die weite Fläche des Marktplatzes immer noch verwaist war (mit Ausnahme eines aus Holland mit einem riesigen Sattelschlepper angereisten Grünpflanzenhändlers, der immer wieder lautstark erklärte, er habe „een contract met Fiete gesloten“ und der mit seinem gewaltigen Gefährt und dem von seiner Gattin chauffierten Wohnmobil dahinter die Zufahrt zum Platz blockierte), dafür aber die Plätze 1 a und 1 b vor der Kirche von nicht weniger als vierzehn Ausstellern belagert wurden, deren Aggressivität sich minütlich steigerte, erlitt Herr Dombrowsky einen Kreislaufzusammenbruch.
    Aufgeregt umstanden alle Aussteller die am Boden liegende Amtsperson und vergaßen für einen kurzen Augenblick ihren Zwist. Die Frau des holländischen Grünpflanzenhändlers eilte ebenfalls herbei, forderte lautstark sofortige „mond-op-mondbeademing“ und warf sich theatralisch neben den Niedergesunkenen. Ihr geöffneter Mund näherte sich zielstrebig dem blassen Gesicht, doch bevor sie ihre Drohung in die Tat umsetzen konnte, schleuderte Herr Dombrowsky ihr einen vernichtenden Blick entgegen und rappelte sich mit der Hilfe des Schwenkgrillbetreibers (der auf Fietes Liste unter „Fetti“ geführt wurde, was Herr Dombrowsky natürlich nicht wusste und was ihm vermutlich nun auch schon egal war), mühsam auf.
    Während er sich erschöpft an ihren Wagen lehnte, flößte ihm die besorgte Punschbudenfrau (auf Fietes Zettel „Plörre“ genannt) in rascher Folge Rotweinpunsch mit Schuss ein, wobei sie am Rum – der medizinischen Ausnahmesituation geschuldet – nicht sparte. Nach dem vierten Becher Punsch ging es Herrn Dombrowsky erkennbar besser, und sein Gesicht hatte wieder eine gesunde Färbung angenommen. Er musste zwar vom Brathähnchenröster auf der einen und vom Nussknackerschnitzer auf der anderen Seite gestützt werden, aber das tat seiner neu gewonnenen Entschlossenheit keinen Abbruch.
    „JezzwirdhierersssmalOrrrnunggeschaffen!“, grölte er und zerrte den vermaledeiten Fietezettel aus der Aktentasche.
    Die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Umstehenden war ihm sicher, als er schwerzüngig erklärte, er werde eben einfach eine neue – nunmehr behördlich fundierte – Einteilung der Standplätze vornehmen.
    „Von mir aus“, sagte der Schwenkgrillbetreiber, „ich hab ja sowieso 1 a“
    „Kann gar nicht sein“, schleuderte ihm die Punschfrau („Plörre“!) ins Gesicht, „da bau ich schon auf!“ Entschlossen goss sie sich selbst noch ein Getränk zu Probierzwecken ein.
    „Macht was ihr wollt. Ich bin auf 1 b. Nur die anderen Plätze sind noch zu verteilen“, zischte der Nussknackerschnitzer und wiegte beiläufig sein blitzendes Schnitzmesser in der Hand.
    „HimmelherrgottwassssfürneScheiße“, lallte Herr Dombrowsky und schickte einen verzweifelten Blick aus verschleierten Augen zum dämmrigen Himmel.


    Nun kann man die Hilfe des Allerhöchsten bekanntlich in allen Sprachen der Welt erflehen, sogar stumm, wenn man seinen irdischen Verkündigern glauben darf. Dass es aber auch mit einem trunkenen Fluch funktionieren kann, erlebten die erstaunten Brummmühlener Marktbeschicker in diesem Moment.
    Welch unvergesslicher Moment aber auch!
    Mit ohrenbetäubendem Krachen flog in dieser Sekunde der Wohnwagen der Holländer in die Luft, und eine gewaltige Stichflamme erhellte den Marktplatz. Die Druckwelle richtete keinen größeren Schaden an – der weite Platz war schließlich noch leer -, reichte aber immerhin bis zu den im Aufbau befindlichen Buden am Rand und warf sie um. Ein paar Holzsplitter flogen herum, der Nussknackerschnitzer verletzte sich vor Schreck mit dem eigenen Messer an der Hand, und leider ging auch der Punschtopf zu Bruch, aber weiter geschah nichts Erwähnenswertes. Während der Holländer seine Frau anbrüllte: „Het gas! U niet hebt uitgeschakeld het gas, stomme koe!“, rückte die Freiwillige Feuerwehr Brummmühlen an und hatte die kläglichen Reste des rollenden Heims schnell gelöscht.
    Herr Dombrowsky aber bekam von alldem nicht viel mit. Fasziniert betrachtete er das kleine grüne Stück Papier, das zusammen mit allem anderen aus Fietes „Weihnachtsmarkt-Aktentasche“ herausgeflogen war, als die Explosion sie zerrissen hatte.
    Ein Scheck. Von der Raiffeisenbank Brummmühlen. Unterschrieben von Fiete.
    Und mit einer Büroklammer drangeheftet ein kleiner Zettel: ’För dat Fest mit de Beschickers’.


