Berliner Mietshaus - Irina Liebmann

  • Berlin, Prenzlauer Berg, in einem ganz normalen Mietshaus werden ganz normale Leben geführt: Menschen lieben sich und streiten sich, Kinder werden geboren, man arbeitet und gestaltet seine Freizeit, und am Ende wird man alt, stirbt.
    Das Besondere: Die Geschichte der Bewohner dieses Mietshauses stammt aus dem Jahr 1980, Irina Liebmann portraitierte in diesem Büchlein die Hausbewohner in ihrem Alltag in der DDR. Und das könnte kaum ein größerer Kontrast zu dem sein, wie man heutzutage auf dem Prenzlauer Berg so lebt.
    Stockwerk für Stockwerk klingelte Liebmann an den Türen, um mit den Menschen zu sprechen und wurde in den allermeisten Fällen auch eingelassen. Einsame Rentnerinnen freuen sich über jede Abwechslung und servieren Kaffee und angegorene Erdbeeren, während die Besuche beim lebenslustigen Maurer feucht-fröhlich enden. Manche zeigen stolz ihre selbst renovierten Wohnungen, andere beschweren sich über die Zumutungen eines Altbaus. Es gibt junge Familien, die der Biederkeit der DDR-Gesellschaft folgen, also erst heiraten und Kinder kriegen, um dann endlich eine eigene Wohnung zugeteilt zu bekommen, aber auch selbstbewusste ledige Mütter, die durch komplizierte Ringwohnungstausche zu den eigenen vier Wänden gekommen sind.
    Hier leben Ur-Berliner, die ihr gesamtes Leben innerhalb weniger Straßenzüge zugebracht haben, aber auch so mancher, der der piefigen, oft sächsischen Provinz entflohen ist, um die relative Freiheit Ost-Berlins zu genießen


    Deutlich erkennbar ist der gesellschaftliche Hintergrund der Bewohner. Die Arbeit und dabei nicht zuletzt das Kollektiv tragen maßgeblich zum Wohlbefinden bei, sei es nun ein Krankenhaus, die Telefongesellschaft oder das Deutsche Theater. Dabei spielt der Beruf als solcher eine eher untergeordnete Rolle, viele der Bewohner haben eine wechselvolle beruflich Laufbahn, die nicht unerheblich vom Zufall bestimmt wurde, hinter sich. Entscheidend ist das betriebliche Umfeld und die gesellschaftliche Anerkennung, ob die Menschen zufrieden sind.
    Nur wenige, etwa der Theaterpuppenbauer und die Theologiestudentin scheinen sich bewusst und zielstrebig für einen ganz bestimmten Beruf entschieden zu haben.
    Die Mangelwirtschaft ist zwar allgegenwärtig, aber eben auch der ungeheure Einfallsreichtum, mit dem ganz praktische Probleme gelöst werden. Das dürfte nicht alles im Sinne der Oberen gewesen sein, und oft bewegt sich das am Rande der Legalität. Aber offenbar fand die großflächige Plünderung der Betriebe für private Zwecke in der Form nicht oder erst später statt, auch wenn ich nicht ausschließen möchte, dass dieser Aspekt der (Selbst)-Zensur zum Opfer gefallen ist (ich habe die Originalausgabe von 1982 gelesen).


    „Berliner Mietshaus“ war für mich wie eine Zeitreise in ein Land, das ich zwar einige Male besucht habe und das mir aus vielen Erzählungen von ehemaligen DDR-Bürgern auch irgendwie vertraut, aber irgendwie auch ziemlich fremd ist. Es liefert Einblicke in das Leben von ganz normalen Menschen und ihren ganz individuellen Sorgen, die nur am Rande etwas mit dem politischen System, in dem sie lebten, zu tun hatten. Das mag nach einem biedermeierlichen „Rückzug ins Private“ klingen, aber vielleicht war es auch einfach nur menschlich.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Danke für die tolle Rezi, Draper
    Hui das klingt interessant.
    Da ich ja selbst auch ne Ostberliner Pflanze bin und den Prenzelberg noch düster und mit mindestens einen Hinterhof kenne freu ich mich auf dieses Büchlein.
    Habs mir eben bei BL bestellt. :grin

  • Bin noch nicht ganz durch aber ich kann ja schon mal was dazu sagen.


