Schreibwettbewerb Januar/Februar 2014 - Thema: "Aussichten"

  • Thema Januar 2014:


    "Aussichten"


    Vom 01. bis 31. Januar 2014 - 18:00 Uhr könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb Januar 2014 zu o.g. Thema per Email an schreibwettbewerb@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym am 1. Februar eingestellt. Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!



    Achtung: Achtet bitte auf die Änderungen! Annahmeschluß ist ab sofort immer am Monatsletzten um 18:00 Uhr und die e-mail Adresse hat sich wie folgt geändert - schreibwettbewerb@buechereule.de

  • von StellaLuna15



    Ich reite auf einer Stute am Meer…sie wiehert und beginnt, zu galoppieren. Wir werden immer schneller, schneller als der Wind, der uns in den Rücken bläst. Dem Schimmel wachsen Flügel, sie sind schneeweiß und für normale Menschen nicht zu sehen.
    Auch mir wachsen Flügel, aus purem Feuer. Stichflammen und Feuerfunken umzüngeln mich. Ich gleite von der Stute und schwebe neben ihr…
    Doch wo bringt sie mich hin? Wohin will sie mich führen?
    Plötzlich tauchen Drachen neben uns auf. Sie greifen uns nicht an. Sie scheinen in meinen Gedanken „Komm mit uns!“ zu rufen.
    Unter uns taucht ein gigantischer Wasserfall auf. Die Luft um uns herum wird feuchter. Ein Regenbogen entsteht…
    Wir fliegen hindurch…und landen.
    Hinter dem Wasserfall befindet sich eine Höhle, Gold und Diamanten leuchten mir entgegen. Die Augen der darin lebenden Wölfe reflektieren das Glitzern der Edelsteine. Ein Fluss endet in der Unendlichkeit.
    Am Horizont kann ich Berge erkennen, die Sonne geht hinter ihnen auf und lässt ihre Strahlen wie einen goldenen Kranz um die Gipfel wirken. Es dämmert…
    Der Drache landet direkt neben mir. Und wieder erklingt seine raue Stimme in meinem Hinterkopf. „Feuerelfe.“ Spricht er. Nun segelt auch der schneeweiße Schimmel zu Boden. Ich frage: „Wer bin ich?“ Diesmal antwortet der Pegasus. „Du bist die legendäre Feuerelfe und hier ist dein Zuhause. Wir sind froh, dass du gesund zurückgekehrt bist, an diesen Ort der Magie.“
    Meine Erinnerungen kehren an ihren Platz zurück. Ich gehöre hierher, schon immer. Und hier werde ich bleiben, bis in alle Zeiten. Dieser Traum wird niemals zu Ende gehen…

  • von Marlowe



    Er war müde. Müde und verzweifelt. Eigentlich sollte er unterwegs sein, um irgendwie irgendjemandem irgendwo ein paar Euro abzuschwatzen, damit er die ansonsten unvermeidlich kommende schmerzhafte Begegnung mit dem Geldeintreiber noch verhindern konnte.


    Reine Energieverschwendung, wie er nur zu genau wusste. Statt dessen lag er auf seiner Couch, starrte zum tausendsten Male auf den winzigen schwarzen Fleck an der Decke und fühlte sich wie magisch von ihm angezogen. Fliegendreck, ein Rußpartikel? Er hatte das nie überprüft, die Wahrheit hätte diesem Fleck seine Magie entzogen.


    Wie immer entspannte er sich während er sich in den Fleck vertiefte, genoss diesen Trancezustand in den er zum wiederholten Male geriet, versuchte diesen Moment in eine Ewigkeit zu verlängern. Der Fleck, sein eigenes kleines Schwarzes Loch, wurde zu seinem Lebensinhalt, seinem Ziel, unscheinbar und doch etwas imaginäres versprechend.


    Die Welt hinter dem Fleck, der Fleck über dieser Welt und die Welt hinter diesem Fleck. Eine Perlenschnur bestehend aus Flecken und Welten, an der er sich entlangzog, dem Diesseits entfliehend.


    Trance als Zeitverschwendung um der Zeitverschwendung mit der Suche nach Profanem zu entgehen. Wie ein Fleck, der nur existierte, um den nächsten Fleck anzukündigen.