    Und so kam es, dass noch an diesem Abend im Feuerwehrgerätehaus von Brummmühlen ein ganz besonderes, ein ausgesprochen weihnachtliches Fest gefeiert wurde. Der Schwenkgrillbetreiber hatte seine Gerätschaften kurzerhand vor dem Feuerwehrhaus aufgebaut, die Punschbudenfrau („Plörre“) erhitzte eimerweise ihr Gebräu, und rasch zogen köstliche Düfte durch die Luft.
    Bevor Herr Dombrowsky in fließendem Niederländisch der Grünpflanzenhändlersgattin seine Liebe gestand, verteilte man einfach die Stände im Losverfahren neu. Der Nussknackerschnitzer bestand zwar trotz seiner Verletzung darauf, jedes Los noch einmal zu überprüfen, landete aber dennoch mit seinem Stand hinter dem Sattelschlepper.
    Die Brummmühlener Feuerwehrleute betranken sich auf ihren erfolgreichen Einsatz, die Marktbeschicker auf ihr Überleben, Herr Dombrowsky zunächst auf seinen erwiesenen Scharfsinn, später auf die unergründlichen Wege der Liebe, der holländische Grünpflanzenhändler auf seine Vollkaskoversicherung, alle aber – und das mit immer neuen, gemütvollen Trinksprüchen – auf das Wohl des seligen Fiete, der dieses Fest so gern mit ihnen mitgefeiert hätte.

  • 22. Dezember 2013 von rienchen



    Die Wunschkugel


    „Na, können Sie sich nicht entscheiden?“ Ich zuckte zusammen, als mich die Stimme der Verkäuferin aus meinen Gedanken riss, dabei war sie keinesfalls unfreundlich. Ich betrachtete die Wunschkugeln der Altenheimbewohner des Haus Maria Einsiedel, die an einem festlich geschmückten Tannenbaum auf einen weihnachtlich gesinnten Geber warteten. „Die alten Leutchen freuen sich jedes Jahr so, wenn sie ihr Geschenk am Heiligen Abend auspacken können. Die Augen glänzen dann richtig.“ „Wirklich?“, sagte ich vielleicht einen Ton zu ironisch, denn die Verkäuferin des kleinen Buchladens in meinem Kiez, den ich häufig aufsuchte, hob skeptisch eine Augenbraue. Sie war hübsch, daran änderte auch die senkrechte Falte in ihrer Stirn nichts. „Maria“ stand auf dem kleinen Metallschildchen, das knapp oberhalb ihrer Brust befestigt war. Ich hatte von der Aktion Wunschkugel gehört, sie wurde seit einigen Jahren mit großem Erfolg durchgeführt. Die Altenheimbewohner schrieben ihre Wünsche auf eine Karte in Kugelform, die dann in einem ansässigen Geschäft an einem schön geschmückten Baum auf Abholung warteten. Ich wunderte mich darüber, dass Menschen, die ihr Leben so gut wie hinter sich hatten und ihre knapp bemessene Zeit nur noch mit Ihresgleichen verbrachten, dem Weihnachtsfest immer noch wie Kinder entgegen fieberten. Was für eine Zeitverschwendung. Wahrscheinlich bastelten sie auch Strohsterne, buken Plätzchen, sahen sich Drei Haselnüsse für Aschenbrödel oder sonstigen Blödsinn im miefigen Gemeinschaftsraum an und sangen Stille Nacht, souffliert vom lustlosen Pflegepersonal, das die Bewohner am liebsten mit einer Extradosis Melperon ruhigstellen würde. Nein, bevor ichim Alter in so ein Heim ging, würde ich lieber sterben. „Ich wollte nur mal gucken, ... Maria“, sagte ich rasch, ließ das Stück Pappe wie einen stinkigen Fisch an den Baum zurückflitschen und wandte mich schnell dem Belletristik-Regal zu. Zielgerichtet zog ich den neuen King heraus und steuerte unter missbilligendem Blick auf die Cafe-Ecke zu. Es war kalt geworden draußen, erste Schneegestöber zogen durch die Straßen, und ich genoss die heimelige Atmosphäre des kleinen Ladens. Ich nippte an meinem Irish Coffe und blätterte mich durch verschiedene Bücher und Zeitschriften. Im Laufe der Zeit schaute ich immer wieder zu dem Baum herüber, dessen Kugeln im Licht der kleinen Lampen glänzten. Es war bereits dunkel, als ich mich mit einem Stapel Bücher zur Kasse begab. Maria schüttete gerade eine Packung Spekulatius für die Kundschaft in eine kleine Schale. „Als Geschenk einpacken?“, fragte sie knapp. „Nein, die sind alle für mich“. Sie nickte wissend. „Haben Sie schon alle Geschenke? Sind ja nur noch drei Wochen bis Weihnachten.“ Ich räusperte mich. Was sollten diese Fragen, ich wollte hier einkaufen und nichts weiter, verdammt noch mal. „Es gibt niemanden, dem ich was schenken könnte“. Ich sah sie erstaunt an, drehte mich einmal um mich selbst, aber der Laden war leer. Hatte ich das wirklich gerade gesagt? „Verstehe“. Maria lächelte nun und sah zum Weihnachtsbaum rüber. „Es macht ihnen wirklich Freude, wissen Sie.“ Ohne Maria aus den Augen zu lassen, tastete ich nach dem Baum und zog ihm eine Kugel ab. Ihr Lächeln begleitete mich bis nach Hause, wärmte mich durch die kalten Straßen.