    Prenzelberg war und ist in meiner Erinnerung düster also die Straßenzüge und die Häuser, aber das waren andere Straßen mit Altbauten auch.
    Aber der Prenzelberg hatte schon damals eine eigene Anziehungskraft.
    Selbst gewohnt habe ich dort nicht aber ich habe mich dort sagen wir es ruhig rumgetrieben. :lache
    Irina Liebmann schreibt das so locker und flockig auf als wenn sie ebenfalls dort gewohnt hat.
    Die Geschichten sind an sich nix besonderes, so war das damals halt. Aber Irina L. macht sie dazu, liest sich sehr gut und hat Spaß gemacht.


    Leider habe ich mal wieder Pech gehabt bei meinem Buch fehelen Seiten, also die Seiten sind da aber da steht nix drauf.... :lache
    S.129...dann gehts auf S.132 weiter bis S.133...dann gehts auf S.136, bis jetzt ...habe eben noch nachgeblättert, alle Restseiten sind da.


    Aber Cafe` NORD in der Schönhauser wird erwähnt. Da war ich jede Woche Donnerstag nach der TRO-Disko.


    Und nun könnt Ihr fragen. :rofl


    So nun isses zu Ende.


    Tolles kleines Büchlein.


    Übrigens, den Marzahner Dorfkrug kenn ich habe 8 Jahre praktisch daneben gewohnt. Ist im alten Dorfkern Marzahn und daneben stehen die 11Geschosser.

  • Zitat

    Original von oemchenli
    Die Geschichten sind an sich nix besonderes, so war das damals halt. Aber Irina L. macht sie dazu, liest sich sehr gut und hat Spaß gemacht.


    Genau das, also dass die Geschichten nix Besonderes sind, hat mich so fasziniert. Diese Alltagskultur wird ja selten dokumentiert, wer hat sich denn dafür interessiert, was eine Putzfrau über den Sozialismus denkt? Wie sie ihren Alltag gemeistert haben?


    In vielen westdeutschen Köpfen spukt ja die Vorstellung herum, dass die DDR-Bürger den Tag auf Arbeit verdöst haben, um sich dann, frisch ausgeruht, in die Schlange nach Bananen einzureihen und danach, natürlich gegen Westgeld, mit im Betrieb gemausten Ersatzteilen das Auto des Nachbarn zu reparieren.
    Für mich war Liebmanns Buch wie ein Guckloch, durch dass ich einen kurzen Blick auf ein ganz normales Leben erhaschen konnte, das sonst für immer verloren wäre. Gerade, weil ich das in der Form nicht selbst miterlebt habe.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Erstmal vielen Dank für den Tipp, Draper.


    Habe mir die Ausgabe von 1990 organisiert und kann mich Deiner ersten Rezi im großen und ganzen anschließen: Ein wirklich gelungener Einblick in das Alltagsleben der Ostberliner.


    Zitat

    Original von DraperDoyle
    Genau das, also dass die Geschichten nix Besonderes sind, hat mich so fasziniert. Diese Alltagskultur wird ja selten dokumentiert, wer hat sich denn dafür interessiert, was eine Putzfrau über den Sozialismus denkt? Wie sie ihren Alltag gemeistert haben?


    Sehe ich genauso, bis auf den Punkt mit dem Sozialismus. Der politische Aspekt fällt weitestgehend unter den Tisch. Natürlich wird der Mangel und der Einfallsreichtum beschrieben, aber eine politische Einstellung, wie man sie heute vermutlich notieren würde, wurde in praktisch allen Kapiteln weggelassen. Aber das soll keine Kritik sein, ich denke, dass das genau den Gegebenheiten entsprach, ähnlich wie bei den Theologie-Studenten, wo ja ganz offen gesagt wurde: Man spricht nicht drüber (in diesem Fall über den Glauben).


    Ein bißchen seltsam fand ich nur die eigene Sprachlosigkeit der Autorin, wenn der Bewohner nicht von selbst seine ganze Lebensgeschichte runtergerasselt hat. In einem Kapitel erwähnt sie immer wieder, daß die Interviewten schwiegen und auf Fragen warteten - die sie sich aber offenbar nicht zurechtgelegt hatte und ihr außer der Frage nach dem Beruf nix einfiel. Andersherum wiederum überraschend, daß die Schweigsamkeit nur in einer Wohnung vermerkt wurde.

    "Wie kann es sein, dass ausgerechnet diejenigen, die alles vernichten wollten, was gut ist an unserem Land, am eifrigsten die Nationalflagge schwenken?"
    (Winter der Welt, S. 239 - Ken Follett)

  • Zitat

    Original von LeSeebär
    Natürlich wird der Mangel und der Einfallsreichtum beschrieben, aber eine politische Einstellung, wie man sie heute vermutlich notieren würde, wurde in praktisch allen Kapiteln weggelassen.