    Dieser Zustand war herrlich, dieses Gefühl der Schwerelosigkeit im Raum zwischen seinem Fleck und seinem Körper auf der Couch. Diese Stille, einem unhörbaren anhaltenden Ton gleich, beseelt durch eine Partitur von einzelnen Atomen, die seinen Geist nur streiften und diesem Ton dadurch eine universelle Melodie entlockten.


    Klangatome forderten ihr Recht ein. Wollten der Melodie einen Takt aufzwingen.


    Poch. Poch. Nein, kein Zwang , nicht jetzt.


    Er ließ sich gehen, gab sich hin und fiel hinauf. Griff hinein und hangelte sich davon.


    Die Trance ließ nach. Er blickte sich um. Was für eine schöne Gegend stellte er fest und rappelte sich auf. In der Ferne stieg dünner Rauch auf. Langsam ging er in diese Richtung. Egal was ihn erwartete, er trug seine Perlenkette in sich und er lächelte zufrieden. Seine Reise hatte gerade erst begonnen.

  • von churchill



    Die kleine graue Kirchenmaus
    wollt endlich einmal hoch hinaus,
    entfliehen ihrem dunklen Keller.
    Die Treppe rauf. Erst schnell. Dann schneller.
    Fast war sie oben auf dem Turm,
    da traf sie einen armen Wurm,
    der schlich nicht gerade munter
    die Stufen wieder runter,
    wobei er zwar nicht klagte,
    aber auch sonst nichts sagte.


    Da hat die Maus gedacht:
    Das wäre doch gelacht!
    Ich lass mich nicht verdrießen
    und will den Blick genießen
    vom Turmfenster ganz oben.
    Den Schöpfer endlich loben
    in offener Natur
    mit Sicht auf Wald und Flur.
    Dann schaute sie voll Wonne
    direkt fast in die Sonne.


    Hier wollt sie ewig bleiben
    und sich die Zeit vertreiben.
    Sie war ne Maus fürs Licht!
    Der Keller lag ihr nicht.
    Im Modrigen und Feuchten
    konnt sie nicht richtig leuchten.
    Hier bleib ich. Könnt ihr glauben!
    Da nahten sich zwei Tauben,
    die prompt, ihr werdet's wissen,
    auf unser Mäuslein schissen.


    Ganz unten in dem Kirchenhaus
    sitzt unsere kleine graue Maus,
    berichtet gerade allen,
    es hätt ihr nicht gefallen
    dort droben auf dem Turm.
    Da grinst der arme Wurm.
    Sie sagt, es regnet. Wind sei kalt.
    Da oben werde man nicht alt.
    Und hier sei's eh viel heller.
    Im Keller ...

  • von Rumpelstilzchen



    Urlaub ist das jedenfalls nicht. Nordsee im Juni. 13° Celsius. Dauerregen.


    Die beiden „Großen“, Julia, fünf, und Nina fast drei Jahre alt, langweilen sich. Am Strand stört sie der Wind. Die mitgebrachten Spiele sind zigmal gespielt. Tobias, der Jüngste, 10 Monate alt, verträgt das Nordseeklima schlecht. Er schläft höchstens eine Stunde am Stück. Natürlich ist er übermüdet und quengelig. Die zur Entlastung mitgereiste Großmutter liegt mit Bronchitis und Fieber auf dem Sofa.


    Aber heute scheint der Wettergott ein Einsehen zu haben. Es ist trocken. Die Sonne schickt helle Strahlen durch die weißen Wolken. Tobias und Nina sitzen im Gras und pflücken Gänseblümchen. Bis auf das Geplapper und Gekicher der beiden Kinder ist es still. Die Sonne wärmt angenehm, fast nicke ich auf dem Stuhl ein.


    Aber wo ist Julia? „Juulia“, rufe ich. Keine Antwort. “Nina, wo ist Julia?“ Nina deutet ins Haus. „Reingegangt mit Blauohrhase“. Auch Tobias deutet nach drinnen und kreischt begeistert: „da, da, da“. Im Haus ist es still, nur das leise Schnarchen meiner Mutter tönt vom Sofa. „Julia“, rufe ich, gehe ins Kinderzimmer, in die Küche, ins Bad. Niemand. Die Gartentür zur Straße steht offen, obwohl ich sie immer sorgfältig schließe. Ich rüttle meine schlafende Mutter wach. „Mama, pass auf die Kleinen auf. Julia ist weg, ich suche sie.“


    Wo kann sie sein? Vielleicht beim Bäcker um die Ecke, bei dem sie jeden Morgen die Brötchen holt. Bestimmt ist sie dort. Den Weg kennt sie. Ich laufe das kurze Stück das kleine Sträßchen entlang, biege links auf die Hauptstraße ab. Nirgends ein Blondschopf im roten Ringelpullover. Ich stürze in den kleinen Bäckerladen, frage Herrn Nissen, ob er Julia gesehen hat. „Nicht seit heute Morgen“. Langsam gerate ich in Panik, meine Gedanken rasen. Die Autos fahren sehr schnell hier, schon stelle ich mir die kleine Gestalt im Straßengraben vor. Mir ist schlecht, mein Magen rebelliert.