    Sandy ließ in der Küche gerade eine Packung Eier in den Mülleimer fallen. „Die sind nicht BIO“, raunte sie mit vorwurfsvoller Stimme und schob schnell hinterher: „Wo warst du denn so lange, Liebling?“ Ich hängte meine Jacke an die Garderobe und legte die Einkäufe auf den Tisch. Wie immer war unsere Wohnung perfekt aufgeräumt. Sandy hatte die blonden Haare, die ihre perfekte Weiblichkeit perfektionierten, hochgebunden, und ging nicht weiter auf mein „Nur ein paar Dinge besorgen“ ein. „Du weißt ja, dass wir uns nichts schenken … nächstes Mal kaufe bitte Bio-Eier, ja, diese Freilanddinger bekomme ich einfach nicht runter ...“, sie stockte, als ihr Blick auf die Wunschkugel fiel. „Was ist das denn?.. Ein Spaziergang?“ Ihre Stimme erreichte die höheren Tonlagen. „Mit jemandem aus dem Haus Maria Einsiedel, diesem Altersheim? Seit wann machst Du denn bei diesem Unfug mit?“ Ich räusperte mich. Sandy und ich waren eigentlich immer derselben Meinung. An Weihnachten würden wir mit ihrer Familie essen, ein Essen, das sie kochen würde. Nach dem Eklat vor zwei Jahren lehnten meine Eltern jede Einladung stoisch ab. Sandy bekundete stets Bedauern, ich aber wusste, dass sie froh darüber war. Sie lehnte meine Eltern ebenso ab wie meinen Besuch bei ihnen an einem der Feiertage. Wir hatten oft darüber diskutiert und schließlich eine Art Waffenstillstand geschlossen. Es waren immerhin meine Eltern. Geschenke machten wir uns schon lange nicht mehr, abgesehen von größeren Anschaffungen wie dem Fernseher im letzten Jahr und dem diesjährigen Urlaub in der Dominikanischen Republik. All In. „Das war eine spontane Idee, ich weiß auch nicht“, murmelte ich eher, als dass ich redete. Ich schielte auf die Wunschkugel, auf der tatsächlich „Spaziergang“ draufstand und nicht „Spazierstock“, wie von mir beim ersten Überfliegen im schummerigen Licht des Buchladens angenommen. Jemand wünschte sich ernsthaft einen Spaziergang? Frau Helga Wandke, las ich leise. „Na dann viel Spaß beim Leichenschieben." Sandy lächelte spöttisch. Sie zog die hohen Stiefel an und warf sich in ihren Mantel. An ihren Ohren baumelten blinkende Weihnachtsmann-Ohrringe. „Bin heute mit den Mädels auf dem Weihnachtsmarkt verabredet, wird bestimmt später.“ Sie gab mir einen Kuss auf die Wange, roter Lippenstift, Parfümgeruch kitzelte meine Nase. „Warte nicht auf mich.“


    Die Tage vor Weihnachten vergingen wie im Flug. Weihnachtsfeier folgte auf Weihnachtsfeier, vom Betrieb, vom Fitnessclub, mit den Kumpels. Sandy tüftelte das perfekte Weihnachtsmenü aus und schickte mich nicht nur einmal zu Feinkost Schmidt, um die dafür benötigten Leckereien zu besorgen. Es war an einem Freitag, wieder war es dunkel, als ich mit einer Flasche Gin den Laden verließ und dabei mit Maria zusammenstieß. Sie fluchte erst, aber als sie mich erkannte, lächelte sie. Feine Schneeflocken verfingen sich in ihren Wimpern und den dunklen Locken, sie sah aus wie ein Engel mit der falschen Haarfarbe. Ich wollte schnell weiter, weil ich die Frage befürchtete, aber es war zu spät. „Wie geht es Frau Wandke?“ „Ich, ähm ...“, stammelte ich, was Antwort genug war. Maria lächelte nicht mehr. „Sie gehen nicht hin?“ Sie seufzte. „Geben Sie mir die Kugel, ich sage dann, dass ich sie genommen habe. Ich besuche dort ohnehin regelmäßig meine ehemalige Nachbarin.“ Ich stutzte. Sie hielt mich für einen Feigling und machte keinen Hehl daraus? Und sie kannte diese Frau... Wandke. „Wie kommen Sie denn darauf“, protestierte ich. „Eben wollte ich los, ich habe nur noch schnell ein kleines Mitbringsel besorgt.“ Maria betrachtete die Flasche in meiner Hand. „Wissen Sie was, ich komme mit ins Einsiedel. Ich wollte sowieso noch dort vorbeisehen“. Zu meinem Erstaunen hakte sie sich bei mir unter, sie reichte mir nur knapp über die Schulter, aber sie hätte gut und gerne zwei Köpfe größer sein können. Sie schien mich zu überragen und zu strahlen, Köpfe verdrehten sich nach uns, Blicke streiften uns, wo wir auch langliefen.