    Das glaube ich nicht, gerade mit Fremden wird doch auch heutzutage nicht über Politik geredet. Und gerade in der DDR werden die Menschen einer flüchtigen Bekannten nicht unbedingt ihre politische, womöglich oppositionelle Meinung auf die Nase binden.


    Die "Sprachlosigkeit" der Autorin ist meiner Meinung nach beabsichtigt. Fragen sind auch immer manipulativ. Das ist auch bei Dokumentarfilmen eine oft verwendete Technik: die Leute einfach reden lassen :wave

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Ein gutes Beispiel und mit Bildern ist dieser Film, da kann man sich den damaligen Prenz'lberg mal näher ansehen, so die Häuser wie abgeranzt die waren und so.


    Schlagersängerin Sunny vom Prenzlauer Berg liebt und lebt Ihr Leben und tingelt mit der Band »Tornados« durch Dörfer und Kleinstädte. Fast alles läuft nach Ihrem Geschmack, doch nach einem Streit fliegt sie aus der Band. Diese Situation wirft sie zuerst aus der Bahn. Doch Sunny gibt nicht auf, niemals. Der letzte Spielfilm von Konrad Wolf ist ein Meisterwerk voll treffsicherer und witziger Dialoge, mit gut beobachteten Alltagssituationen und einer durchgehend heiteren Grundstimmung. Bei der Berlinale 1980 erhielt Solo Sunny den Filmkritikerpreis und Renate Krößner einen Silbernen Bären als beste Darstellerin.

  • Zitat

    Original von DraperDoyle
    Das glaube ich nicht, gerade mit Fremden wird doch auch heutzutage nicht über Politik geredet.


    Ich denke, jemandem, dem ich mehr oder weniger meinen kompletten Lebenslauf erzähle (wie in dem Buch geschehen), dem jammere ich auch vor, wie gemein die Politik mich behandelt - egal ob es dann auf zu hohe Steuern oder die Sanktionen und Schikanen bei Hartz 4 hinausläuft, Politik wäre mit Sicherheit ein Thema bei einer vergleichbaren Umfrage in heutiger Zeit.


    Zitat

    Die "Sprachlosigkeit" der Autorin ist meiner Meinung nach beabsichtigt. Fragen sind auch immer manipulativ. Das ist auch bei Dokumentarfilmen eine oft verwendete Technik: die Leute einfach reden lassen :wave


    So lange sie das tun, ist das sicherlich eine gute Variante, gerade in Bezug auf die angesprochene Manipulation. Aber wenn der Gegenüber nun so gar nix sagt, sondern erstmal wissen will, was denn den anderen interessiert, sollte man doch zumindest ein paar Fragen in der Hinterhand haben, oder?

    "Wie kann es sein, dass ausgerechnet diejenigen, die alles vernichten wollten, was gut ist an unserem Land, am eifrigsten die Nationalflagge schwenken?"
    (Winter der Welt, S. 239 - Ken Follett)

  • Zitat

    Original von LeSeebär... Ich denke, jemandem, dem ich mehr oder weniger meinen kompletten Lebenslauf erzähle (wie in dem Buch geschehen), dem jammere ich auch vor, wie gemein die Politik mich behandelt - egal ob es dann auf zu hohe Steuern oder die Sanktionen und Schikanen bei Hartz 4 hinausläuft, Politik wäre mit Sicherheit ein Thema bei einer vergleichbaren Umfrage in heutiger Zeit. ...


    Das bezweifle ich, wenn zu deiner Sozialisation gehörte, dass man wegen Motzen gegen die Staatsmacht "abgeholt" wird. Unter Hitler ins KZ und unterm Spitzbart zur Stasi.

  • Zitat

    Original von Buchdoktor


    Das bezweifle ich, wenn zu deiner Sozialisation gehörte, dass man wegen Motzen gegen die Staatsmacht "abgeholt" wird. Unter Hitler ins KZ und unterm Spitzbart zur Stasi.


    Bitte nochmal lesen - genau darum geht es -> diese Sozialisation stirbt aus deshalb haben die Leute heutzutage kein Problem damit, intimste Geheimnisse aller Öffentlichkeit via Facebook mitzuteilen und auch die Politik zu thematisieren.

    "Wie kann es sein, dass ausgerechnet diejenigen, die alles vernichten wollten, was gut ist an unserem Land, am eifrigsten die Nationalflagge schwenken?"
    (Winter der Welt, S. 239 - Ken Follett)

  • Guter Tipp!


    Da ich tatsächlich im Ostteil Berlins sozialisiert wurde und auch ein paar Jahre in PrenzlBerg gelebt habe, bin ich sehr gespannt auf das Buch.