    Schluss jetzt. Sicher ist sie zum Leuchtturm gegangen, den Leuchtturmwärter suchen. Ich renne über die Straße, schaue in alle Richtungen. Nur ein Radfahrer fährt Richtung Deich. Mein Herz rast, die Beine zittern, Seitenstiche. Egal, nur weiter, den schmalen Plattenweg entlang. Auf dem Deich: Radfahrer, ein Jogger mit Hund, eine Gruppe Jugendliche. Keine Julia, kein Blondschopf.


    Wohin jetzt? Der Spielplatz zwischen den Dünen, vielleicht ist sie dort. Ich haste die sandigen Wege entlang. Immer wieder rufe ich: „Julia, Julia“. Da, der Spielplatz. Am Sandkasten sitzt ein Mann mit zwei Kindern und backt Sandkuchen. Sonst niemand. Doch, da. Ganz oben, auf dem Klettergerüst, hinter dem Mast mit der Piratenflagge. Eine kleine Hand deutet nach Norden, dahin, wo das Meer ist. Die andere Hand hält einen Stoffhasen mit langen blauen Ohren über das Geländer. Vor Freude und Erleichterung laufen mir die Tränen übers Gesicht, als ich die aufgeregte Stimme höre: „Schau, Blauohrhase, da vorne, da ist Panama.“

  • von arter



    „Information! Regional-Express nach Flensburg, Abfahrtszeit 18 Uhr 23 heute. Voraussichtlich! Zwanzig Minuten später?" Es ist klirrend kalt, ich will nach Hause. Die Frauenstimme in den Lautsprechern stellt mir diese absurde Frage. Wie soll ich das beantworten? Nein, das ist natürlich keine Frage, die an mich gerichtet ist. Die Ansagen der Deutschen Bahn werden seit einiger Zeit von Sprechautomaten generiert. Mit der Intonation nimmt es diese Software nicht so genau. Bin ich der einzige den das verwirrt?


    Ich mache mich auf eine längere Wartezeit gefasst. Auf diesem Provinzbahnhof gibt es nichts, was mich für voraussichtlich zwanzig Minuten erwärmen könnte. Das sieht die eingemummte Gestalt neben mir offenbar anders und steckt sich eine Zigarette an.


    „Das Rauchen ist nur in den gekennzeichneten Raucherbereichen gestattet", verkündet Miss DB-Robot prompt. Sie betont das Wort gekennzeichnet. Das klingt so, als gäbe es auch ungekennzeichnete Raucherbereiche. Allerdings ist das Rauchen da verboten. Ich versuche den Knoten in meinem Hirn aufzulösen, was mir schwer gelingt. Pflichtbewusst tippe ich der rauchenden Kapuzenfigur auf die Schulter: "Entschuldigung, in den ungekennzeichneten Bereichen dürfen sie nicht rauchen". Es handelt sich um einen jungen Mann mit wulstigen Lippen und einer Narbe auf der Wange. "Eine auf die Fresse?", fragt er mit eindeutiger Intonation. "Ich meine ja nur, falls sie von der Ansage auch verwirrt sind. Es liegt mir natürlich fern ihnen Ratschläge zu geben, ..." Er blickt finster. Vorsichtshalber verzichte ich auf weitere Ausführungen.


    „Sicherheitshinweis: Bitte lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt!" meldet sich die Roboterdame. Da der Kapuzenmann ohne Tasche unterwegs ist und sich außer uns niemand auf dem Bahnsteig befindet, kann sie nur mich meinen. Ich führe in meinem Köfferchen nur benutzte Wäsche von zwei Tagen mit mir. Wessen Sicherheit gefährdete ich, wenn ich es einen Moment hier abstellte? Nicht dass ich das vorhätte, aber mich irritiert, dass von meinem Koffer angeblich eine Bedrohung ausgeht. Selbst wenn die Kapuzenfigur mein Gepäck stehlen würde, bestünde keinerlei Sicherheitsrisiko, denn ich wäre vernünftig genug, wegen eines alten Koffers mit Dreckwäsche keinen Streit anzufangen.


    Inzwischen beginne ich zu ahnen, in welche Richtung die Verdächtigung geht. Offenbar beschuldigt mich die Deutsche Bahn, dass ich einen Bombenkoffer mit mir führe. Ich finde diese Anschuldigung ungeheuerlich. Da sich niemand sonst auf dem Bahnsteig befindet, frage ich mutig den Kapuzenmann, dessen Blick immer noch feindselig ist. "Fühlen Sie sich eigentlich durch meinen Koffer bedroht?" In seinem Blick erscheinen Fragezeichen. "Ich versichere ihnen, dass ich nicht vorhabe, uns beide in die Luft zu sprengen." Ich möchte ihm beweisen, dass ich harmlos bin und nestele an dem Reißverschluss. Er soll ruhig sehen, dass ich nur unbedenkliche Gegenstände mit mir führe. Ich begreife nicht, warum er daraufhin panisch Reißaus nimmt.


    Dann bin ich allein. Allein mit Frau Robot. Alle fünf Minuten zucke ich zusammen. wenn sie mich an das Rauchverbot und die Gefahr erinnert, die von meinem Gepäckstück ausgeht. Ich bin inzwischen zu einem Eisblock erstarrt. Allmählich beginne ich darüber nachzusinnen, was ich bei der Verspätungsansage eventuell noch missverstanden haben könnte. Was verbirgt sich eigentlich hinter diesem Wort: „Voraussichtlich?"

  • von Inkslinger



    „Hey, haste die gesehen?“ Jan drehte sich zu seinem Kumpel um.
    „Wen?“ Lars zeigte auf die gegenüberliegende Bar.
    „Die Schnecke da! Die ist der Hammer!“
    Jan zuckte mit den Schultern.
    „Nicht mein Typ.“
    „Was laberst du denn? Was besseres findest du hier nicht. Geh ran, Alter, sie guckt zu dir rüber.“
    Unauffällig schaute Jan zu der Frau. Tatsächlich lächelte sie und winkte ihm zu.
    „Wieso tut sie das? Was soll ich jetzt machen?“
    Lars verlor sichtlich die Geduld mit seinem besten Freund.
    „Geh rüber und sprich sie an!“



    Mit Hilfe eines Tritts in den Hintern setzte Jan sich in Bewegung. Angesichts der ungewohnten Situation machte sich leise Panik breit. Während er sich langsam aber sicher dem Zielobjekt näherte, checkte er es von oben bis unten ab.
    Lange rote Locken schmückten ihr Gesicht, aus dem ihm grüne Augen herausfordernd anleuchteten. Die Lippen waren voll und lockten ihn mit dem schönsten Lächeln, das er je gesehen hatte. Sein Blick wanderte über den weißen, von Sommersprossen geküssten Hals zu dem wohlgeformten Dekolleté. Über die oberen ging es weiter zu den mittleren und unteren Kurven. Alles nahezu perfekt. Er kam nicht umhin sich zu fragen, ob sie überhaupt weibliche Freunde hatte. Frauen mussten sie einfach hassen!


    Lässig platzierte er einen Arm auf der Bar.
    „Hallo!“, rief er über die laute Musik hinweg. „Ich bin der Jan. Wer bist du?“
    „Isch bin da Beverly.“, lallte das perfekte Wesen.
    „Freut mich! Möchtest du noch was trinken, Beverly?“
    Sie überlegte. Als er schon die Hoffnung auf ein Gespräch aufgeben wollte, sagte sie:
    „Nee, möscht isch nich. Aba du kannscht mich nach Haus bringen.“


    Zwei Stunden später kamen sie in Beverlys Wohnung an.
    „Keine Bange, meine Mitbewohnerinnen sind unterwegs. Die sind zwar schon 21, aber noch voll gut druff.“
    „Wieso, wie alt bist du denn?“
    „18. Macht aber nix, wenn du schon fuffzig oder so bist. Isch steh auf olle Männer.“
    Sie kam auf ihn zu und fing eine wilde Knutscherei an. Sofort vergaß Jan seinen 'olle Männer'-Stolz und legte sich voll ins Zeug. Er verschlang die Frau förmlich mit Haut und Haar, während seine Hände das jugendliche Wunderland erkundeten.


    Blind um sich schlagend erreichten die Fummler Beverlys Zimmer und wurden prompt von Hello-Kitty-Plakaten begrüßt. Durch den Schleier der Geilheit hindurch hörte er ein leises 'Scheiß drauf!' in seinem Hinterkopf und warf seine zukünftige Sexpartnerin auf ihr lila-grün-kariertes Bett. Begierig befreite er erst sich und dann sie von den Klamotten.


    Nach einigen heißen Minuten rief Beverly:
    „Wasn los mit deinem Kleenen? Wo bleibt er denn?“
    Jan schaute an sich herab. Sein kleiner Freund, dem er in diesem Moment gerne die Freundschaft gekündigt hätte, hing teilnahmslos zwischen seinen Beinen. Auch minutenlanges Zureden und Streicheleinheiten halfen ihm nicht auf.



    „Jetzt mach schon! Was ist denn los?“
    Jan schüttelte den Kopf und guckte Lars peinlich berührt an.
    „Das lohnt die Mühe nicht, Alter. Ich geh lieber heim.“
    Ohne auf eine Reaktion seines Kumpels zu warten, verließ er den Club und somit auch die rothaarige Versuchung.

  • von Dazzled



    Aussichten sind schon was ganz Besonderes. So vielfältig. Und für manche muss man auch ziemlich hart arbeiten.


    Wenn man noch klein ist, dann sind die Aussichten, die die Zukunft betreffen, nicht wirklich wichtig. Viel wichtiger ist es, auf Papas Schultern die Aussichten zu genießen. Es zählt der Moment, in dem man plötzlich allen anderen auf den Kopf schauen kann und nicht nach oben schauen muss.


    Wenn man älter wird, fängt man an, sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Die Bedeutung von Aussichten verändert sich. Welche Schule besucht man, welchen Beruf ergreift man? Studieren? Oder nicht? Und wenn ja, was? Plötzlich heißt es: „Triff jetzt eine Entscheidung. Und denk gut darüber nach, denn es ist entscheidend für die zukünftigen Aussichten in deinem Leben.“


    Du bist inzwischen zu groß, um auf den Schultern deines Vaters die Aussicht zu genießen. Aber groß genug, dass sich deine Perspektive verändert hat.


    Du besteigst Türme, so wie den Hamburger Michel, weil man dir gesagt hat, dass die Aussicht von dort oben einfach gigantisch ist. Du quälst dich diese furchteinflößende Treppe hinauf, obwohl du Höhenangst hast. Nur um oben festzustellen, dass du es viel leichter hättest haben können – dort gibt es nämlich einen Aufzug. Aber irgendwie bist du auch stolz. Diese Aussicht hast du dir verdient. Du hast was dafür getan.


    Du steigst in ein Riesenrad, und die Welt unter dir wird ganz klein. Aber du kannst nur einen Moment lang hinsehen, dann schaust du stoisch geradeaus, weil dir der Blick in die Tiefe nicht behagt. Früher hättest du an sowas nicht gedacht. Kleine Kinder machen sich um die Verschraubung von Riesenrädern keine Gedanken, sie verschwenden keine Gedanken an Bilder aus Filmen, in denen eine solche Gondel abstürzen kann. Für sie geht es einzig und allein um die Aussichten. Ein Blick über den Rummelplatz oder über die halbe Stadt.


    Du steigst auf ein Boot und auf der Rückfahrt ist die Aussicht, die sich dir bietet – der Leuchtturm, den du am Rand des Hafens erkennen kannst, das Schönste, was du seit langem gesehen hast. Diese Aussicht bedeutet festen Boden unter den Füßen, sie bedeutet, dass du von diesem schwankenden Ungeheuer herunter kommst.


    Die Aussicht auf das Meer, das sich in den verschiedensten Rottönen verfärbt, hast du mit der Kamera festgehalten. Diese Aussicht hast du eingefangen. In digitaler Form konserviert, sodass du sie hervorholen kannst, wenn dir danach ist.


    Ich weiß nicht, wie sich die Aussichten zukünftig verändern werden. Welche Aussichten auf mich zukommen oder nicht. Ich weiß allerdings, dass ich nicht aufhören werde nach ihnen zu suchen. Und zur Beurteilung der Aussichten, kommt es vor allem auf die Perspektive an.