    Das Haus lag wie ein Schloss inmitten schneebedeckter Wiesen. Lichter leuchteten warm, und im Foyer stand ein kleiner, hübsch geschmückter Tannenbaum. Die korpulente Frau an der Information begrüßte Maria freundlich, mich sah sie schließlich fragend an. „Ja, bitte?“ „Ich möchte zu … zu... „Das hier ist Frau Wandkes Wunschkugel“, half Maria. Die Frau schloss nur langsam ihren Mund. „Frau Wandkes Spaziergang also. Nun, dann wollen wir mal.“ Beschwerlich erhob sie sich, führte uns durch die Gänge. In einem Zimmer saßen Senioren am Tisch, kneteten Plätzchenteig und sangen vor sich hin. Drei Kerzen brannten am Adventskranz, eine alte Frau winkte, als sie mich sah. Es roch steril, aber auch merkwürdig süßlich. Frau Wandke saß alleine in ihrem Zimmer, Maria und die Pflegerin ließen mich und mein Unbehagen mit ihr allein. Die alte Frau hatte weiße Haare, die Haut im Gesicht fühlte sich zum Boden hingezogen. Sie sah mich durch ihre dicken Brillengläser eine gefühlte Ewigkeit stumm an, dann stand sie ruckartig auf, um sich anzuziehen. Als ich sie stützen wollte, fuchtelte sie unwirsch mit den Armen. Wir verließen das Haus, liefen durch verschneite Straßen, während sie mit ihrem Rollator die Richtung vorgab und ich völlig ratlos war. Immer wieder versuchte ich, Gespräche zu beginnen, aber sie schien taub. Oder stumm. Oder beides. Nach einer halben Stunde - wir erreichten die „Fette Ecke“, eine meiner Lieblingskneipen - platzte mir der Kragen. Wie gerne würde ich jetzt mit den Jungs ein Bier trinken. „Was soll der Scheiß eigentlich?“, blaffte ich sie an. „Weshalb wünscht sich jemand bei so einer Schweinekälte einen Spaziergang und ist dann so dermaßen undankbar, verdammt noch mal? Was mache ich hier überhaupt?“ Ein Pärchen ging an uns vorüber. "Guck mal, Harold und Maude", lallte das gepiercte Mädchen, und ihr Macker kicherte blöd. Alles war still, nur ein Leuchtstern im Fenster blinkte vorwurfsvoll in allen Regenbogenfarben SOS. Ich war laut geworden, meine Hände waren starr vor Kälte. Sie zitterten, als ich die Flasche Gin öffnete und ansetzte. „Darf ich auch mal?“ Die Stimme war klar und lieblich, gar nicht alt. Frau Wandke blickte zu mir auf, ihre Augen funkelten wie die eines jungen Mädchens. Ich reichte ihr verwundert die Flasche, sie nahm einen tiefen Schluck. „Das war gut.“ Ihre Wangen nahmen augenblicklich Farbe an. „Ich hasse Weihnachten. Gefühlsduselei, wo man nur hinsieht. Die dicke Meier, die eigentlich ganz okay ist, aber an Weihnachten immer rührselig wird. Frau Wandke, backen sie doch auch mal Plätzchen, wir sind hier doch eine Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft, pah... wir haben nur das gemeinsam, dass wir dort zusammen leben, bis unser Leben vorbei ist. Was hat das mit Plätzchen backen zu tun. Ich bin ganz gerne im Einsiedel, habe dort sogar einige Freunde kennengelernt. Aber ich hasse dieses Tamtam um Weihnachten, als wären wir alle Kinder. Und dann diese dämliche Wunschkugel-Aktion. Ich will nur meine Ruhe. Ich konnte doch nicht wissen, dass sich tatsächlich jemand auf einen Spaziergang einlässt. In den Jahren zuvor ist meine Berechnung immer aufgegangen. Niemand lässt sich auf einen Besuch im Schwimmbad oder auf ein Kaffeetrinken mit einem welken Stück Fleisch ein, da wird doch jedem unbehaglich. Die Kugeln blieben immer hängen, das weiß ich, und die liebe Maria behauptet immer, sie genommen zu haben. Wenn ich es mir recht überlege ... Du wolltest Maria bestimmt nur imponieren oder sowas. Freiwillig bist Du niemals hier. Diese Wunschkugelwohltäter erfüllen doch nur Wünsche, um sich dann damit zu brüsten, was sie für gute Menschen sind. Erfüllen den armen, alten Menschen einen Wunsch, um sich toll zu fühlen. Drauf geschissen! Und jetzt bring' mich wieder zurück, damit diese jämmerliche Veranstaltung endlich ein Ende hat.“