    @ Buchdoktor: es gibt einen gravierenden Unterschied zwischen der Sozialisation, die einige Ex-DDR-Bürger real erlebt haben und der, die in den Medien als für alle und immer geltend dargestellt wurde.


    Und mal ehrlich: Wer von euch unterhält sich denn heute wirklich über den eigenen politischen Beitrag? Bei vielen finden solche Gespräche schon allein deshalb gar nicht statt, weil es diesen eigenen Beitrag gar nicht gibt ... ich zumindest muss und musste in den beiden westdeutschen Städten, in denen ich seit 10 Jahren lebe und lebte, sowohl privat als auch beruflich lange danach suchen. ("Jammern über ALG II" ist für mich kein "Gespräch über Politik", sondern einfach nur Jammern. Ich kenne diese Situation selbst und mir sind durchaus andere Möglichkeiten eingefallen, damit umzugehen.) Gespräche über politisches, womöglich noch eigene politische Ansichten! gelten meiner Erfahrung nach als verpönt. Lieber wird über die neue Hose der Kollegin gelästert ... das habe ich früher anders (= mutiger, lebendiger) erlebt.


    Aber jede Zeit hat ihre eigenen Qualitäten und mein Wunsch wäre es, denen nachzuspüren statt ewig in den alten VOR-Urteilen stecken zu bleiben. Ich finde es sehr unachtsam, Wissen suggerierend über Dinge zu sprechen, die man nicht kennt. "Ich könnte mir vorstellen, dass ..." klänge in meinen Ohren wesentlich respektvoller ... ist aber (vielleicht) Ansichtssache.



    ... zurück zum Buch: Ich freu mich drauf.

  • Zitat

    Original von SternenTag
    @ Buchdoktor: es gibt einen gravierenden Unterschied zwischen der Sozialisation, die einige Ex-DDR-Bürger real erlebt haben und der, die in den Medien als für alle und immer geltend dargestellt wurde.


    Keine Sorge, ich brauche keine Medien dazu, um mir meine konkrete Siuation in einer zu DDR-Zeiten von der Mauer getrennten Familie zu erklären. ;-)

  • Dieses Buch angemessen zusammenzufassen, daß eine taugliche Kritik entsteht, ist schwierig. Die Fülle der Themen ist immens.
    Es werden nicht nur 29 BewohnerInnen eines Hause vorgeführt, die sich mal äußern dürfen, es sind in Kürzestfassung neunundzwanzig Lebensromane samt der Geschichte des ganzen Gebäudes, die hier aufgeschrieben wurden.
    Allein die Idee ist umwerfend. Die Menschen, denen Liebmann begegnet, einfach reden zu lassen, ist entscheidend für die zahlreichen Überraschungen, die sich aus dem Erzählten ergeben, aber auch dafür, daß die Stimme alle unterschiedlich klingen.
    Dazuzählen muß man auch die Interviewerin, denn sie ist nicht nur einmal überwältigt von dem, was sie nicht nur hört, sondern regelrecht mitlebt.


    Interessant und faszinierend entwickelt sich aus den Einzelgeschichten ein Panorama von der Zeit vor dem ersten Weltkrieg bis 1980. Die Anziehungskraft der Großstadt Berlin, gleichermaßen Sehnsuchtspunkt wie Haßobjekt, war überwältigend. Der Ort, an dem man viel Geld verdienen kann, sich privilegiert fühlen, aber auf das Kleinräumige, Vertraute verzichten muß. Die Herkunftsorte werden dementsprechend verklärt, egal, ob es ein Dorf vor dem 1. Weltkrieg, Czernowitz zu Beginn der 1930er oder eine Kleinstadt in Thüringen 1970 ist. Es gibt eine Menge Ähnlichkeiten im Verhalten der Generationen, Aufbauwille, Veränderungswille, der Wunsch nach Geborgenheit, das sich Ergeben in herrschende Zustände. Über Einzelheiten in den 1930er und 40er wird genauso hurtig weggehuscht, wie über Details in den 1960ern und 70ern.


    Das scheint aber weniger daran zu liegen, daß die Befragten sich nicht äußern wollen, sondern daß sie selbst keine rechte Meinung dazu haben. Liebmann gelingt es aber allein dadurch, daß sie die Menschen reden läßt, Positionen deutlich zu machen, Ungesagtes zum Vorschein zu bringen. Eine Menge Lebensphilosophie kommt dabei zum Vorschein, wenn es um den Tod geht bei einer alten Mieterin etwa, die durch eine Verkettung seltsamer Umstände immer diejenige war, die die eben verstorbenen NachbarInnen gefunden hat, oder um Veränderung bei einem jungen Paar. 'Einer kann nichts bewegen', da sind sie sich sicher. Eine Volksbewegung braucht man. Und dann das Erschrecken: das wäre Revolution.
    Man spürte den Schrecken auch heute noch beim Lesen der vier, fünf Sätze.


