Jahres-Gewinner Schreibwettbewerb 2013!

  • Liebe Eulen,


    hier findet Ihr alle Monatsgewinner und Zweit- sowie Drittplazierte des Jahres 2013. Weitere Erklärungen findet ihr hier, klick.


    Vom 01.01.2014 bis zum 10.01.2014 habt Ihr die Möglichkeit, Euren Favoriten des Jahres 2013 zu wählen. Für die Abstimmung wird ein Extra-Punktethread eingerichtet, in dem Ihr wie üblich 3-2-1 Punkte verteilen könnt.


    Der Jahres-Gewinner des Schreibwettbewerbs 2013 erhält von uns einen Büchergutschein von Amazon.de über


    25,- EUR.


    Viel Erfolg!

  • "Mordsdate"
    Thema: Streifen
    Autorin: Groupie
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    Gefesselt sitze ich in der Dunkelheit. Erkennen kann ich lediglich ein paar vermummte Männer. Die Pistolen sind auf uns gerichtet. Wo habe ich mich da nur wieder reinmanövriert. Als Nicolas mich heute Morgen nach einem Date gefragt hat, war noch alles super. Mehr als das. Den halben Tag habe ich mit Styling verbracht. Nervenzusammenbruch inklusive. Das hätte ich mir wirklich sparen können. Immer wieder schließe ich die Augen und wünsche mir, woanders zu sein. Selbst die Schule würde ich vorziehen. Eins steht fest: Das ist mit Abstand das schlimmste Date meines Lebens.


    Nicolas dreht seinen Kopf und schaut mich mit besorgtem Blick an. Er will wissen, ob alles in Ordnung ist. Davon sind wir zwar weit entfernt, aber trotzdem nicke ich. Er muss sich ja nicht auch noch Sorgen um mich machen. Wie gern würde ich jetzt einfach von ihm in den Arm genommen werden und das ganze Drumherum vergessen.


    Die Männer vor uns reden schnell und fuchteln immer wieder mit ihren Waffen in der Gegend rum. Zwei Mädchen liegen leblos am Boden. Ich kann dem Gespräch nicht folgen, weil mich das Blut zu sehr ablenkt. Ich taste nach meinem Wasser, doch das Rascheln der Eiswürfel erregt zu viel Aufmerksamkeit. Deshalb stelle ich den Becher wieder hin.


    Seit fast zwei Stunden sitzen wir jetzt schon hier fest. Ich bete, dass es endlich vorbeigeht. Dabei bin ich nicht mal gläubig. Hilft Beten dann überhaupt? Über welchen Scheiß man sich in den unpassendsten Momenten Gedanken macht.


    Brutal werde ich ins Hier und Jetzt zurückgeholt, als ein weiterer Schuss fällt. Das Blut spritzt und der Mann ist sofort tot. Lecker. Normalerweise wird mir schon schwindelig, wenn ich Blut nur rieche. Sehen geht eigentlich gar nicht. Glücklicherweise habe ich das heute im Griff. Ich versuche, mich mit Summen zu beruhigen. Vielleicht ein bisschen zu laut, denn alle sehen zu mir rüber. Ich bin sofort wieder still. Nicolas beobachtet mich immer noch besorgt. Selbst jetzt entgeht mir nicht, wie unglaublich gut er aussieht. Ganz falscher Zeitpunkt.


    Apropos Zeit … Ich habe jedes Gefühl dafür verloren und die Hoffnung auf ein baldiges Ende schon fast aufgegeben, als plötzlich die Türen auffliegen und die Polizei den Raum stürmt. Na, geht doch. Die Männer werden überwältigt und abgeführt. Alles ist ganz schnell vorbei. Ich kann es gar nicht fassen. Wir dürfen endlich wieder nach Hause. Nicolas bringt mich bis zur Haustür. Ich zittere immer noch leicht. Er sieht mich irgendwie merkwürdig an. Dann küsst er mich einfach. Das stabilisiert meine Knie jetzt nicht unbedingt. Bevor ich noch komplett zusammenbreche, verabschiede ich mich schnell und taumele sofort ins Haus. Im Wohnzimmer sitzt meine Familie und starrt mich an.


    „Alles in Ordnung?“, fragt meine Mutter. „Du bist ja leichenblass.“ Na, das nenne ich Ironie. Mit einem knappen „Alles gut!“ verziehe ich mich auf mein Zimmer. In meinem ganzen Leben werde ich mir nie wieder so einen Streifen anschauen. Da kann der Typ noch so heiß aussehen. Das ist definitiv kein Date der Welt wert. Der Kuss allerdings …

  • "Kinderüberraschung"
    Thema: Streifen
    Autor: arter
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    "Mama, was sind das für Striche?


    "Lukas, sitz still! Der Wagen fällt um, wenn du so rumzappelst!"


    "Mama wozu sind die Striche da drauf?"


    "Ja? Hallo? Martin! - Lukas setz‘ dich gerade hin, sonst musst du laufen - Ich bin noch beim Einkaufen. Hier ist die Hölle los. Ich steh hier schon geschlagene zehn Minuten an der Kasse"


    "Will nicht laufen!"


    "Nein, ich weiß nicht, wann ich komme... Ja, ich hab einen - Lukas leg den Topf wieder in den Wagen - Du kannst schon mal den Kohl und die Rote Bete kleinschneiden"


    "Hören Sie mal, ihr Sohn tritt mich ständig mit seinen Dreckschuhen, das muss ja wohl nicht sein!"


    "Was? Moment. Also was heißt das jetzt du weißt nicht wie? Du bist doch schon zigmal dabei gewesen, wenn ich den Borschtsch vorbereitet habe"


    "Iiiiiih. Klebt!"


    "Können sie ihrem Sohn nicht sagen, dass er damit aufhören soll?"


    "Lukas halt‘ die Füße still – Martin, du weißt doch hoffentlich, dass in gut zwei Stunden die Gäste kommen? NUN STELL DICH NICHT SO AN!"


    "Mama, das Papier mit den Strichen is klebig"


    "Ja, ... ich dich auch, bis dann."


    "Ihr Rotzbengel hat mich schon wieder getreten."


    "So, jetzt ist aber genug. Raus mit dir. Du bist sowieso schon zu alt für den Kindersitz - Entschuldigen Sie..."


    "Bääääääääh, bäääääääh!"


    "Lukas bleib hier! Wo rennst du hin?


    ... Wären Sie so freundlich, meinen Wagen weiterzuschieben? Ich muss ihn wieder einfangen.


    "Klar!"


    "Der Bengel tanzt ihr auf der Nase rum. Das hätte wir uns mal trauen sollen, damals."


    "Na, sie ist ganz schön im Stress"


    "Eine Ohrfeige hat noch niemandem geschadet."


    "Offensichtlich wohl doch."


    "Was?"


    "Nichts für ungut."


    "Unverschämtheit!"


    ... "Nein, es gibt jetzt kein Ü-Ei - Vielen Dank fürs Weiterschieben"


    "Gerne doch."


    "Ü-EI!"


    ... "Martin? Hallo? Was ist denn?"


    "Ü-EI!!"


    ... "Den halben Finger abgeschnitten?"


    "ÜÜ-EIII!!!"


    ... "Kann man so ungeschickt sein?"


    "ÜÜÜÜÜ-EIIIII!!!!"


    ... "Muss auflegen bin jetzt dran, verblute mir nicht - Lukas jetzt reicht‘s!"


    "Tut mir leid, ich kann den Topf nicht scannen, der ist nicht ausgezeichnet!"


    "Neunundzwanzig fünfundneunzig stand dran."


    "Ja, aber ich muss ihn scannen."


    "ICH BRAUCHE DIESEN TOPF!"


    "Moment…


    ... Hallo? Ja Haushaltswaren. Habe hier einen Topf, nicht ausgezeichnet.
    ... Hm, recht groß, ungefähr fünfunddreißig hoch, fünfundzwanzig Durchmesser, Glasdeckel.
    ... Ja. Hm. Na gut. Danke.
    ... Tut mir leid, aber diesen Topf gibt es nicht."


    "Wie, den Topf gibt es nicht? Ist das eine Fata Morgana?"


    "Also solche Töpfe haben wir nicht im Sortiment!"


    "Ach, dann ... ja, jetzt da sie es sagen, sie haben recht ich muss ihn wohl von zu Hause mitgebracht haben ich Schusselchen"


    "Sie können den Topf nicht mitnehmen. Das ist Diebstahl!"


    "ICH BRAUCHE DIESEN TOPF!"


    "Tut mir leid, der bleibt hier. Das andere sind dann zweiunddreißig achtundsiebzig.“


    "AAAARRRRGGHHH! Lukas komm! SAFTLADEN!"


    "Hey, sie können nicht einfach verschwinden, das ist schon alles eingebongt!"


    "… sag ich doch, völlig überfordert, die Dame. Tss, tss"


    "Ach, übrigens, Sie haben da was auf ihrem Rücken kleben."


    "Was?"


    "Das ist …
    ... ein Barcode!"


    "Waaas?"


    "Junge Frau?...


    … Hallo????"

  • "Kaulquappen"
    Thema: Streifen
    Autorin: Fay
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    Saskia saß fingernagelknabbernd auf dem Sofa und starrte die Uhr an. Eigentlich war die Wartezeit schon längst um. Allerdings hielt sie die Angst, wie das Ergebnis ausgefallen war, noch immer vom Gang ins Badezimmer ab. Wie lange war sie überfällig? Die letzte Periode war doch pünktlich eingetreten. Okay, sie war viel schwächer als üblich ausgefallen. Grübeln half nichts, sie musste sich endlich Gewissheit verschaffen. Im schlimmsten Fall war der Test positiv. Heutzutage musste niemand mehr ein Kind gegen seinen Willen bekommen. Abrupt stand sie auf und ging zum Bad. Im Türrahmen verharrte sie noch einen Augenblick, dann griff sie zum Schwangerschaftstest und las das Ergebnis ab. Im Testfeld war eine rosa Linie aufgetaucht: „Scheiße!“


    Es kam nur dieses eine Mal vor ungefähr acht Wochen in Frage. Saskia hatte einen Typen in der Disco aufgerissen und war mit ihm in der Kiste gelandet. Beim Sex mit ihm war das Gummi geplatzt. So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte sich beim besten Willen nicht an seinen Namen erinnern. Wozu auch, sie würde diese kleine Kaulquappe eh wegmachen lassen. Abtreibungsgegner verstand sie nicht: Die machten so einen Aufstand wegen eines nicht lebensfähigen Haufen von Zellen. Als nächstes brauchte sie unbedingt einen Termin bei ihrer Frauenärztin, damit sie diese leidliche Sache hinter sich bringen konnte.


    Schon am folgenden Tag nahm Saskia im Sprechzimmer der Frauenarztpraxis Platz. Ihr Blick glitt über die schwangeren Frauen. Das war doch verrückt! Da saßen diese dickbäuchigen Austern und streichelten verzückt lächelnd ihre geschwollenen Leiber, als würden sich darin Perlen von unschätzbarem Wert befinden. Wartet ab, ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt. Diese windelvollpupenden Monster werden euch den letzten Nerv rauben und alles was ihr dafür bekommt sind: Schwangerschaftsstreifen und Hängetitten. Der Gedanke erheiterte sie, denn sie würde nicht dazu gehören. Sie wollte keine Kinder. Nie!


    Die Ärztin bat Saskia, auf den Untersuchungsstuhl Platz zu nehmen, damit sie einen klärenden Ultraschall durchführen könne. Das kalte Gel auf ihrer Haut war ekelig. Als der Sensor über ihren Bauch glitt, hoffte sie, dass es schnell vorüber wäre.


    „Herzlichen Glückwunsch, Sie werden Mutter“, erklärte die Ärztin und drehte den Bildschirm in Saskias Blickrichtung.


    Was sie zu sehen bekam, verschlug ihr den Atem. Das da, war kein lebloser Zellhaufen. Es sah auch überhaupt nicht wie eine Kaulquappe aus. Da schlug ein Herz, schnell wie der Flügelschlag eines Kolibris, in einem winzigen Körper, auf dem ein überdimensionaler Kopf ruhte. Sogar die Wirbelsäule war sichtbar. Sie hörte kaum, wie die Ärztin: „17 mm“ erklärte. Saskia kullerten bereits dicke Krokodiltränen über die Wangen. Der Schock, das dort sichtbar ein Teil von ihr heranwuchs und das damit verbundene Glücksgefühl, veränderte schlagartig alles. Die grenzenlose Fassungslosigkeit über diese Erkenntnis hielt ihren Blick unabwendbar auf den Monitor gerichtet. Als sie später das Foto in ihren Händen hielt, streichelte sie liebevoll über ihren Bauch. In ihr wuchs eine Perle von unschätzbarem Wert und sie würde sie wie ihren Augapfel hüten. Erst jetzt verstand sie die anderen Frauen.

  • "Die Berechnung der Eulerschen Zahl"
    Thema: Verrückt
    Autor: arter
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    Im Wartezimmer hängt ein Gemälde. Das Bild hängt schief. Wenn ich so etwas sehe, dreht es mir die Gedärme um. Ich erkenne eine leicht gekräuselte Wasserfläche, darauf eine rotes Segelboot das mit straff gespanntem Segel und einem bauchig geblähten, bunten Spinnacker, der Schwerkraft trotzend, bergauf einem kitschigen Sonnenuntergang entgegensegelt.


    Diese Verletzung des physikalischen Gesetzes der Erdanziehung verursacht in mir körperlichen Schmerz, Stecknadeln in meiner Kopfhaut. Ich versuche mich abzulenken, indem ich meine Fäuste auf die Augen presse und beginne, die Eulersche Zahl zu berechnen. Natürlich kenne ich diese auf Einhundert Stellen nach dem Komma genau, aber ich überprüfe das Ergebnis regelmäßig.


    Die linke Ecke des Bildes weist nach unten. Wasser tropft aus dem Rahmen. Schnappschüsse des Grauens drängen sich zwischen die wohlgeordneten Glieder der Reihensumme. Konzentrier dich! Summe eins durch k Fakultät von k gleich Null bis Unendlich. Vielleicht schaffe ich heute bis k gleich zehn. Eins durch null Fakultät ergibt eins, plus eins durch eins Fakultät ergibt nochmal eins, plus eins durch zwei Fakultät ergibt einhalb. Damit sind wir bei fünf halbe. Drei Fakultät ist sechs. Also ein Sechstel dazu sind acht drittel. Vier Fakultät ist vierundzwanzig. Also ein vierundzwanzigstel plus acht drittel, das ergibt...


    Das Boot wird von der starken Strömung zurückgezogen. Wie durch einen gigantischen Strudel.


    ...das sind fünfundsechzig vierundzwanzigstel. Ich rechne lieber mit echten Brüchen als mit Dezimalzahlen. Echte Brüche sind meine Freunde, sie sind nie verfälscht, sie sagen einem immer die Wahrheit. Und ich kann sie sehen. Fünfundsechzig vierundzwanzigstel ist zum Beispiel eine blaue, dickbauchige Teekanne, die auf einem schwarzen Motorrad fährt.


    Das Boot stürzt in den Abgrund. Ich reiße die Augen auf. Ich schreie. Ich starre das Bild an. Die Schwester kommt herbeigestürzt, sieht, wie ich das Bild anschreie. Sie schiebt die linke Seite am Rahmen etwa eineinhalb Zentimeter hoch. Sie kennt mich. Sie weiß, dass ich ein verschobenes Bild nicht ausstehen kann. Psst. Es ist alles gut. Einen kleinen Moment noch, dann hat die Frau Doktor Zeit für dich, beruhigt sie mich.


    Einhundertdreiundsechzig sechzigstel. Ein grünes Kamel trägt eine gelbe Nachttischlampe. Alles ist gut. Das Boot gleitet gemächlich auf einer spiegelglatten Wasserfläche.


    Frau Doktor empfängt mich mit warmer Stimme. Ich schaue an ihr vorbei. In dem Regal hinter ihr stehen Aktenordner in Reih und Glied. Einer steht schief, ragt etwas heraus. Jemand hat ihn verrückt. Wie geht es ihnen heute, fragt sie. Stecknadeln in meinem Kopf. Ich schreie.

  • "Stellungssuche"
    Thema: Drunter und drüber
    Autor: churchill
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    Wer sie sieht, wird gleich erfassen:
    Mark und Hanna sind ein Paar.
    Dass sie zueinander passen,
    ist wohl jedem sonnenklar.


    Gleiche Hobbies, gleiches Essen,
    (davon ganz besonders viel),
    keine Kochshow wird vergessen,
    keine Soap, kein Fußballspiel.


    Keine Kinder, keine Sorgen,
    ach, den beiden geht es gut,
    fehlt mal Bier, geht sie es borgen,
    während er ein bisschen ruht.


    Ja, das ist die große Liebe.
    Und da sind wir beim Problem:
    Melden sich gewisse Triebe,
    gibt’s ne Störung im System.


    Spürt der Liebsten zarte Hand er,
    wird der Mark hysterisch fast,
    denn es passt nicht ineinander,
    was doch zueinander passt.


    Lang schon sah er nicht mehr jenen
    alten Freund dort unterm Bauch,
    es ist müßig, zu erwähnen:
    So ne Wampe hat sie auch.


    Wenn sie’s heute nun versuchen
    mit dem guten Missionar,
    rächt sich bitter mancher Kuchen,
    der so schrecklich lecker war.


    Denn der Mark trifft nicht die Stelle.
    Bäuche sind zwar rund und weich,
    aber störend auf die Schnelle:
    Und der Mark erschlafft sogleich.


    So probieren sie’s mit Reiten.
    Und das nimmt dem Mark die Luft.
    Schwabbelt Speck an allen Seiten,
    ist die Lust ganz rasch verpufft.


    Beugt sich Hanna vorne rüber,
    dass sich Mark von hinten naht,
    bleibt ihr, das ist ihr auch lieber,
    Markens Anblick ja erspart,


    Aber Mark ist ganz betroffen,
    und so wird er etwas barsch:
    Seine Augen sind ja offen.
    Was er sieht, ist alles Arsch.


    Zwar versucht er zu besteigen
    jenen Weg ins große Glück,
    ach wie gern würd sie’s ihm zeigen,
    aber ständig fehlt ein Stück.


    In den Pornos, die sie schauen,
    ist stets alles schlank und groß,
    stark die Schwänze, geil die Frauen,
    Mensch, wie machen die das bloß?


    Und so schimpfen Mark und Hanna
    auf die Pornoindustrie,
    kuscheln sich zart aneinanna,
    sind sich einig wie sonst nie:


    So was kann ja gar nicht klappen.
    Das ist alles nur gespielt.
    Komm, wir wollen weiterzappen.
    Prost. Das Bier ist gut gekühlt …

  • "Das Vorstellungsgespräch"
    Thema: Drunter und drüber
    Autorin: Inkslinger
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    Ich öffnete die Augen und atmete tief durch. Aufgeregt nestelte ich an meinem Blazer und strich nochmal den Rock glatt. Heute war ein wichtiger Tag, denn in den nächsten Minuten würde sich alles für mich entscheiden. Es war aufregend und erschreckend zugleich. Unruhig ging ich auf und ab.


    Ich zuckte leicht zusammen als plötzlich eine junge Frau auf den Gang trat und meinen Namen rief. Wie eine nervöse Erstklässlerin hob ich meine Hand und meldete mich anwesend. Die Dame zog bei meinem Anblick die Augenbrauen hoch und nickte widerwillig.
    „Sehr schön. Ich hoffe, Sie haben nicht zu lange warten müssen.“
    Ich schüttelte den Kopf, aber sie beachtete mich nicht weiter. Mit einer Handbewegung deutete sie mir an, ihr zu folgen. Zusammen gingen wir durch mehrere verwinkelte Flure, bis sie schließlich vor einem Eckbüro stehen blieb.
    „Die Herren sind gleich bei Ihnen. Nehmen Sie doch schon einmal Platz.“
    Sie öffnete die Tür und lotste mich zu einem Sofa, wo ich mich, den Anweisungen folgend, niederließ.


    Nach zwanzig Minuten ging die Tür erneut auf und zwei Männer traten ein. Beide waren groß und breitschultrig. Der eine hatte lange blonde Haare, die er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug. Sein Begleiter war brünett und hatte einen Bürstenhaarschnitt. Ich stand auf und ging mit ausgestreckter Hand auf die Herren zu.
    „Ilka Vogt, guten Tag.“
    Sie erwiderten die Geste und der Blonde sagte:
    „Guten Tag, Frau Vogt. Ich bin Fimbultyr und das hier ist mein geschätzter Konkurrent Beliar.“


    Zusammen gingen wir zu dem runden Konferenztisch und setzten uns. Beliar ergriff als Erster das Wort.
    „Frau Vogt, wie Sie sich denken können, haben wir nicht oft so eine Situation wie die Ihre. Fimbultyr und ich sind beide an Ihnen interessiert. Sie haben wahrlich viel geleistet in Ihrem Leben.“
    Er blätterte in den Unterlagen, die er anscheinend vorher für das Gespräch zurechtgelegt hatte.
    „Ich finde besonders Ihre vier Kinder bemerkenswert. Sind sie alle unehelich?“
    Ich nickte und er fuhr erfreut fort.
    „Dann die üblichen Lügen und Müßigkeiten...“
    Sein Tischnachbar unterbrach ihn.
    „Aber Sie haben auch viel Gutes geleistet. Ehrenamtliche Hilfe bei verschiedenen sozialen Einrichtungen sowie der Schule Ihrer Sprösslinge. Außerdem haben sie nie betrogen oder gestohlen.“
    Ich lächelte nervös und musste meine volle Konzentration aufwenden um nicht mit den Gedanken abzuschweifen. Was wurde jetzt von mir erwartet?


    Meine Unsicherheit schien aufzufallen, denn Beliar sagte:
    „Alles in allem steht's fünfzig/fünfzig. Sie haben die Wahl, bei wem von uns beiden Sie zukünftig tätig werden möchten.“
    Fimbultyr setzte gleich sein Angebot nach.
    „Bei uns gibt es eine herrliche Aussicht. Und darüber hinaus können Sie Ihre Erfahrungen im Sozialen einbringen und noch weiter ausbauen.“
    Beliar schnaubte.
    „Immer das Gleiche bei dir, Tyr. Nichts als Arbeit! Bei mir gibt’s unterhaltsame Gesellschaft. Es ist immer was los. Und Sie müssen nur tun, wozu Sie auch Lust haben. Na, wie entscheiden Sie sich?“
    Ich grübelte lange und wog ab. Der einzige klare Gedanke, der dabei raus kam, war:
    „Hoffentlich habe ich wenigstens einen Grund hinterlassen, vermisst zu werden.“

  • "Das Gefühl von Schnee"
    Thema: Abseits
    Autorin: Groupie
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    02:56 Uhr! Die Leuchtziffern meines Weckers zeigten an, dass es mitten in der Nacht war. Ich schloss die Augen noch mal und atmete tief ein. Da war er endlich, dieser einzigartige Geruch von absoluter Ruhe und Freiheit, auf den ich bereits seit Tagen wartete. Ich stand auf und setzte mich in eine Decke gehüllt auf die Fensterbank. Die Nase steckte ich durch das geöffnete Fenster und inhalierte die kalte Luft. So hätte ich die ganze Nacht dort sitzen können, um das Glitzern der einzelnen Flocken in der tiefblauen Nacht zu beobachten. Aber ich wollte früh aufbrechen und dafür fit sein.


    Ich konnte erst nach einer ganzen Weile wieder einschlafen. Aber trotzdem verzog sich mein Mund sofort zu einem Lächeln, als der Wecker klingelte. Ich sprang auf und machte mich fertig. Meine Sachen waren schon seit Tagen zusammengepackt. Zum Schluss nahm ich vorsichtig mein Board von der Wand und machte mich auf den Weg zum Mount Beneluce.


    Schon als kleines Mädchen konnte ich die ersten Schneeflocken kaum erwarten. Ich hatte immer sehnsüchtig auf den Winter hingefiebert und war bei den ersten Flocken kaum noch zu halten. Selbst als meine Mutter vor 4 Jahren starb, flüchtete ich zu meinem Berg und fand dort mehr Trost als sonst irgendwo.


    Nach einer 90-minütigen Fahrt war ich endlich da. Ich griff nach meinen Sachen auf dem Rücksitz und war in Windeseile umgezogen. Ich ging zum Häuschen, um mir einen Pass für den Tag zu besorgen. Paul kochte gerade Kaffee und es war eigentlich noch nicht geöffnet, doch er kannte mich bereits seit Jahren. "Na, Mädchen, bist du wieder aus dem Bett gefallen?" Dabei zwinkerte er mir zu. "Du kennst mich doch, ich habe den Berg gern noch eine Weile für mich allein, bevor hier die Touristenschwärme einfallen." Offiziell nahm der Lift erst eine halbe Stunde später die Arbeit auf, aber für mich machte Paul eine Ausnahme.


    Es war totenstill und außer mir war auf dem Berg niemand zu sehen. Ich entspannte mich völlig und alles fiel von mir ab. Vor mir lag der Berg in all seiner Pracht und die Sonne tauchte die Landschaft in ein warmes Licht. Ich schaffte die erste Abfahrt, bevor sich die Touristen langsam breitmachten. Sie konnten einem gewaltig auf die Nerven gehen.


    Irgendwann reichte es mir. Ich nahm den Lift ein letztes Mal für diesen Tag, denn ich war bereits völlig erledigt. Oben folgte ich diesmal jedoch nicht den Massen, sondern nahm die entgegengesetzte Richtung, vorbei an den roten Schildern. Ich stellte mich auf mein Board, ließ den Blick noch einmal über den Berg schweifen und fuhr los. Ganz allein durch den wattigen Pulverschnee. Mein Herz raste. So musste sich fliegen anfühlen. Ich war berauscht. Als ich hinter mir ein leises Grummeln wahrnahm, blickte ich mich um. Ich fiel in den Schnee und überschlug mich ein paar Mal, bevor ich liegenblieb. Ich war wie gelähmt. Etwas so Schönes und so Gewaltiges hatte ich noch nie zuvor gesehen. Dann wurde alles dunkel …

  • "Es war einmal ..."
    Thema: Abseits
    Autorin: Lese-rina
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    Hinter sieben Bergen, zehn Windkraftanlagen und fünfzehn Autobahnen lebte Loreley. Sie war weder besonders schön noch intelligent, aber ein herzensgutes Mädchen (mittel)junge Frau.


    Als Loreley eines Tages am Moor vorbeikam, hörte sie klägliches Weinen. Neugierig blickte sie sich um und entdeckte eine Unke. „Was hast du denn? Tut dir etwas weh?“ Mitfühlend ließ sie sich auf die Knie sinken. „Wuähhh“ heulte die Unke. „Heute morgen hat mich die blöde Ringelnatter aus der Facebook-Freundesliste geworfen. Jetzt habe ich nur noch 999 Freunde!“ Loreley musste sich ein Lächeln verkneifen. „Wie wärs mit dir?“ schlagartig hörte die Unke ihr Weinen auf „du könntest doch mein 1000ster Facebookfreund werden!“ „Ich?“ Loreley gefiel dieser Gedanke gar nicht. Eine Unke auf der Freundesliste? Cool ist was anderes! „Oh ja, bitte, bitte!“ „Na gut, weils du bist!“ willigte Loreley schließlich ein und zückte ihr Smartphone. „Danke, du hast mir den Tag gerettet,“ sprach die Unke und sprang ins Moor, dass es nur so platschte.


    Loreley ging am Schlossgarten entlang. Gerade als sie die prachtvollen Rosen bewunderte, rannte ihr Königin Stachelbeere mit schmerzverzerrtem Gesicht entgegen. „Oh nein, ich habe mich schon wieder an der Spindel gestochen!“ Das durfte wohl nicht wahr sein, dann würde wieder das gesamte Schloss in Tiefschlaf verfallen und aus war es mit nächtelangen Feiern. Doch Loreley wusste Rat und suchte in ihrer roten Umhängetasche nach einem Heftpflaster. So verarztet bestand für Königin Stachelbeere keine Gefahr mehr.


    Oben auf dem Berg traf Loreley eine alte Frau, die sich mit einem riesigen Federbett abmühte. „He du, kannst du mir mal helfen?“ fragte diese. „Klar,“ antwortete Loreley, „was soll ich denn tun?“ „Wir müssen Schneeflocken auf die Erde schütteln.“ „Schneeflocken?“ Loreley runzelte die Stirn „es ist doch Hochsommer!“ „Echt?“ ungläubig starte die alte Frau sie an und als Loreley bestätigte, seufzte sie erleichtert auf. „Und ich dachte schon, meine Hitzewallungen liegen an den Wechseljahren. Dann kann ich ja noch einige Monate den sieben Zwergen im Bergwerk helfen“. Sie verschwand im Haus, doch die Eule, die bisher auf ihrer Schulter gesessen hatte, flatterte zu Loreley.


    „Du hast heute vielen geholfen,“ rief sie „als Dank hast du einen Wunsch frei.“ Und ehe Loreley antworten konnte, fuhr die Eule fort: „So, liebe Loreley, wer soll nun dein Herzblatt sein? Möchtest du Alois, den jungen Recken, der stark wie ein Bär dir die Macht seiner ganzen Männlichkeit zeigt? Oder lieber den Schöngeist Leonhard, der dich mit seinen wunderbaren Liedern voller Romantik verzaubern wird? Oder doch lieber Edwina, der je nach Bedarf vom liebestollen Liebhaber zur verständnisvollen Freundin wechseln kann? So, nun musst du dich entscheiden!“ Loreley sieht verständnislos zur Eule „Herzblatt??? Muss das sein? So ein Mann wird auf Dauer doch langweilig. Viel lieber hätte ich einen großen Schrank voller Bücher!“ „Dein Wunsch sei dir erfüllt,“ versprach die Eule und verschwand. Als Loreley nach Hause kam, stand dort ein großer Zauberschrank mit Büchern aller Genres, der sich selbstständig auffüllte. Und wenn sie nicht gestorben ist - und doch kein Mann dazwischenkam - so liest sie noch heute.

  • "Lebensabend"
    Thema: Abseits
    Autorin: Suzann
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    Er hatte alles geplant. Niemand würde ihm etwas aufzwingen, was er nicht wollte. Ohne dass sie es wussten, hatte er seinen beiden überfürsorglichen Töchtern einen Strich durch die Rechnung gemacht. Bei diesem Gedanken grinste Jacob zufrieden, während er im Hühnerhof stand und Körner durch seine Finger rieselten. Das Federvieh machte sich gackernd über das Frühstück her. Er liebte diese frühen Stunden, wenn das Licht noch ganz neu war, Vogelstimmen die Luft beherrschten und die Bäume ihren sanften Duft verströmten. Er liebte das schon seit vielen Jahren, seit seine Sara, die nie geraucht oder getrunken hatte, an Zungenkrebs zugrunde gegangen war. Während Saras schrecklicher Leidenszeit hatte er den Anschluss an das Leben verloren und ihn nie mehr wieder gefunden, schließlich auch nicht mehr gewollt.
    Seine Töchter hatten ihn für verrückt erklärt, als er in diese abgelegene Gegend gezogen war, sich einen Stall voll kleiner Tiere und ein Klohäuschen im Garten zugelegt hatte. Aber so hatte er seinen Seelenfrieden wieder gefunden. Abseits von der lauten Welt mit ihren rasanten technischen Entwicklungen. Aber jetzt, mit fast 79 Jahren, merkte er immer deutlicher, wie sein Körper den Geist aufgab. Er hatte keine Angst vor dem Tod. Wovor er sich fürchtete war, dass die Zukunftspläne seiner lieben, aber ignoranten Töchter wahr werden könnten. Da war die Rede von gut geführten Pflegeheimen in der Nähe der Familie, von gesellschaftlichen Programmen und guter medizinischer Versorgung. Sie wollten ihn zu einem bettlägerigen, senilen Idioten machen, der unterbezahltem Heimpersonal hilflos ausgeliefert war! Nicht mit ihm! Vorher würde er sich die Pulsadern öffnen!


    Sein gemütlicher Rundgang hatte ihn zur Pferdekoppel gebracht und er sah den Ponys bei ihren morgendlichen Kapriolen zu. Als sie ihn bemerkten, kamen sie gesprächig auf ihn zugetrabt und streckten ihre Hälse durch das Gatter. Sie wussten, dass er immer etwas Leckeres für sie dabei hatte. Eine Möhre, einen Apfel. Irgendwann gesellte sich auch sein fetter Kater zu ihm und machte ihn nachdrücklich darauf aufmerksam, dass er am Verhungern war. Der ewig mürrische Gesichtseindruck des alten Haudegens erinnerte ihn an den Notar, der seine letzten Wünsche und Verfügungen zu Papier gebracht und beglaubigt hatte. Die verdrießliche und hektische Art des Mannes hatte ihn in seinem Entschluss bestätigt, nie mehr in dieses menschenverachtende Hamsterrad namens Zivilisation zurückzukehren. Er hatte sich jegliche lebenserhaltende Maßnahmen verboten und das Finanzielle geregelt.
    Und heute war es soweit sein. Er spürte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Ein Rückzieher wäre jetzt nur noch schwer möglich. Er kehrte in sein kleines Häuschen zurück, hängte seinen labbrigen, breitrandigen Filzhut an den Nagel neben der Türe und fütterte den Kater. Dann setzte er sich in seinen Lieblingssessel und lies die Zeiger der alten Junghans Regulator nicht mehr aus den Augen. Schließlich war es so weit. Pünktlich auf die Minute streckte sich sein Arm und seine Hand ergriff…
    … die Türklinke. „Hallo, ich bin Pavla“, lächelte ihn ein flächiges, aber freundliches Gesicht an, „ihre neue Vollzeitpflegekraft.“

  • "Sein System"
    Thema: Emotionen
    Autor: churchill
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    Die stahlblauen Augen fielen mir sofort an ihm auf. Es war vor genau vier Jahren, als er mich groß anschaute. Unbewegt. Immer geradeaus. Irgendwie ernst. Relativ ungewöhnlich für ein sieben Tage altes Kind.


    Tobias war völlig unproblematisch. Ein halbes Jahr lang zumindest. Er schlief gut ein, schlief bald durch, schlief überhaupt ziemlich viel. Er blieb bei uns.


    Sandra hatte ihn sofort in ihr Herz geschlossen. Ich eigentlich auch. Wobei ich nicht ganz sicher war, ob er da sein wollte. Drinnen. In meinem Herz. Nahm ich ihn aus dem Wagen oder Bettchen hoch, bog er seinen Rücken durch und versteifte sich. Die Körperspannung löste sich erst, als ich ihn wieder losließ. Frei ließ.


    Tobias entwickelte sich. Eigenartig. Auf seine ganz eigene Art. Die Augen waren immer wach, blieben aber ernst und einsam und traurig. Im Schlaf das Gesicht so entspannt. Wach war er unruhig, angespannt, fokussiert. Wach war er auch wütend und wild.


    Wir ersetzten im Laufe der Jahre diverse Einrichtungsgegenstände. Eigentlich unglaublich, wie viel Kraft so ein kleiner Körper entwickeln kann. Seine Wurftechnik sollten und wollen wir in leichtathletische Bahnen lenken. Da ist Potential.


    Ich sehe seine Augen, wenn sie flackern und noch blauer werden. Dann ist ihm wieder jemand in die Quere gekommen. Nein, zu nahe gerückt. So weiß ich meistens kurz vorher, wenn es wieder soweit ist, schützen zu müssen. Die anderen und uns vor ihm, ihn aber auch vor sich.


    Tobias ist ein sehr lieber Junge. Zärtlich und mitfühlend. Die anderen sehen es nur nicht immer. Zugegeben, er versteckt das auch ganz gut. Sein System ist sein System. Die Flasche links, der Schnuller rechts, das Licht am Bett in Reichweite, die Zusicherung Sandras, dass er zu ihr kommen darf, wenn er nachts Angst bekommt. Zu uns kommen darf, um zwischen uns zu liegen. Nähe in der Nacht, ohne nahe zu kommen. Kuscheln verboten. Sandra macht abends seine Tür zu. Ich darf das nur, wenn Sandra nicht da ist. Die Reihenfolge ist in ihm, eine Änderung wirft ihn aus der Bahn.


    Abends liest Sandra ihm vor. Oder ich. Das Buch sucht er aus. Das kann dauern. Aber es muss schließlich passen. Letzte Woche Geschichten vom Traurigsein und Freuen, vom Stolzsein und Schämen. Und mitten in der Geschichte vom Traurigsein schiebt sich sein kleiner Körper an meine Seite. Ich bemühe mich, weiter zu atmen und weiter zu lesen. Dann sinkt sein Kopf langsam an meinen Oberarm. Er ist hellwach und die Geschichte vom Traurigsein wird für mich zur Geschichte des Glücks.


    Gestern der Anruf aus der Kita. „Können Sie kommen, ihr Tobias hat einem anderen Jungen einfach so einen Eimer gegen den Kopf geworfen!“. Tobias sitzt alleine auf der langen Bank im Flur vor seinem Haken, den ein Drachen ziert. „Papa, wann darf ich denn wieder rein?“ „Was hast du denn gemacht, Tobias?“. Die großen stahlblauen Augen schauen klar, offen und ratlos. „Ich weiß es nicht, Papa.“


    Ich möchte ihn so gern in den Arm nehmen. Ich gebe ihm die Hand. Er nimmt sie. Wir gehen weiter.

  • "FN 9.3"
    Thema: Emotionen
    Autorin: Rumpelstilzchen
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    Im Überwachungsraum der Altenversorgungseinrichtung Nr. 87 ist es ruhig. Einer der Monitore schaltet sich ein, der für Zelle 473. Er zeigt eine alte Frau im Pflegebett, die durchdringend unverständliche Schimpfworte kreischt und versucht, die Gestalt, die sich zum Windeln wechseln über sie beugt, durch ein kraftloses Fuchteln ihrer dürren Arme zu vertreiben.


    FN 9.3, die neueste Version eines Pflegeroboters, passend benannt nach Florence Nightingale, redet in beruhigendem Ton und sanfter Stimme auf sie ein: „Aber Frau Sturmann, ganz ruhig, so werden Sie nur Ihre Infusionsnadel rausziehen“. Mit flinken Bewegungen zieht er die neue Windel fest, kontrolliert den Sitz der PEG Sonde, zieht das Hemd über den Bauch und deckt die Greisin wieder zu.


    Er verändert noch die Dosierung der Infusionsflüssigkeit und beobachtet, wie ihre Gesichtszüge sich entspannen, die Atmung ruhiger wird und wendet sich der Tür und damit direkt der Kamera zu.


    „Fast könnte man meinen, er lächelt“, ruft Robert, der junge Mann am vorderen Kontrollpult seiner Kollegin zu. „Diese neue Version ist tatsächlich ein Segen. Kein Mensch könnte bei dieser Arbeit so ruhig und freundlich bleiben. Sie redet die Patienten sogar mit Namen an. Unglaublich!“


    Zwei Stunden später tutet nachdrücklich ein Alarmsignal. Es ist wieder Zelle 473, wo FN 9.3 den reglos daliegenden Körper auf Lebenszeichen untersucht. Der Überwachungscomputer zeigt an: Herzstillstand, Exitus.


    Mit ungläubigem Staunen betrachtet Robert die Szene, wendet sich an die Kollegin an der Nachbarkonsole.


    „Das ist in dieser Woche schon der siebte Todesfall bei FN 9.3. Und immer sind es schwierige Patienten. Man könnte glauben, er rächt sich für die schlechte Behandlung. Meinst du nicht, wir sollten den Todesfall mal untersuchen lassen?“


    Die Nachbarin schüttelt nur den Kopf: „Geht’s noch? Hör mal, das ist eine Maschine, ein Roboter, programmiert auf Pflegedienstleistungen. Der fühlt nicht, der funktioniert“.


    Einen Moment noch beobachtet Robert den Pflegeroboter, der den Leichnam mittlerweile mit einem Tuch bedeckt hat und ändert dann achselzuckend den Einsatzplan für FN 9.3.

  • "Aufbruch ins Ungewisse"
    Thema: Emotionen
    Autorin: Lese-rina
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    10 – 9 – 8 – Mein Herz rast und ich klammere mich an den Armlehnen fest. Wäre ich nicht angeschnallt, ich wäre in diesem Moment aufgesprungen und davongelaufen. Es ist doch Wahnsinn was wir tun und kann nur schiefgehen! – 7 – 6 – 5 – Welch menschliche Anmaßung, den Weltraum erobern zu wollen. – 4 – 3 – 2 – Was tue ich hier eigentlich? – 1 – Hilfe!!! …


    „Yeah, es geht los!“ schreit eine euphorische Stimme hinter mir. Typisch Neil, er kann es kaum erwarten. Der Rückstoß presst mich in den Sitz und wischt alle meine Gedanken beiseite. Obwohl ich mehrere Starts und unzählige Trainingsdurchläufe hinter mir habe, überrascht mich diese Kraft immer wieder. Untätig muss ich auf die Technik vertrauen und so verfolge ich konzentriert den steigenden Zeiger des Höhenmeters.


    Als wir nach 12 Minuten die Erdumlaufbahn erreichen geht es mir besser. Die oft geübten Handgriffe beruhigen. Routiniert gehe ich meine Aufgaben durch und vergesse die ungewohnte Umgebung. Erst als mich Buzz am Arm berührt und aus dem Fenster deutet, schaue ich auf. Mir stockt der Atem. Ich sehe diesen überwältigenden Anblick nicht zum ersten Mal, aber er ist immer wieder beeindruckend. Ich schlucke schwer.


    In den folgenden drei Tagen hilft uns dieser einzigartige Ausblick um kurz innezuhalten und neue Kräfte zu sammeln. Wir sind aufs Äußerste angespannt, doch gewöhnen uns schnell an die Abläufe. Die Routine hilft und lenkt von zu vielen Gedanken an unsere Mission ab.


    Erst als nach Buzz auch Neil in die Landefähre klettert und ich alleine zurückbleibe, drängt sich ein mulmiges Gefühl in mir hoch. Ein dicker Kloß bildet sich in meinem Hals. In der Gemeinschaft fühlte ich mich sicher, doch nun bin ich allein und muss unser Schiff auf Kurs halten. Innerlich zitternd verfolge ich den Landeanflug meiner beiden Freunde. Die erzwungene Untätigkeit macht mich fast wahnsinnig, vor allem, als ich von den Problemen der beiden höre. Doch das Wunder geschieht – die Fähre setzt auf. „Der Adler ist gelandet!“ Ich springe auf, reiße die Hände nach oben und schreie meine ganze Freude und Anspannung heraus.


    Doch noch ist die Mission nicht gewonnen. Die sichere Rückkehr von uns dreien liegt in meinen Händen. Eine gewaltige Verantwortung. Als ich nach mehrmaligen Überfliegen des Landegebietes immer noch keine Spur von den beiden entdecke, bekomme ich Angst. Die berühmtesten Sätze der Welt höre ich nur im Hintergrund, angespannt suche ich die Oberfläche nach Anzeichen der Mondfähre ab. Doch auch ohne Sichtkontakt koppeln die beiden planmäßig an. Welche Erleichterung, als wir uns in die Arme schließen.


    Der Rückflug verläuft unproblematisch. Fast wehmütig sehen wir die Erde immer größer werden. Wir wassern im Pazifik und klettern in unseren Isolierungsanzügen mühsam durch die Luke. Und dann sind wir draußen. Ich liege auf dem Rücken und starre in den Himmel. Mein einziger Blick gilt dem Mond. Später werde ich oft gefragt werden, was ich in diesem Moment gedacht und gefühlt habe. Ich kann nie eine Antwort geben. Nach so viel Höhen und Tiefen kann ich in diesem Moment nichts mehr fühlen. Ich höre mein Herz pochen – und staune.

  • "Idiotensicher"
    Thema: Niveau
    Autorin: Inkslinger
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    „Was zum Teufel soll das?“
    Harald Kempe starrte erschrocken auf die Kreatur, die ohne anzuklopfen in sein Büro gestürmt war. Sie trug einen grünen hautengen Lackanzug und die Füße steckten in übergroßen Moonboots. Auf dem Kopf thronte ein lavendelfarbener Motorradhelm mit geschlossenem Visier.


    Als der Eindringling nicht antwortete, färbte sich Kempes Gesicht purpurn.
    „So eine Unverschämtheit! Sofort raus hier, sonst rufe ich die Security!“
    „Die habe ich längst außer Gefecht gesetzt.“, erwiderte das bunte Wesen kühl. „Sie können sich Ihre Drohungen schenken, Kempe.“
    „Woher kennen Sie meinen Namen? Und wer zum Henker sind Sie?“
    „Ihr Name steht sowohl an Ihrer Bürotür, als auch auf dem Schildchen da auf Ihrem Schreibtisch. Außerdem heißt Ihre Firma Kempe Kosmetik, also war das nicht schwer zu erraten.“
    Das Wesen hob die linke Hand und zeigte auf das riesige I auf seiner Brust.
    „Ich bin I, der Idiotenjäger. Ich merze Dummheit aus, wo immer ich sie finde! Ich bin hier, um Ihre Blödheit aus der Welt zu schaffen!“


    Kempe lachte lauthals und kringelte sich in seinem Chefsessel.
    „Und wie willst du das anstellen, du Penner? Hast du irgendwelche 'Geniestrahlen' oder so einen Mist?“
    I schüttelte den Kopf.
    „Die sind noch in Arbeit. Bis dahin muss ich zu anderen Mitteln greifen.“
    Langsam öffnete er den Reißverschluss seines Anzugs und holte etwas hervor.
    „Hast du mich eben etwa blöd genannt, du hässlicher Kackvogel?!“
    I hielt in der Bewegung inne und legte den Kopf schief.
    „Diese Frage ist bereits die Antwort, Kempe. Nur ein Idiot erkennt erst Minuten später, dass er ein Idiot genannt wurde.“


    In seiner Hand hielt I einen kleinen Karton, den er auf den Schreibtisch stellte. Neugierig zog Harald den Kasten zu sich und hob den Deckel an. Seine Augen weiteten sich.
    „Bist du irre? Was soll ich mit dem Zeug?“
    Er holte den Inhalt hervor und verteilte alles auf dem Tisch. I zeigte auf die verschiedenen Utensilien, während er dem ratlosen Kempe deren Funktion im Kampf gegen die Blödheit erklärte.
    „Das Buch, das da vor dir liegt, ist der Duden. Dort findest du viele schöne Wörter und wie man sie richtig benutzt. Die Schachtel dort enthält die aktuellste Ausgabe von Trivial Pursuit. Ich werde jede Woche unangemeldet in deinem Büro oder bei dir zu Hause auftauchen und mit dir spielen. Solange, bis du mich besiegst. Und ich habe noch nie verloren...“
    „Und was, wenn ich nicht tue, was du von mir verlangst?“
    I lachte und ging auf ihn zu.
    „Dann wirst du der erste Mensch sein, an dem ich meinen selbstgebastelten Bestrafungsstrahl testen werde. Bis bald, Kempe.“


    Mit einem großen Schritt war I am Fenster. Er kletterte auf den Sims, sprang ins Blumenbeet und schon war er verschwunden. Nur der Duft von Eukalyptus und die Mitbringsel auf dem Tisch erinnerten an seinen Besuch.
    Harald ließ das Geschehene noch einmal Revue passieren und grübelte. Nach langer Zeit zuckte er mit den Schultern und murmelte:
    „Wieso sollte ich ihm nicht gehorchen? Schließlich kann er fliegen.“

  • "Grabrede"
    Thema: Niveau
    Autorin: Kirsten S.
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    Da stand er, der Sarg. Theo straffte seine Schultern und trat langsam vor. Dann zog er ein Blatt aus der Tasche seines Sakkos und glättete es, wobei seine vom Alter gezeichneten Hände leicht zitterten.
    „Liebe Anwesende“, begann er mit brüchiger Stimme.
    „Heute tragen wir Karl-Gustav zu Grabe. Seit meiner Geburt haben wir Tür an Tür gelebt, fast 85 Jahre lang.
    Karl-Gustav, lange Jahre hindurch habe ich deine Familie und dich begleitet. Aber dass du einmal vor mir zu Gott gehst, hätte ich nie gedacht, obwohl du ein paar Jahre älter warst.“ Er hielt kurz inne, um sich zu sammeln.
    „Unsere Kindheit war schön, doch dann kam dieser unselige Krieg, der uns unsere Jugend gestohlen hat. Auch diese Zeit ging zum Glück vorüber. Ich war lebensfroh, du jedoch hattest dich verändert. Und leider nicht zu deinem Besten. In den vergangenen Jahren hoffte ich mehrmals, dass du vor den Herrn trittst, um endlich Buße zu tun, aber irgendwann kam ich zu dem Schluss, dass der dort oben dich auch nicht will.“ Theo vernahm ein leises Raunen.
    „Karl-Gustav, du warst der größte Tyrann und Egoist auf Erden. Keinem, außer dir selbst, hast du Spaß oder Freude gegönnt. Ein selbstgefälliger Schönling und Blender warst du, der niemanden neben sich gleichgestellt hat. Auch ich habe eine ganze Weile zu dir aufgesehen. Doch dann hast du mir die Frau vor der Nase weggeschnappt, in die ich mich verliebt hatte. Nur um mich zu ärgern, weil ich mich nicht so verhalten habe, wie du das wolltest. Es hat lange gedauert, bis ich dich durchschaut hatte. Ich dachte wirklich, dass du Evi ehrlich zugetan warst.


    Dass du meine Evi geheiratet hast, hätte ich dir verziehen, denn sie liebte dich, damals. Aber nicht, wie du sie behandelt hast. DAS verzeihe ich dir nie. Oft genug habe ich sie schluchzen gehört, nachdem du mit ihr fertig warst.“
    Theo hatte sich in Rage geredet. Mit fester Stimme sprach er in dem totenstillen Raum weiter.


    „Und dann hast du mich auch noch überall verleumdet und schlecht gemacht. DU, der du überall angesehen warst und überall den großen Max markiert hast, nur weil du deines Vaters Geschäft geerbt hast. Ha. Nur weil ich es wagte, Evi, und später ihre Kinder, in Schutz zu nehmen. Das ginge mich nichts an, meintest du. Aber du hattest Unrecht. Evi ist die Liebe meines Lebens. Doch eine Scheidung kam nie in Frage. Eher hättest du sie umgebracht.


    Seit einigen Jahren will niemand mehr etwas mit dir zu tun haben. Auch nicht deine Kinder, denen ich eher ein Vater war, als du. Am Ende deines erbärmlichen Lebens haben dich alle durchschaut!
    Jetzt musst du hoffentlich Rechenschaft ablegen, und ich werde meine verbleibende Zeit auf Erden nutzen, um sie mit der Liebe meines Lebens zu verbringen.“


    Nach diesen Worten ging er zu Evi, die allein in der vordersten Bank saß und ihn anlächelte. Sich gegenseitig stützend verließen sie langsam die leere Friedhofskapelle, ohne sich ein einziges Mal umzublicken.

  • "Die Kunst der gepflegten Unterhaltung"
    Thema: Niveau
    Autor: Marlowe
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    (ein Akt in 310 Worten)


    Vorhang auf


    Tomasius: Freunde, lasst und doch über Histonius neuestes Pamphlet, die unheimliche Begegnung mit einer drittklassigen Art, reden. Voltarius, deine Meinung bitte.


    Voltarius: Eigentlich möchte ich mich zu diesem Auswurf kleingeistiger Beutungslosigkeiten nicht äußern.


    Histonius: Hört, hört!


    Churcilius: Votarius, wieso lehnst du immer gleich alles ab, war dir umsonst geboten wird?


    Voltarius: Habe ich nicht das Recht, eine mir umsonst angebotene verfaulte Frucht auszuschlagen?


    Beatrippia: Womit Voltarius noch vor dem Ende der Unterhaltung sein Fazit präsentiert hat. Bravo.


    Batcania: Selbst im schlechtesten Text könnte ein Körnchen Wahrheit zu finden sein.


    Voltarius: Na dann los, suche, finde und berichte dann.


    Batcania: Die war eine allgemeine Bemerkung zu schlechten Texten und nicht explizit zu Tomasius vorgeschlagenen von Histonius.


    Churcilius: Nun, vielleicht befruchtet unser Diskurs unseren Histonius, sich intensiver um mehr Inhalt und nicht um mehr Worte zu bemühen.


    Histonius: Ihr Schwätzer, was wisst ihr denn schon.


    Jassania: Mein lieber Histonius, was wolltest du denn eigentlich mit diesem Text ausdrücken?


    Votarius: Lasst ihm Zeit zum Nachdenken, das einzige was ich von ihm mag ist seine Mimik bei diesem erfolglosen Versuch sich mit uns auf eine Stufe zu stellen.


    Histonius: Wolkania, ich flehe dich an, sag doch auch was zu diesem neuen Text von mir.


    Wolkania, nach langem Schweigen: Die ehrlichste Art der Kritiker sich über einen nicht kritikwürdigen Text zu äußern ist ihn nicht zu erwähnen.


    Tomasius: Danke, Wolkania, sprechen wir nun also über.....


    Wolkania: Ich war noch nicht fertig, Tomasius, ich werde über die Tontafel der Mitschrift dieses Treffens Wasser gießen und die Worte löschen. Euch allen aber empfehle ich dringend den Beitrag von Adifuzis zu lesen, Kritik als Kunst oder die Kunst der Kritik. Ich bereite jetzt schon mal eine neue Tontafel über eure Unterhaltung darüber vor.
    Vorhang geht zu