    Ich fühlte das Blut in meinen Kopf schießen, Scham füllte jede Zelle meines Körpers. Ich setzte kurz zur Verteidigung an, aber sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, und wir beide wussten es. Der Rückweg verlief schweigend, ich blieb am Eingang stehen, Frau Wandke verabschiedete sich noch nicht einmal von mir. Maria saß mit einer Dame im Gemeinschaftsraum und winkte mir fröhlich, aber ich drehte mich um und ging. Als sie mir rufend nachlief, beschleunigte ich meine Schritte, bis ich sie abgeschüttelt hatte.


    „Wo zum Teufel warst Du denn??“ Sandy riss mir die halbvolle Flasche Gin aus der Hand. „Ich warte schon ewig darauf, ich möchte doch den Weihnachts-Cocktail probemixen.“

  • Die Wunschkugel - Fortsetzung


    An Heiligabend schien unsere Wohnung einem Cover aus der Zeitschrift Schöner Wohnen entsprungen. Das Loft war dezent, aber geschmackvoll geschmückt. Cocktails wurden gemixt, im Ofen brutzelte eine Gans, und weil Sandy an meinem Hemd irgendwas auszusetzen hatte, zog ich mich zu ihrer Zufriedenheit nochmals um. Das Essen mit Sandys Eltern, Manfred und Verona, verlief wie gewohnt. Platte Attitüden beim Cocktail, dumme Sprüche bei der Vorspeise, die sich bis zum Hauptgang kontinuierlich steigerten. „Feiert Ihr jetzt eigentlich Weihnachten oder das Kartoffelsalat- und Würstchenfest?“, fragte Manfred. Er grunzte dabei, seine Art zu lachen. Verona und Sandy prusteten, und als von mir keine Reaktion kam, setze er nach: „Na wegen Sonne- Mond- und Sternefest. Du weißt schon, Sankt Martin.“ Ich nickte und betrachtete den Rotwein im Glas, ölig und satt. Wenn man das Glas langsam schwenkte, zeichnete er gotische Kirchenfenster. Sandy kippte die Flüssigkeit in einem Zug und lallte: „Martin schiebt übrigens seit neuestem Rentner durch die Gegend und fühlt sich dabei unheimlich toll! Er hat tatsächlich so eine Wunschkugel gezogen, um auch mal GUTES zu tun. Mal was Anderes als unsere jährliche Spende an das Rote Kreuz.“ Das Gelächter steigerte sich, ich sah in rote Gesichter, verzerrt von Schminke, aufgedunsen und entstellt. Langsam erhob ich mich, zog Schuhe und Mantel an, nahm meine Schlüssel. „Wohin willst Du denn?“ Sandys Gesichtszüge entgleisten. „Warte nicht auf mich. Wenn ich wiederkomme, bist Du hoffentlich für immer verschwunden.“


    Das Haus meiner Eltern war warm und gemütlich. Mutter bereitete mir ein Bett, wärmte Braten für mich auf, und Vater brachte mir ein eiskaltes Bier. Wir redeten bis tief in die Nacht, und ich verschlief den ersten Weihnachtsfeiertag. Ich brauchte Luft, musste atmen, lief durch verschneite Gassen und warf mein Handy weg, als die fünfte, gifttriefende SMS von Sandy einging. Wir wollten mal Kinder haben, warteten auf den perfekten Augenblick, den es niemals geben würde. Ich hatte mir eine Flasche Gin besorgt und versuchte, den Schmerz zu betäuben, bis ich mich vor dem Haus Maria Einsiedel wiederfand. Ich starrte durch die beleuchteten Fenster. Drinnen wurde getanzt und gelacht. Frau Wandke spielte mit einem Herrn in einer Ecke des Raumes Backgammon, sie warfen sich feurige Blicke zu. Ein alter Mann saß in einem Sessel eingesunken und schnarchte, Speichel rann über sein Kinn. Es war Maria, die mich zuerst entdeckte, die mich ins Haus zog, meine eiskalte Hand in ihre nahm und wärmte. „Wieso bist Du an Weihnachten hier?“, nuschelte ich in ihre Haare, sie rochen nach Seife. „Hast Du kein Zuhause? Bist Du einsam?“ „Ich bin zwar allein“, lachte sie, „aber ich bin nicht einsam. Sieh Dich doch um. Und Du, bist Du einsam?“ Sie drückte meine Hand, zog mich an sich, und ich ließ es geschehen. Lippen, weich und warm. Eine Pflegerin schimpfte, weil Kinderpunsch verschüttet worden war. Frau Wandke blinzelte mir zu. „Ich war es, bis eben.“



    Frohe Weihnachten Euch Allen - Take Care Of The Ones That You Love.

  • 23. Dezember 2013 von batcat


    Weihnachten im Schnee


    Es war Meikes erstes Weihnachtsfest ohne Eltern und der Kampf um diese Tage ging nicht ohne laute Worte und Tränen ab. Aber sie hatte sich durchgesetzt – alles andere wäre auch doof gewesen. Mit 20 ist man schließlich erwachsen und darf auch eigene Wege gehen. Außerdem war Weihnachten im Kreis der Familie langweilig, spießig und sowas von retro.


    Sie fuhr mit Timo und der Clique in die Berge, wo vom 23.12. bis zum 27.12. beinahe rund um die Uhr Programm geplant war: Von der Schlittenfahrt über Raclette am Heiligabend mit anschließender Weihnachtsdisco bis zu einem zünftigen Hüttenabend war alles dabei.


    Timo. Ihr Herz tat einen kleinen Hüpfer. Seit zwei Monaten waren sie nun schon ein Paar und es wurde jeden Tag schöner mit ihm. Timo war einfach klasse: er sah spitzenmäßig aus und er war so intelligent, daß sie sich immer ganz klein neben ihm fühlte. Aber zu ihm sah sie gern hinauf. Er war einfach TOLL.


    Die gemietete Berghütte war ein Traum. Mitten in der Schneelandschaft gelegen und urig möbliert. Das würde das beste Weihnachtsfest ever werden. Soviel stand jetzt schon fest! Gleich nachmittags machten sie ihre Schlittenfahrt. Auf urigen Hörnerschlitten ging es einen kurvigen Ziehweg den Berg hinab ins Dorf. Meike saß vorne und Timo hielt sie fest in den Armen. Konnte es etwas Romantischeres geben? Tief sog sie die glasklare Winterluft ein und fühlte sich großartig.


    Doch dann begannen die Jungs, sich ein Rennen zu liefern. Immer schneller wurden die Schlitten und auch immer unkontrollierbarer. „Hör auf, Timo! Ich habe Angst!“ Doch der lachte nur und nannte sie „mein kleines Angsthäschen“. Das Ganze ging so lange gut, bis Timo vor einer Kurve nicht mehr bremsen konnte und der Schlitten auf eine Böschung zuraste. Timo hechtete noch mit einem Satz vom Schlitten, doch Meike schaffte es nicht mehr. „So ein verdammtes Ar…“ dachte sie noch, dann wurde es dunkel um sie.


    Als sich der Schleier um sie langsam wieder lichtete, lag sie in einem Bett. Der rechte Arm war in Gips gehüllt und sie trug einen Kopfverband. Als sie ihr Gesicht betastete, fühlte es sich unförmig an und in ihrem Kopf brummte es nur so. Außerdem trug sie einen dieser unsäglichen Krankenhauskittel. Eine Krankenschwester mit Flügelchen – Moment mal: Flügelchen??? Doch, eindeutig. Flügelchen. – beugte sich über sie. „Na endlich sind Sie wieder bei uns. Sie waren ja weiß Gott lange genug weggetreten. Frohe Weihnachten… trotz allem!“ WEIHNACHTEN??? Meike war entsetzt.


    Eine zweite Krankenschwester mit Nikolausmütze kam mit einem Telefon herein. „Gut, daß Sie wieder wach sind. Eben habe ich Ihre Eltern am Telefon!“ Maike rollte mit den Augen und nahm den Hörer: „Mama? Das ist aber lieb, daß Du anrufst. Mach Dir keine Sorgen, das wird schon wieder. Was? Herkommen? Heute? Am Heiligabend? Aber ihr wolltet doch mit der Familie feiern! Macht ihr das mal! Später kommt Timo vorbei und wir machen das Beste draus – aber ihr bleibt bitteschön zu Hause und feiert wie geplant!“


    Timo kam sicher vorbei. Sie hatte ja nichts dabei im Krankenhaus, außer der Kleidung, die sie bei der Einlieferung trug – und die sah jetzt auch nicht mehr so aus wie vorher. Er mußte ihr doch ihre Reisetasche vorbeibringen und auch, wenn Weihnachten nun ganz anders verlaufen würde, würden sie ihre kleine Bescherung dann eben hier abhalten. Meike fühlte sich schon nicht mehr ganz so schlimm.


    Der Tag verging und um sie herum herrschte ein reges Treiben: Besucher kamen und gingen, doch Timo war nicht dabei. Als es draußen dunkel wurde, mußte sie sich eingestehen, daß er wohl nicht mehr kommen und sie tatsächlich an Heiligabend alleine lassen würde. Sie verkroch sich in ihre Kissen, damit niemand ihre Tränen mitbekam.


    Doch allzulange ließ man sie nicht in ihrem Kummer alleine: Die resolute Schwester Kirsten mit den Engelsflügeln machte die Runde und lud alle Patienten in den Aufenthaltsraum ein. Und so wankte eine Karawane der üblichen Winterunfallverletzten mit Gipsarmen, Kopfverbänden und an Krücken in den Aufenthaltsraum, wo die gutgelaunten Schwestern alkoholfreien Punsch und Kekse für alle vorbereitet hatten. „An Weihnachten soll man doch fröhlich sein. Auch und gerade im Krankenhaus!“


    Rasch war das Eis unter den Patienten gebrochen – schließlich hatten sie alle etwas zu erzählen: wie es dazu kam, daß sie an diesem Tag hier waren. Einer überbot den anderen an Dramatik – es war fast wie zuhause, wenn Meikes Vater und seine Kumpane ihr Anglerlatein zum Besten haben – und zu vorgerückter Stunde sangen sie sogar noch gemeinsam Weihnachtslieder. Alles in allem war der Abend gar nicht so furchtbar, wie es anfangs ausgesehen hatte. Naja, wenn man mal vom faden Krankenhausessen absah, das auch am Weihnachtsabend keinen Preis gewinnen würde. In dieser Nacht schlief Meike gut.


    Timo ließ sich am ersten Feiertag nicht blicken und am zweiten auch nicht. Meike war verärgert und zutiefst enttäuscht . Zum einen, weil ihr Freund sie so schmählich im Stich ließ und zum anderen, weil sie nach wie vor den furchtbaren, hinten offenen Krankenhauskittel tragen mußte. Wenn ihr die Schwestern nicht Zahnbürste und Waschsachen zugesteckt hätten, hätte sie echt alt ausgesehen.


    Am 27.12. öffnete sich die Türe und ein sichtlich gut gelaunter und von der Wintersonne gebräunter Timo trat ins Zimmer. Mit Schwung warf er ihre Reisetasche aufs Bett und begann sofort, zu erzählen: „Du ahnst ja gar nicht, was Du alles verpasst hast in den letzten Tagen…“ Doch Meike bremste ihn aus.


    „Es ist mir völlig egal, was Du in den letzten Tagen erlebt hast. So wie Dir ja auch egal war, was mit mir los war. Du hast Dich weder nach mir erkundigt, noch mich besucht. Du hast ja noch nicht einmal meine Tasche hier abgegeben. Und jetzt meinst Du, Du kommst hier rein und machst auf Sonnyboy? Mach das mit jemand anderem. Es ist SCHLUSS!“


    „Aber Häschen…“


    „Ich bin nicht Dein Häschen. Ich bin niemandes Häschen. Ich bin schon gar kein HASE! Ich bin eine erwachsene und ernstzunehmende Frau. Geh bitte. Sofort!“


    „Ja, aber wie willst Du ohne mich denn heimkommen?“
    „Egal. Mir fällt schon was ein. GEH ENDLICH!“


    Sie konnte fast sehen, wie Timo den Schwanz einkniff und zur Türe schlich.


    Zu ihrer großen Überraschung fühlte sie sich gut. Befreit. Und nach Hause würde sie auch ohne Timo kommen. Das neue Jahr wartete auf sie… voller Überraschungen!

  • 24. Dezember 2013 von churchill


    Alle Jahre wieder

    „Freust du dich denn gar nicht? Wir haben uns den Kopf zerbrochen. Aber du hast es uns auch nicht gerade leicht gemacht! Überraschen lassen … Du freust dich nicht? Oder?“


    „Doch, Mama, ich freue mich sogar sehr.“ Sagte ich und meinte ich. Ich war sechzehn. Überraschen lassen wollte ich mich wirklich. Die Wünsche, die ich vielleicht hatte, waren zu groß. Besser gesagt, die Erfüllung zu teuer. Heute habe ich keine Ahnung mehr, was ich mir damals eigentlich gewünscht hatte. Aber ich weiß genau, dass ich mich überraschen lassen wollte. Jedes Jahr wieder. Weihnachten war überhaupt nicht doof. Es war so vertraut …


    Der Heilige Abend begann schon morgens. Direkt nach dem Frühstück zog sich mein Vater ins Wohnzimmer zurück. Er schmückte den Baum. Er platzierte die Geschenke. Für meine Mutter, meine beiden Geschwister und mich. Das dauerte. Von morgens um zehn bis nachmittags um fünf. Aus dem Wohnzimmer erklang klassische Musik. Oder Weihnachtsmusik. Oder klassische Weihnachtsmusik. Mein Vater stellte den Baum auf, versah ihn mit einer Lichterkette, schmückte ihn dann mit silbernen Kugeln. Und mit Lametta. Gezielt.


    Immer wieder machte er eine Pause, besah sich sein Werk, korrigierte. Bis er sah, dass es gut war. In den Pausen genoss er den Wein. Er wusste, heute störte ihn keiner, heute kritisierte ihn keiner. Er ließ sich, schön verteilt über den Tag, die Geschenke durch den Türspalt anreichen. Suchte den passenden Sessel, die geeignete Stelle auf der Couch oder auf dem Tisch für jeden von uns aus. Sortierte grob und machte Pause. Schenkte nach.


    Für uns war der Tag lang. Der Fernseher stand nämlich im okkupierten Wohnzimmer. Als wir klein waren, malten wir Bilder von der Krippe. Irgendwann waren wir älter und warteten, ohne zu malen. Währenddessen legte mein Vater letzte Hand an die Geschenke. Der große Sessel wurde mit denen für meine Mutter gefüllt.


    „Auf keinen Fall wieder so viel wie letztes Jahr! Ich will keine Geschenke. Wenn das wieder so viel ist, gehe ich raus!“ Meine Mutter wollte jedes Jahr keine Geschenke. Und mein Vater füllte den Geschenkesessel jedes Jahr wieder, auch um damit einiges von dem auszugleichen, was er im Lauf des Jahres auszugleichen hatte. Zum Schluss nahm er das Jesuskind aus der Krippe und versteckte es in diebischer Vorfreude darauf, seine Familie später danach suchen zu lassen.


    Vor der Bescherung das obligatorische Kaffeetrinken. Ob mit acht oder mit achtzehn, wir warteten sehnsüchtig auf die Show meines Vaters. Umständlich begann er darzulegen, wessen Geschenke in welchem Eck unseres durchaus überschaubaren Wohnzimmers auf uns warteten. Am Ende des Vortrags der Satz, nach dem wir uns schon lachend sehnten: „Und die freie Fläche auf dem Tisch, die ganz große freie Fläche …“ Ja, Papa, wissen wir, die ist für deine Geschenke bestimmt! Sein Honigkuchenpferdgrinsen zeigte, wie sehr auch er diese Augenblicke genoss.


    Mein Vater verschwand gegen fünf im Wohnzimmer, irgendwann das Glöckchen, die Musik vom Plattenspieler, das gemeinsame Betreten des Weihnachtszimmers, die verstohlenen Blicke auf die noch schön verpackten Geschenke. Erst kam Lukas 2, dann „O du fröhliche“, dann erst das Auspacken. Meine Mutter verzweifelte, weil sie schon wieder viel zu viele Geschenke bekommen hatte, mein Vater wartete mit dem Auspacken bis zum Schluss, erst kamen alle anderen dran. Der Reihe nach.


    Auch ich hatte ausgepackt und war überrascht worden. Das hat geklappt. Mal mehr, mal weniger. Während meine Geschwister meinen Eltern jedes Jahr jauchzend um den Hals fielen, blieb ich still und saugte den Augenblick in mich auf. Fröhlich sah ich dabei offenbar nie aus, was meiner Mutter weitere Momente der Verzweiflung bescherte.



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    Heiliger Abend 2013. Bereits das zweiundzwanzigste Weihnachten ohne meine Mutter. Auch schon das fünfte ohne meinen Vater. Habe längst eine eigene Familie mit schon erwachsenen Kindern (die selbst schon Partner haben) und zum Teil noch ganz kleinen Pflegekindern. Vieles ist anders als früher. Die Rituale zweier Familien verschmolzen, neue bildeten sich heraus. Meine Frau und ich schenken uns inzwischen wirklich nicht mehr viel. Und bei den Kindern nehmen wir uns das auch vor. Alle Jahre wieder. Unser Weihnachtsbaum ist bunter als in meiner Kindheit, die Kerzen sind echt, Lametta kein Thema.


    Aber ich freue mich immer noch und spüre diese seltsame Stimmung wieder. Werde nie ein Weihnachtsmuffel sein. Drei eigene und fünf Pflegekinder sind manchmal durchaus ein bisschen anstrengend. Aber in jener Stunde am Heiligen Abend zwischen fünf und sechs kommt garantiert die Belohnung. Strahlende Gesichter in verschiedenen Ausführungen.


    Und Jonas. Er ist sechzehn und will sich überraschen lassen. Und wird, wenn er ausgepackt hat, nicht so aussehen, als ob ihm das Geschenk gefällt. Aber er wird uns mit todernstem Blick versichern, dass er sich total freut.


    Und Mama wird von irgendwoher zusehen, ihre nie erlebten Enkel betrachten, ihren Ältesten und seine Frau anschauen und denken, dass es viel zu viele Geschenke sind.


    Und Papa wird am himmlischen Weihnachtsbaum die Lamettafäden korrigieren, sich Wein nachschenken und mit seinem Honigkuchenpferdgrinsen darauf hinweisen, dass die ganz große freie Fläche auf dem Tisch … Dann wird er das Jesuskind, nach dem alle suchen, heimlich zurück in die Krippe legen.


    Frohe und gesegnete Weihnachten!