    Es gibt den Mut der Jungen, die selbstbewußt ledige Mutter sind oder ebenso selbstbewußt Puppenmacher oder Arbeiter beim Telefondienst. Der letzter erklärt auch gleich, wie man korrekt Trinkgelder gibt.
    Solche Schlaglichter gibt es häufig, Liebmann hat ein Ohr dafür.


    Die Politik schleicht sich untergründig ins Gespräch. Einmal wird tatsächlich abgeblendet, das schreibt Liebmann auch, es ging um Außenpolitik. Was gesagt wurde, wird nicht notiert. Ein andermal eine ähnliche Situation, die sich in einem herrlichen doppeldeutigen Witz auflöst. Es geht um Wanzen. Wer hier verstehen will, versteht.


    Zu all den Geschichten gibt es Informationen über das Haus. Wo es steht, wann es gebaut wurde und warum, Haupt --, Hinter – und Quergebäude, Wohnungen, Werkstätten, über die Ausstattung bis hinunter zum Keller. Überall sind kleine Geschichten eingeflochten. Man muß sich an neue Ausdrücke gewöhnen, HGL, etwa, zuständig für alles, was im Haus anfällt, außer dem, was die KWV übernimmt.
    Die Verwaltungen werden nicht unkritisch gesehen, eine Mieterin etwa war so verärgert, daß sie inzwischen bei der KWV arbeitet, um denen mal zu zeigen, daß man das besser machen kann.


    Es besser machen, das wollen sie überhaupt. Sie wünschen sich den Hof zurück, gepflegt wie früher, Bänke hat jemand besorgt, aber gestrichen werden sie nicht. Sie renovieren die Wohnung, es klopft und hämmert und riecht nach Farbe. Die Elektrik ist tiptop. Etwas treibt die BewohnerInnen und wenn es nur der Wohnungsputz ist.
    Zugleich wirken sie orientierungslos, es gibt keine Richtung. Man spürt die sich ausbreitende Resignation. Trotzdem wird diskutiert über das Arbeiterbild, ein kleiner Funktionär im Kulturbereich schimpft über Verkrustungen und die verschwundenen Ideale, alles zugunsten eines Wohlstands, in dem jeder sich selbst bereichert. Ganz typisch für die DDR zu Beginn der 1980er, Honecker bestimmt seit neun Jahren, das hat Spuren hinterlassen, die nicht mehr zu verwischen sind.


    Es gibt seltsame Begegnungen, wie die mit einem jungen Pärchen, beide Theologie studierend, die sich mit wachsweichen Ausreden weigern, über ihren Glauben zu reden oder einer alten 'Reichsdeutschen', die sich im Grund bis heute weigert, zu begreifen, was der Nationalsozialismus eigentlich war. Liebmanns stummer Kommentar dazu ist berührend und atemberaubend gleichermaßen, ein Ausdruck echter Größe.


    Zufällig und passend zugleich enden die Gespräche bei einem Mieter, mit dem Liebmann über Dichtung und Wahrheit diskutiert, über das, was man sieht, was gespiegelt wird, was man sein will und was man ist. Der Mieter hat noch dazu eine psychische Erkrankung hinter sich. Wäre dieses kleine Buch ein Roman, man würde gerade diesen Schlußpunkt für überzogen halten, weil er letztlich zusammenbringt, was diesen Bericht im Ganzen ausmacht.
    Privates und Öffentliches, individuelle Leben und Gemeinschaft, das Streben, selbst zu gestalten und das Gefühl, immer von den Ereignissen überrollt zu werden. Das Ganze geschildert mit einem Ausmaß an Ehrlichkeit, Unmittelbarkeit und Lebendigkeit, wie man sie sich als Journalistin nicht besser wünschen kann.


    Daß dieses Buch in der DDR entstand und erschien, wird moderne und westdeutsch geprägte LeserInnen mehr erstaunen als das damalige Zielpublikum. Für die war es einfach ein Spiegel ihres Alltags. Für heutige LeserInnen, die mit der nötigen Aufmerksamkeit diesen 29 Lebensberichten folgen, ist das Buch ein Einblick in ein fremdes Land, detailreich, komplex und immer aufs Neue faszinierend.


    Gelesen habe ich ein altes Exemplar, 3. Aufl. 1982.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus