Jahreswertung 2014

  • Liebe Eulen,


    die Regelungen der Jahreswertung unseres Schreibwettbewerbs entsprechen denen der Vorjahre.


    Zugelassen für die Jahreswertung werden alle Beiträge, die in den einzelnen Monatsrunden auf dem Treppchen landeten, also die Plätze 1, 2 oder 3 erreichten.


    Die Abstimmung beginnt wieder bei Null. Alle Texte haben unabhängig von ihrer Monatsplatzierung die gleiche Chance auf den Jahresgewinn. Die Wertung findet wie in den Monatsrunden verdeckt statt und läuft vom 01. – 10. Januar 2015.
    Am 11. Januar werden die Wertungen veröffentlicht und der Jahressieger / die Jahressiegerin 2014 bekannt gegeben.


    Der Verfasser / die Verfasserin des Gewinnertextes erhält einen Büchergutschein im Wert von 25.- €.


    Viel Erfolg!

  • "Verzögerungen im Betriebsablauf"
    Thema: Aussichten
    Autor: arter
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    „Information! Regional-Express nach Flensburg, Abfahrtszeit 18 Uhr 23 heute. Voraussichtlich! Zwanzig Minuten später?" Es ist klirrend kalt, ich will nach Hause. Die Frauenstimme in den Lautsprechern stellt mir diese absurde Frage. Wie soll ich das beantworten? Nein, das ist natürlich keine Frage, die an mich gerichtet ist. Die Ansagen der Deutschen Bahn werden seit einiger Zeit von Sprechautomaten generiert. Mit der Intonation nimmt es diese Software nicht so genau. Bin ich der einzige den das verwirrt?


    Ich mache mich auf eine längere Wartezeit gefasst. Auf diesem Provinzbahnhof gibt es nichts, was mich für voraussichtlich zwanzig Minuten erwärmen könnte. Das sieht die eingemummte Gestalt neben mir offenbar anders und steckt sich eine Zigarette an.


    „Das Rauchen ist nur in den gekennzeichneten Raucherbereichen gestattet", verkündet Miss DB-Robot prompt. Sie betont das Wort gekennzeichnet. Das klingt so, als gäbe es auch ungekennzeichnete Raucherbereiche. Allerdings ist das Rauchen da verboten. Ich versuche den Knoten in meinem Hirn aufzulösen, was mir schwer gelingt. Pflichtbewusst tippe ich der rauchenden Kapuzenfigur auf die Schulter: "Entschuldigung, in den ungekennzeichneten Bereichen dürfen sie nicht rauchen". Es handelt sich um einen jungen Mann mit wulstigen Lippen und einer Narbe auf der Wange. "Eine auf die Fresse?", fragt er mit eindeutiger Intonation. "Ich meine ja nur, falls sie von der Ansage auch verwirrt sind. Es liegt mir natürlich fern ihnen Ratschläge zu geben, ..." Er blickt finster. Vorsichtshalber verzichte ich auf weitere Ausführungen.


    „Sicherheitshinweis: Bitte lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt!" meldet sich die Roboterdame. Da der Kapuzenmann ohne Tasche unterwegs ist und sich außer uns niemand auf dem Bahnsteig befindet, kann sie nur mich meinen. Ich führe in meinem Köfferchen nur benutzte Wäsche von zwei Tagen mit mir. Wessen Sicherheit gefährdete ich, wenn ich es einen Moment hier abstellte? Nicht dass ich das vorhätte, aber mich irritiert, dass von meinem Koffer angeblich eine Bedrohung ausgeht. Selbst wenn die Kapuzenfigur mein Gepäck stehlen würde, bestünde keinerlei Sicherheitsrisiko, denn ich wäre vernünftig genug, wegen eines alten Koffers mit Dreckwäsche keinen Streit anzufangen.


    Inzwischen beginne ich zu ahnen, in welche Richtung die Verdächtigung geht. Offenbar beschuldigt mich die Deutsche Bahn, dass ich einen Bombenkoffer mit mir führe. Ich finde diese Anschuldigung ungeheuerlich. Da sich niemand sonst auf dem Bahnsteig befindet, frage ich mutig den Kapuzenmann, dessen Blick immer noch feindselig ist. "Fühlen Sie sich eigentlich durch meinen Koffer bedroht?" In seinem Blick erscheinen Fragezeichen. "Ich versichere ihnen, dass ich nicht vorhabe, uns beide in die Luft zu sprengen." Ich möchte ihm beweisen, dass ich harmlos bin und nestele an dem Reißverschluss. Er soll ruhig sehen, dass ich nur unbedenkliche Gegenstände mit mir führe. Ich begreife nicht, warum er daraufhin panisch Reißaus nimmt.


    Dann bin ich allein. Allein mit Frau Robot. Alle fünf Minuten zucke ich zusammen. wenn sie mich an das Rauchverbot und die Gefahr erinnert, die von meinem Gepäckstück ausgeht. Ich bin inzwischen zu einem Eisblock erstarrt. Allmählich beginne ich darüber nachzusinnen, was ich bei der Verspätungsansage eventuell noch missverstanden haben könnte. Was verbirgt sich eigentlich hinter diesem Wort: „Voraussichtlich?"

  • "Auf und davon"
    Thema: Aussichten
    Autorin: Rumpelstilzchen
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    Urlaub ist das jedenfalls nicht. Nordsee im Juni. 13° Celsius. Dauerregen.


    Die beiden „Großen“, Julia, fünf, und Nina fast drei Jahre alt, langweilen sich. Am Strand stört sie der Wind. Die mitgebrachten Spiele sind zigmal gespielt. Tobias, der Jüngste, 10 Monate alt, verträgt das Nordseeklima schlecht. Er schläft höchstens eine Stunde am Stück. Natürlich ist er übermüdet und quengelig. Die zur Entlastung mitgereiste Großmutter liegt mit Bronchitis und Fieber auf dem Sofa.


    Aber heute scheint der Wettergott ein Einsehen zu haben. Es ist trocken. Die Sonne schickt helle Strahlen durch die weißen Wolken. Tobias und Nina sitzen im Gras und pflücken Gänseblümchen. Bis auf das Geplapper und Gekicher der beiden Kinder ist es still. Die Sonne wärmt angenehm, fast nicke ich auf dem Stuhl ein.


    Aber wo ist Julia? „Juulia“, rufe ich. Keine Antwort. “Nina, wo ist Julia?“ Nina deutet ins Haus. „Reingegangt mit Blauohrhase“. Auch Tobias deutet nach drinnen und kreischt begeistert: „da, da, da“. Im Haus ist es still, nur das leise Schnarchen meiner Mutter tönt vom Sofa. „Julia“, rufe ich, gehe ins Kinderzimmer, in die Küche, ins Bad. Niemand. Die Gartentür zur Straße steht offen, obwohl ich sie immer sorgfältig schließe. Ich rüttle meine schlafende Mutter wach. „Mama, pass auf die Kleinen auf. Julia ist weg, ich suche sie.“


    Wo kann sie sein? Vielleicht beim Bäcker um die Ecke, bei dem sie jeden Morgen die Brötchen holt. Bestimmt ist sie dort. Den Weg kennt sie. Ich laufe das kurze Stück das kleine Sträßchen entlang, biege links auf die Hauptstraße ab. Nirgends ein Blondschopf im roten Ringelpullover. Ich stürze in den kleinen Bäckerladen, frage Herrn Nissen, ob er Julia gesehen hat. „Nicht seit heute Morgen“. Langsam gerate ich in Panik, meine Gedanken rasen. Die Autos fahren sehr schnell hier, schon stelle ich mir die kleine Gestalt im Straßengraben vor. Mir ist schlecht, mein Magen rebelliert.


    Schluss jetzt. Sicher ist sie zum Leuchtturm gegangen, den Leuchtturmwärter suchen. Ich renne über die Straße, schaue in alle Richtungen. Nur ein Radfahrer fährt Richtung Deich. Mein Herz rast, die Beine zittern, Seitenstiche. Egal, nur weiter, den schmalen Plattenweg entlang. Auf dem Deich: Radfahrer, ein Jogger mit Hund, eine Gruppe Jugendliche. Keine Julia, kein Blondschopf.


    Wohin jetzt? Der Spielplatz zwischen den Dünen, vielleicht ist sie dort. Ich haste die sandigen Wege entlang. Immer wieder rufe ich: „Julia, Julia“. Da, der Spielplatz. Am Sandkasten sitzt ein Mann mit zwei Kindern und backt Sandkuchen. Sonst niemand. Doch, da. Ganz oben, auf dem Klettergerüst, hinter dem Mast mit der Piratenflagge. Eine kleine Hand deutet nach Norden, dahin, wo das Meer ist. Die andere Hand hält einen Stoffhasen mit langen blauen Ohren über das Geländer. Vor Freude und Erleichterung laufen mir die Tränen übers Gesicht, als ich die aufgeregte Stimme höre: „Schau, Blauohrhase, da vorne, da ist Panama.“

  • "Hoch hinaus"
    Thema: Aussichten
    Autor: churchill
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    Die kleine graue Kirchenmaus
    wollt endlich einmal hoch hinaus,
    entfliehen ihrem dunklen Keller.
    Die Treppe rauf. Erst schnell. Dann schneller.
    Fast war sie oben auf dem Turm,
    da traf sie einen armen Wurm,
    der schlich nicht gerade munter
    die Stufen wieder runter,
    wobei er zwar nicht klagte,
    aber auch sonst nichts sagte.


    Da hat die Maus gedacht:
    Das wäre doch gelacht!
    Ich lass mich nicht verdrießen
    und will den Blick genießen
    vom Turmfenster ganz oben.
    Den Schöpfer endlich loben
    in offener Natur
    mit Sicht auf Wald und Flur.
    Dann schaute sie voll Wonne
    direkt fast in die Sonne.


    Hier wollt sie ewig bleiben
    und sich die Zeit vertreiben.
    Sie war ne Maus fürs Licht!
    Der Keller lag ihr nicht.
    Im Modrigen und Feuchten
    konnt sie nicht richtig leuchten.
    Hier bleib ich. Könnt ihr glauben!
    Da nahten sich zwei Tauben,
    die prompt, ihr werdet's wissen,
    auf unser Mäuslein schissen.


    Ganz unten in dem Kirchenhaus
    sitzt unsere kleine graue Maus,
    berichtet gerade allen,
    es hätt ihr nicht gefallen
    dort droben auf dem Turm.
    Da grinst der arme Wurm.
    Sie sagt, es regnet. Wind sei kalt.
    Da oben werde man nicht alt.
    Und hier sei's eh viel heller.
    Im Keller ...

  • "Millers neuester Fall"
    Thema: Scharf
    Autorin: Inkslinger
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    „Jetzt schaut euch dieses Chaos an!“, ruft Inspector Miller und macht eine allumfassende Geste.
    Die Wohnung ist eine typische Junggesellenbude. Staub, dreckiges Geschirr und meterhohe Wäscheberge stapeln sich in jeder Ecke. Ich habe schon Schlimmeres gesehen, schließlich habe ich einen kleinen Bruder. Doch meines Wissens nach hatte der nie eine Leiche auf seinem Sofa.


    Die Sonne scheint durch das streifige Fenster und fällt in staubigen Strahlen auf den leblosen Arm. Miller geht auf den Gerichtsmediziner zu, der gerade über dem Opfer hockt und die Schnittwunden in der Brust untersucht.


    „Und, was können Sie mir über den Toten sagen?“
    Dr. Monroe schaut auf.
    „Das Opfer ist ein 22-jähriger Mann, multiple Schnittverletzungen und Einstichstellen im Oberkörper. Todesursache war jedoch ein Schlag in den Nacken, der ihm das Genick gebrochen hat. Todeszeitpunkt vor etwa zwei bis drei Stunden. Alles Weitere nach der Obduktion.“


    Obwohl ich dieser Tätigkeit schon mehrere Jahre nachgehe, habe ich so was Brutales schon lange nicht mehr gesehen. Man stumpft mit der Zeit ab, aber ganz spurlos geht es nicht an einem vorbei. Dass Menschen zu so etwas fähig sind, kann man nie wirklich begreifen.


    Mein Blick schweift ab und bleibt am Regal über dem Kamin haften. Dort stehen viele Fotos mit dem Jungen, seinen Freunden und der Familie. Anscheinend war er sehr beliebt gewesen, doch nicht so geliebt, wie er wohl gedacht hatte.


    Es ist schon dunkel als ich mit Inspector Miller aufs Revier fahre. Seine Augenbrauen sehen aus wie zwei dicke Raupen, die versuchen, sich gegenseitig vom Ast zu schubsen. Diesen Gesichtsausdruck hat er immer, wenn ein Fall ihn sehr beschäftigt. Ich überlege, ob ich ihm meine Gedanken zu dem Geschehenen mitteilen soll, entscheide mich aber dagegen. Er würde mir sowieso nicht zuhören.


    Einige Zeit danach sind wir am nächsten Tatort. Der Zwillingsbruder des ersten Opfers wurde auf genauso brutale Art getötet. Hatte es dort eine Verwechslung gegeben? Welcher Bruder sollte eigentlich sterben? Oder versuchte jemand, die ganze Familie auszulöschen?


    Später an dem Tag ruft der Gerichtsmediziner Inspector Miller zu sich in die Leichenhalle.
    „Ich habe etwas Merkwürdiges beim zweiten Opfer gefunden.“, erklärt er und zieht das Tuch vom aufgebahrten Körper.
    Er macht einen Schritt zurück und zeigt auf den Bauch der Leiche. Miller geht näher heran und betrachtet die Stelle. Plötzlich reißt er die Augen auf und hält den Atem an.
    „Oh mein Gott!“, ruft er. „Er hat keinen Bauchnabel!“


    Gerade, als ich an den Körper ranzoome, kommt meine Mutter rein.
    „Was soll das denn schon wieder?“, schreit sie mich an und reißt mir die Fernbedienung aus der Hand.
    „Du sollst dir nicht immer diesen Schrott ansehen! Das ist nichts für eine Zwölfjährige!“
    Sie macht den Fernseher aus und ich stöhne. Jede Woche die selbe Leier! Wie immer versuche ich, sie mit Logik zu überzeugen.
    „Tatsache ist, dass ich mich sehr fürs Kriminalisieren interessiere. Entweder, du lässt mir meine Serie in HD+, oder ich werde kriminell. Such es dir aus.“
    Natürlich entscheidet sie sich ständig für HD - bis zur nächsten Woche.

  • "Späte Einsicht"
    Thema: Scharf
    Autorin: Fay
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    Es war als würde sich die Hölle einen Weg durch meinen Körper bahnen. Meine Lippen und meine Zunge waren wie betäubt. In meiner Kehle brannte der Schmerz in solcher Heftigkeit, dass es mir den Atem nahm. Mein Blick war in der nächsten Sekunde verschleiert, so dass ich von meiner Umgebung gar nichts mehr wahrnahm. Tränen rannten über meine Wangen, aber auch das war mir in diesem Moment egal. Wasser, irgendwie musste ich dieses Brennen, dass sich bis in meinen Magen fortsetzte beenden. Ich griff nach dem nächst gelegen Glas und erwischte etwas, dass den Schmerz nur noch verstärkte Was war das? Brandy?


    Dabei hatte der Abend so perfekt angefangen. Ich stellte es schon mit dem Blick in das Fenster fest. Die Haare waren zu einem Knoten hochgesteckt. Das schwarze Etuikleid war jeden Cent wert und die Schminke betonte mein schönes Gesicht in einer dezenten Art, ohne es künstlich wirken zu lassen. Heute stand ein wichtiges Geschäftsessen an und ich war aufgeregt, war es doch das erstes in meinem neuen Job. Bevor ich das Nobelrestaurant betrat, ließ ich meine Brille in die Handtasche gleiten.


    Nach und nach trafen die Verhandlungspartner ein, die ich alle freundlich begrüßte. Als das Essen bestellt werden sollte, stellte ich fest, dass ich die Karte nicht entziffern konnte. Dem Kellner zeigte ich einfach etwas, dass sich in der Mitte der Karte befand.


    Offensichtlich hatte ich die richtige Wahl getroffen, denn auf meinem Tell befand sich ein saftiges Steak mit Soße und Kroketten.


    Und dann das. Ich hustete und spuckte das widerliche Zeug in hohen Bogen über den Tisch und griff gierig nach der Karaffe. Ich konnte nicht erst warten, bis ich ein Glas zu greifen bekam, der Schmerz war einfach zu übermächtig. Trink oder stirb schrie es in meinem Inneren. Es wurde nicht besser, aber um vieles erträglicher. Man reichte mir eine Serviette und jetzt nahm ich auch den Tumult um mich herum war. Kellner waren gerannt gekommen. Der Kunde, der mir gegenüber gesessen hatte, tupfte sich sein Gesicht. Alles sah mich erschrocken an. Oh, mein Gott. Was hatte ich getan? Kurzerhand stürzte ich in Richtung Bad davon. Mein Spiegelbild grinste mir wie eine hässliche Fratze entgegen. Schien mich zur verhöhnen. Schwarze Wimperntusche zierte meine Wangen. Mein ganzes Gesicht, war puterrot und schweißglänzend und sah aus, als würde ich unter einem Schlangenbiss leiden.


    Wie sollte ich mich da draußen je wieder blicken lassen? Vermutlich war das Geschäft schon geplatzt bevor es besprochen wurde. Es gab nur zwei Möglichkeiten, entweder ich hatte genug Schneid um die Situation zu meistern oder aber ich würde einfach zur Hintertür verschwinden.
    Ich entschied mich für meinen Fauxpas grade zu stehen. Wusch mein Gesicht, richtete meine Kleidung und setzte meine Brille auf.


    Anschließend ging ich zum Tisch zurück, wo mich fünf amüsiert blickende Männer mit je einem Glas Wasser begrüßten. Eigentlich hatte ich nicht damit gerechnet, aber es war ausgerechnet der Kunde, der daraufhin seine Brille aus der Jackettasche zog und mir gestand, dass ihm ähnliches auch schon passiert wäre.

  • "Schikane"
    Thema: Scharf
    Autor: Marlowe
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    Für einen Zehnjährigen ist das Leben schwierig, wenn er sich überall wie ein Fremder vorkommt. Nur sein Zimmer im neuen Haus gab ihm das Gefühl, frei und ohne Probleme zu sein. Es war seine Höhle, die geschlosse Zimmertür sperrte alles aus, eine Art von Glück, die er zwar genießen aber nicht beschreiben konnte.


    Doch die neue Schule war ein Albtraum für Bernd. Alle Schüler in seiner Klasse ignorierten oder hänselten ihn, beides tat aber gleich weh. Wirklich wohl fühlte er sich nur auf dem Nachhauseweg und dann wieder nach der Zwangspause des Mittagessens in seinem Zimmer.


    Schon eine Woche nach der Vorstellung in seiner neuen Klasse war aber auch das vorbei. Einer der Schüler, Manni, der zweimalige Sitzenbleiber, ignorierte ihn nun nicht mehr. Im Gegenteil, er schenkte ihm in der Pause und nach der Schule die größte Aufmerksamkeit. Leider nur als auserkorenes Opfer seiner kranken Vorstellungen von Gewalt, Macht und Schikanen.


    Aus anfänglichen verbalen Angriffen wurden Schubsereien, dann Kniffe in den Armen, heimlichen Faustschläge oder Tritten.


    Manni merkte schnell, dass sein Opfer als einzige Gegenwehr nur die Flucht kannte, aber er war größer, schneller und kannte sich besser aus. Das merkte Bernd, als er nach einigen Tagen statt sofort nach Hause zu laufen sich zunächst in der Toilette versteckte. Manni fand ihn innerhalb von Minuten, hielt Bernd eine leere Spritze vor die Nase und drohte ihn damit zu stechen, wenn er ihm nicht die Schuhe küsste.


    Als Bernd die Abkürzung durch einen kleinen Birkenwald am Rande des Schulhofes zur Straße entdeckte, die ihm wertvolle Minuten schenkte, fühlte er sich in Sicherheit. Zwei Tage schaffte er es ohne weitere Demütigungen. Dann lauerte Manni ihn mitten im Wäldchen auf, doch nun hatte er ein Springmesser in der Hand. Nach mehreren Tagen der Unterwerfung fragte Bernd seinen Vater, einen kampferprobten Weltkriegsveteran, was er machen würde, wenn ihn jemand bedrohen würde. Nach einem langen wie gewohnt selbstgefälligen Monolog über Heldentaten war das Endergebnis die Erkenntnis, jeder Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen und wenn dies nicht möglich war, sich zu wehren aber mit dem Willen den Gegner zumindest töten zu wollen.


    Für einen streng katholisch erzogenen Zehnjährigen war das die Absolution vor der Tat. Auf dem Weg zur Schule fand er einen Stein, der gut seiner Hand lag. Wie der Faustkeil eines Neandertalers, rund in der Handfläche, abgeflacht an der Außenseite. Die Schulstunden verbrachte er damit, den Stein in seiner Hosentasche möglichst oft festzuhalten.


    Auf dem Nachhauseweg war es wie immer. Manni war da, schnitzte mit dem scharfen Messer an einem Ast und zeigte auf den Boden. Bernd sah ihn an, tat so, als wolle er sich hinknien, zog die Hand aus der Hosentasche und schlug mit aller Kraft den Stein mitten in Mannis Gesicht. Das Blut spritzte, Manni schrie und Bernd lief so schnell er konnte nach Hause.


    Später , als die Polizei wieder weg war, fragte ihn sein Vater, warum er nicht weggelaufen wäre. Bernd zuckte die Schultern und erwiderte nur, er hasse Abkürzungen. Irgendwie schien seinem Vater das zu gefallen.

  • "RHS"
    Thema: Störungen
    Autorin: Suzann
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    Frau Schön, eine gut erhaltene Mitsechzigerin sitzt in Dr. Hagenbecks Untersuchungszimmer und klagt ihm ihr Leid. Ihre Stimme klingt aufgeputscht und auf ihren Wangen kleben rote Flecken. Der Doktor ist nur wenig jünger als die Dame mit der Dauerwelle im Farbton von verschimmelten Auberginen, die vor ihm auf der Stuhlkante balanciert. In den langen Jahren, in denen er sie kennt, hat er sie noch nie so aufgelöst erlebt. Nicht, als ihr Vater knapp am Herzinfarkttod vorbeischrammte. Nicht, als ihr jüngerer Bruder beinahe an einem Allergieschock verstarb, nicht als ihre Schwiegermutter von der Leiter fiel und auch nicht, als sich die Schwangerschaft ihrer Tochter als Geschlechtskrankheit erwies.


    So muss er heute erstmals in ihrer Bekanntschaft seine Meinung über Frau Schöns strapazierfähiges Nervenkostüm revidieren und überlegt, ob er ein Beruhigungsmittel verschreiben soll. Nein, eher etwas pflanzliches…, Frau Schön hat es nicht so mit pharmazeutischen Produkten. Abrupt kehrt seine Aufmerksamkeit zu seiner Patientin zurück.
    „… kann nicht mehr! Mein ganzes Leben ist in Mitleidenschaft gezogen. Hausarbeit, Freizeitaktivitäten, Einkaufen, alles läuft schief. Das ist keine Lebensqualität mehr. Wenn das so weitergeht, dann trifft mich noch der Schlag!“


    Hagenbeck versucht die stürmischen Wellen der weiblichen Aufregung zu glätten. „Das ist doch eine ganz normale Sache, Frau Schön, mit der viele Leute unseres Alters zu kämpfen haben. Nichts, was man nicht in den Griff bekäme. Geben Sie sich einfach die notwendige Zeit.“ Sein sonorer Bass und der begütigende Tonfall beruhigen die verzweifelte Frau mehr, als es der Inhalt seiner Worte tut.


    „Können Sie mir nicht helfen?“ Frau Schön hat ihre Altfrauenstimme zu einem flehenden Flüsterton gedimmt.
    „Ich könnte ihnen ein Beruhigungsmittel aufschreiben. Das hilft nachts durchzuschlafen und hebt bei längerer Einnahmedauer die Stimmung“, wagt er doch den Vorstoß mit der Chemiekeule. Der erwartete Widerspruch bleibt aus. Die Lage muss ernster sein, als er angenommen hat.
    „Das ändert allerdings nichts an der Ursache ihrer Probleme. Sie müssen lernen, damit zu leben. Schließlich ist das kein Todesurteil, auch wenn es Ihnen jetzt so vorkommen mag“, schiebt er scherzhaft nach.
    Nicht gut. Frau Schöns Miene verdüstert sich wieder.
    „Da bin ich mir nicht so sicher“, flüstert sie Schuhen zu, die für eine Frau ihres Alters überraschend schick und unbequem aussehen.


    „Wie geht es Ihrem Mann?“, leitet er die Verabschiedungsphase des Termins ein.
    Frau Schön springt auf. „Ich muss jetzt gehen!“
    „In Ordnung.“ Hagenbeck umrundet seinen Schreibtisch und legt seiner Patientin begütigend die Hand auf die Schulter. „Marion gibt Ihnen das Rezept. Bitte kommen Sie in zwei Wochen wieder vorbei und erzählen Sie mir, ob Sie mit den Tabletten zurechtkommen.“


    Hände werden geschüttelt. Frau Schön holt ihr Rezept und verschwindet durch die Praxistüre.
    Die Sprechstundenhilfe sieht fragend von Frau Schöns Karteikarte auf. „Was ist das für eine Diagnose, Chef? Das System kann mit der Abkürzung RHS leider nichts anfangen.“
    „Das…“, meint er mit geistesabwesender Miene und denkt an seine bevorstehende Pensionierung, „…das ist das Retired-Husband-Syndrom.“ Verständnislos sieht das Mädchen ihn an. Fremdsprachenkenntnisse ist bei Arzthelferinnen keine Einstellungsvoraussetzung, erinnert er sich.


    „Man könnte auch Pensionierter-Ehemann-Syndrom dazu sagen. Schlimme Sache.“

  • "Krisensitzung"
    Thema: Störungen
    Autorin: Inkslinger
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    "Nun gut.", sagte Petra und räusperte sich.
    Sie hob den Blick und versuchte, ihren Eltern, die ihr gegenüber am Küchentisch saßen, in die Augen zu schauen. Die Bilder vom vergangenen Abend kämpften sich durch den Nebel des Vergessen-Wollens und traten wieder an die Oberfläche. Petra durchlief ein Schauder und sie widmete sich doch wieder dem faszinierenden Streifenmuster der Tischdecke.


    "Uns allen ist die Situation sehr... unangenehm. Also, bringen wir das Gespräch schnell hinter uns."
    Ihr Vater Erwin brummte zustimmend, ihre Mutter Giesela schnalzte.
    "Ach, Kind! Was soll denn der ganze Zirkus hier? Du reagierst völlig übertrieben."
    Petra sah sie aufgebracht an.
    "Übertrieben?! Mutti, diese Situation... Was soll ich denn sonst machen? Wie soll ich die Bilder aus meinen Kopf kriegen, ohne darüber zu reden?"
    Giesela verdrehte genervt die Augen.
    "Du hast uns halt dabei überrascht. Sowas passiert öfter. Viele Kinder..."
    "Ja, schon.", unterbrach ihre Tochter sie. "Aber doch nicht in unserer Familie!"
    Erwin schnaubte.
    "Schätzchen, du bist 38 Jahre alt. Keine fünf oder sechs mehr!"


    Petra seufzte resigniert.
    "Wie oft macht ihr... sowas?"
    Die Eltern schauten sich schulterzuckend an.
    "Vielleicht so ein- oder zweimal die Woche."
    Petra fiel die Kinnlade runter.
    "Ein-, zweimal... Mutti, wieso machst du das mit?"
    "Weil es mir Spaß macht."
    "Aber Mutti, in deinem Alter..."
    "Pass bloß auf, was du sagst, Fräulein! Ich verstehe ja, dass es dich erschreckt hat, deine Eltern vor deinem PC zu erwischen, aber auch ältere Menschen haben ein Recht auf Spaß in den neuen Medien! Finde dich damit ab!"
    Petra stand schwungvoll auf.
    "Okay, ihr habt gewonnen! Ich ändere einfach mein Passwort und schenke euch meinen alten Laptop. Dann ist hoffentlich Ruhe!"
    Ohne eine Antwort abzuwarten stürmte sie aus der Küche.


    Erwin nahm Gieselas Hand in seine.
    "Sie hat dir das mit den neuen Medien echt abgekauft."
    Giesela strahlte ihn an.
    "Ja! Aber nächstes Mal, wenn wir online Pornos gucken, schließen wir lieber die Tür ab."

  • "Was raschelt und knackt zu später Stund´?"
    Thema: Störungen
    Autorin: n8eulchen
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    Meist habe ich einen tiefen Schlaf. Ich liebe es mich in die warmen Federn zu kuscheln und zu schlummern und zu träumen, ohne den geringsten Anteil an der Welt zu nehmen. Aber in dieser Nacht kam es anders.


    Lange war ich aufgeblieben und der Morgen würde schon in wenigen Stunden dämmern. Die Nacht war schwarz und zäh wie Pech und nur vereinzelt drang milchig weißes Mondlicht durchs Geäst. Die sacht im Wind wogenden Blättter warfen tänzelnde Schatten, die eine schier hypnotische Wirkung auf mich entfalteten. Vor Übermüdung fielen mir bald die Augenlider zu und ich schlief schnell ein. Friedlich und nichts ahnend lag ich da und glitt von einem Traumgebilde in das nächste.


    Auf einmal hörte ich das bedrohliche Knacken eines Astes neben mir und riss jäh erschrocken die Augen auf. Schnell stuppste ich meine große Schwester an. Sie ruhte wie stets dicht an meiner Seite – Flügel an Flügel. Hatte einer unserer Fressfeinde den Baum erklommen, in dem unser gemütliches Nest lag? Schwesterchen krähte aufgeregt und unsere Mutter blinzelte ein paar Mal mit den großen, runden Eulenaugen, um die Müdigkeit abzuschütteln.


    Es knackte erneut. Dann raschelte etwas. Nun waren wir allesamt wach und Mutter drehte ihren Kopf weit in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Wir Eulenkinder zogen alle unsere Köpfe ein. Hofften, dass unsere Welt gleich wieder heil sein werde. Mutters Körper spannte sich an und sie spreizte die Flügel, um sich groß zu machen. Ihren scharfen Schnabel hielt sie in die Höhe, bereit, um auf den Gegener einzuhacken und ihn in die Flucht zu picken. Das Rascheln kam trotzdem näher.


    Die Blätter direkt vor unserem Nest wackelten und die Umrisse eines großen Vogels wurden im Mondlicht sichtbar. Er war dick und von klobiger Gestalt.


    „Hermann, verdammt, wo bist du gewesen? Du hast uns alle zu Tode erschreckt!“, schimpfte Mutter, als sie ihren Gatten erkannte.


    Paps hickste. „Da war´n so lust´sche Beer´n. Lag´n schon auf´m Bod´n. Dachte, wär´n schonnnoch gut.“ Er hickste erneut aus tiefster Kehle und stieß dann genießerisch auf. „Aber ir´ndwie mach´n die dussl´sch im Kopp.“


    „Das kann nicht wahr sein!“, ereiferte sich unsere Mutter. „Du bist Vater vierer Küken. Morgen werden wir eine dicke, fette Eule zu rupfen haben! Jetzt leg dich hin und wehe du schnarchst, dann werfe ich dich eigenflügelig aus dem Nest.“


    „Schnurpselchen, bissst so süß, wenn dich aufregst!“ Er hoppste unbeholfen etwas näher und streckte seinen rechten Flügel aus.


    „Wenn du es wagst...!“ Meine Mutter plusterte sich auf, aber um ihre Augen erschienen kleine Lachfältchen. „Schlaf jetzt!“


    „Sssu Befehl, Mylady!“, nuschelte Paps, salutierte schwankend und ließ sich ins Nest pumpsen. Er fiel auf meinen kleinen Bruder Eugen, der sich zerknittert unter ihm vorkämpfte.


    Ich kuschelte mich wieder an meine Geschwister und war froh, nach diesem Schrecken selig weiterschlummern zu dürfen. Schlaf war auch für Paps die beste Medizin!

  • "Der Nordwind hat mir ein Lied erzählt"
    Thema: Erinnerungen
    Autorin: Holle
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    Der Nordwind hat mir ein Lied erzählt:
    Weidenzweige wurden ausgewählt,
    Geheimnisse ins Ohr zu flüstern,
    Voll Echos, die wie Firnis knistern.


    Der Nordwind hat mir ein Lied gesungen,
    Aufmerksamkeit sich ausbedungen,
    Wispernd in Tönen und Geräuschen,
    Die Hören und Verstehen täuschen.


    Der Nordwind hat mir ein Lied geweint:
    Durch Sepiaregen die Sonne scheint.
    In alten, längst vergangenen Zeiten,
    Winden sich Wege, die heute noch leiten.


    Der Nordwind hat mir ein Lied gedichtet,
    Das jagende Herz sorgsam aufgerichtet.
    Er raunte: „Vergangen, doch nicht verloren!“
    Da habe ich ihm die Treue geschworen.

  • "Fußstapfen"
    Thema: Erinnerungen
    Autorin: Suzann
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    Sein Blick auf die Anzeigetafel zeigte in leuchtend roten Ziffern den ausgeglichenen Spielstand und die abgelaufene Zeit. Nur noch 23 Sekunden waren zu spielen. Sein Verstand wurde von dem Gedanken beherrscht, dass nur ein Sieg den Turniergewinn bringen würde. Und dafür musste jetzt ein Tor her. Unbedingt. Trotz der kräfteraubenden 59 Minuten spürte der Spielmacher in diesem Moment keine Erschöpfung. Sein Team verließ sich auf seine Führung. Er war es sich nicht bewusst, aber Körpersprache und Blick drückten sein unbedingtes Vertrauen in Fähigkeiten aus, die sie in den vergangenen Monaten in harten, schweißtreibenden Trainingseinheiten perfektioniert hatten.


    Unauffällig zeigte er den letzten Spielzug an, den wichtigsten in dieser Partie. Der Trainer draußen auf der Bank brüllte Anweisungen auf das Feld. Die Worte zogen an ihm vorbei, als wären sie in Suaheli gesprochen. Er war absolut konzentriert und hatte auch seine Mitspieler auf ihn fokussiert. Ihr bester Spielzug würde das Tor bringen, das verdeckte Anspiel an den freigestellten Spieler am Sechsmeterkreis. Dann kam es nur noch auf den Kreisspieler an, aber der Kerl hatte Nerven wie Drahtseile und die Sprungkraft eines Kängurus. Dem gegnerischen Torhüter dagegen war die Nervosität ins verschwitzte Gesicht geschrieben. Vor dem entscheidenden Torwurf musste die Abwehr allerdings durch druckvolles Angriffsspiel vom eigentlichen Vorhaben abgelenkt werden. Viel hing davon ab, dass der Gegner nicht frühzeitig erriet, was sie vorhatten.


    Der Schiedsrichterpfiff gab den entscheidenden Angriff frei. Alles lief wie aus dem Lehrbuch. Jeder Pass saß, die gegnerischen Spieler hielten Stand und dann kam die vorletzte Aktion. Sein Part. Kraftvoll stieg er zum Sprungwurf hoch in die Luft, den Blick fest auf das Tor gerichtet und holte aus. Gegner und Publikum waren nicht überrascht, nein, sie hatten es erwartet, dass er die Verantwortung übernahm. Dementsprechend perplex waren sie, als er scheinbar die Kontrolle über den Ball verlor. Ein kollektives Aufstöhnen kam aus den Reihen der Zuschauer. Das Manöver war aufgegangen. Sein Kreisspieler stand frei, sprang in die Höhe um sich den Ball aus der Luft zu holen, gleichzeitig seinen Körper in Richtung Tor zu drehen und das Ding ins Dreieck zu hämmern. Die Welt ging in Jubel unter.


    Diese letzten Szenen gingen dem mit Glückshormonen zugedröhnten Spielführer in Endlosschleife durch den Kopf, als er auf der Tribüne den schweren Siegerpokal aus geschliffenem Glas über den Kopf hob und die Augen schloss, damit der spritzende Sekt ihm nicht die Sicht nahm.


    Völlig hingerissen lauschte der Junge den Schilderungen seines Vaters über den größten Erfolg in dessen Handballkarriere. Gespannt wartete dieser auf die Reaktion seines Sprösslings. Dem standen die widerstreitenden Gedanken förmlich auf die Stirn geschrieben. Doch schließlich vertrieb Entschlossenheit die Begeisterung aus den Zügen seines Kindes und ungläubig registrierte der Ex-Handballstar den Kommentar seines Juniors:


    „Paps, ich will aber trotzdem lieber Fußballer werden!“

  • "Vergessen"
    Thema: Erinnerungen
    Autorin: Rumpelstilzchen
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    Protokoll Memory-Safe vom 13.2.2023, erste und einzige Sitzung


    Versuchsperson R 27.04.1983, weiblich



    R. wurde über mögliche Risiken des Versuchs aufgeklärt. Medizinische, insbesondere neurologische und psychiatrische Untersuchung ist erfolgt. Keine Traumata bekannt, glückliche Kindheit. Siehe Anlagen.


    R erklärte sich mit einer Übertragung ihrer Erinnerungen auf den Bildschirm einverstanden. Sie kommentiert zunächst in ausgeglichener, glücklicher Stimmung.


    „Ich sehe mich bei der Feier der goldenen Hochzeit meiner Großeltern. Die Eltern meiner Mutter. Ich muss etwa 24 Jahre alt sein, an mein Kleid kann ich mich erinnern, es hatte eine ganz besondere blaue Farbe. Ich bin aufgeregt, weil ich ein Gedicht geschrieben habe, das ich jetzt vortragen will. Weiter. Mein Vater im Krankenhaus, es riecht unangenehm nach Desinfektionsmitteln, beide Beine sind in einer Plastikschiene, Schürfwunden im Gesicht und an den Armen. Er schaut unglücklich aus. Ich beuge mich über ihn, gebe ihm einen Kuss und sage ihm, er könne froh sein, dass er beim Fahrradfahren immer einen Helm trage. Weiter. Ich stehe in der Küche meiner Studenten WG. Ich brülle Bastian, meinen Mitbewohner, an. Er hat mal wieder die ganze Milch verbraucht und keine neue gekauft. Ich kann Kaffee ohne Milch nicht ausstehen. Was wohl aus ihm geworden ist? Weiter.“


    R schweigt. Ihr Gesicht ist fragend, etwas angespannt. Auf dem Bildschirm ist ein kleines, blondes Mädchen zu sehen. Vielleicht vier Jahre alt. Das Kind wird von einer Frau – aufgrund der Ähnlichkeit könnte es die Mutter sein, in einem Autositz festgeschnallt. Das Kind schmollt, wehrt sich, will nicht festgeschnallt werden.


    „Das verstehe ich nicht, ich kenne die Frau gar nicht. Ich habe sie nie gesehen. Aber…..“


    R atmet heftig, beugt sich vor, krampft die Hände in die Stuhllehne.


    Die Perspektive wechselt, zu sehen ist das Auto aus der Sicht des Kindes im Autositz. Die Kleine scheint sich im Sitz nicht wohlzufühlen, der Fahrer redet auf sie ein. Dreht sich zu ihr, scheint einen Scherz zu machen. Er lacht. Verreißt dabei das Lenkrad, das Fahrzeug weicht nach rechts aus, schleudert, kracht frontal in einen Alleebaum, Glasscherben….Aus.


    Frau R schreit, weint. Reißt sich den Datenhelm ab.


    Die Übertragung wird von der Versuchsleiterin abgebrochen.


    Notfallteam alarmiert.


    Frau R wird im Lauf der nächsten sechs Monate von der Psychotherapeutin in etwa 35 Sitzungen behandelt. Es stellt sich heraus, dass sie bei dem Unfall, den sie bei der Gedächtnissicherung erneut erlebt hat, wie durch ein Wunder unverletzt geblieben ist. Beide Eltern sind ums Leben gekommen. Frau R wurde danach adoptiert, die Adoptiveltern hatten ihr davon nichts erzählt.


    Keine längerfristigen Schäden. Frau R möchte keine weiteren Sicherungen durchführen lassen.


    Nichts zu veranlassen, unvorhersehbarer Zwischenfall.


    Dr.Schwarzbach, leitende Ärztin Memory-Safe

  • "Yappa ya ya, yippie yipie yeah!"
    Thema: Die Axt im Haus ...
    Autor: arter
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    Ich bin keiner, der sich bewusst durch Fernsehwerbung beeinflussen lässt. Dachte ich zumindest. Aber seit ich diese Kreativmonster in der penetranten Reklame einer Baumarktkette gesehen habe, bin ich ein willenloses Opfer. Jeder sesselpupsende Bürohengst kann zum glückserfüllten Heimwerker mutieren, verspricht die Botschaft.


    Wir haben zu Hause die überholten Rollenklischees aufgehoben. Jeder tut im Haushalt das, was ihm am meisten liegt. Und wir ergänzen uns perfekt. Während ich mich um Wäsche, Putzen und Essenszubereitung kümmere, schraubst du Regale zusammen, reparierst mein Fahrrad und verlegst gemeinsam mit deinem Vater Laminat. Bisher hat es in meinem Inneren nie eine Regung des männlichen Stolzes gegeben, denn - ehrlich gesagt - beherrschst du das Handwerkliche viel besser als ich. Andererseits möchte ich nicht zum Opfer deiner stümperhaften Kochkünste werden.


    So lief es eigentlich gut, bis mich diese Gehirnwäsche umdrehte. Was bin ich nur für ein jämmerliches Weichei. Jeder richtige Kerl zimmert, sägt und schraubt in seinem Garten oder Hobbykeller, während ich mit dem Staubsauger durchs Wohnzimmer ziehe. Das muss ein Ende haben, auch ich brauche endlich mein „Projekt“.


    Und jetzt halte ich es in der Hand. Es ist 120 mal 70 Zentmeter groß. Die perfekte Geburtstagsüberraschung. Für jeden normal Sterblichen ist es nur ein auf eine Leinwand gezogenes Urlaubsfoto mit einer traumhaften Alpenlandschaft. Aber du verstehst sicher die kleine Pointe, den „Running Gag“ unserer Traumferien vom letzten Jahr. Du hast das Bild geschossen, ich habe daraus ein Riesenposter machen lassen. Es gibt nur ein Problem: Es muss an die Wand.


    Das Biest in mir erwacht, ich habe mich drei Tage lang nicht rasiert und jeden Morgen 20 Liegestütze gemacht, um so auszusehen wie einer von diesen Bauhelden. Jetzt bin ich bereit für die Bohrmaschine, meinem natürlichen Erzfeind.


    Es wird ein Desaster. Ich möchte nur kleine Löcher für die Dübel der Haken bohren, aber die Materie hat sich gegen mich verschworen. Ich setze wohl etwas schief an. Aber dann rieselt auch noch Kalkstaub aus dem Bohrloch. Bald hat es die Ausmaße einer Kinderfaust.


    Google soll mir eine Lösung für das Dilemma verraten. Die Antwort lautet „Spachtelmasse“. Mir wird übel bei dem Wort und die Konsequenzen, die es nach sich zieht, sind beängstigend. Aber ich renne tapfer in den Baumarkt, absichtlich gehe ich zur Konkurrenz, denn ich lasse mich doch durch Werbung nicht beeinflussen!


    Ha! Von wegen Spachteln. Dafür wäre die Zeit eh zu knapp, in einer halben Stunde bist du da und kurz danach kommen unsere Eltern zum Geburtstagskaffee. Manchmal muss man einfach Glück und offene Augen haben. „Powerstrips“ heißt die Lösung meines Problems und dank der kurzfristig heruntergeladenen Wasserwaagen-App hängt das Bild jetzt auch akkurat, genau da, wo es hingehört, über dem Aquarium. Ich fühle mich wie ein echter Hornbacher.


    Du bist so gerührt, dass du jetzt sogar die Hausfrau mimst: „Papa noch ein Stück Kuchen? Mama noch Kaffee?“


    … Rrrrrrummmmms.


    Alle erstarren. Überall Scherben, über den nassen Teppich hoppelt ein Schwertträgermännchen. Die Ecke des Bildes rechts unten ist abgebrochen. Tränen treten in meine Augen. Du tätschelst meine Wange:


    „Das kriegen wir schon wieder hin!“

  • "Das Erbe der Ahnen"
    Thema: Die Axt im Haus ...
    Autor: Marlowe
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    Thorben Eirikson musterte stolz die Besuchergruppe, die sich aus Norwegern, Dänen und Isländern zusammensetzte.


    Das Besucherzentrum in L’Anse aux Meadow war zu einer echten Attraktion unter Thorbens Leitung geworden. Die Führungen waren seine ganz persönliche Belohnung für den Fleiß der vergangenen Jahre. Es gab vieles, auf das er stolz war, angefangen bei seiner Abstammung, von der er behauptete, sie würde direkt bis zu Leif Eriksson zurückführen, bis hin zu seiner neuesten Entdeckung, der wunderbar erhaltenen Streitaxt, die er gefunden hatte.


    Er verstand es geschickt, diese und andere Geschichten so wundervoll mit erfundenen Einzelheiten auszuschmücken, dass bei jeder Führung alle Besucher an seinen Lippen hingen.


    „Und hier nun die neueste Attraktion unserer Ausstellung. Diese Axt, Blod gradighet, also Blutgier genannt, fand ich bei einer Grabung, die ich nur durchgeführt habe, weil ich in der Nacht zuvor einen Traum hatte, in dem einer meiner Ahnen mir die Stelle zeigte, an der ich suchen solle - und tatsächlich wurde ich fündig. Wie alte Aufzeichnungen in norwegischen Museen berichten, wurde diese Waffe von Leif Eriksson persönlich als Dank an die Götter ins Moor geworfen und mit einem Fluch gegen diejenigen belegt, die ihre Ruhe stören, wenn sie keine direkten Nachkommen von ihm sind.“


    Thorben lächelte die Besucher an. „Nun, wie Sie sehen, ich lebe noch, gibt es einen besseren Beweis für meine Abstammung?“ Die Besucher lachten und bestaunten dieses interessante Artefakt.


    „Liebe Freunde, damit ist die Führung vorbei, nebenan gibt es nun ein kleines Buffet, meine freundlichen Mitarbeiterinnen und ich stehen Ihnen natürlich noch für weitere Fragen zur Verfügung. Wenn Ihnen die Führung gefallen hat, beweisen Sie es bitte mit einer großzügigen Spende, dafür steht die kleine Holztruhe dort.“
    Und sie waren großzügig, das waren sie immer, denn Thorben weckte mit seinem freundlichen Lächeln und gewinnenden Wesen die Spendierfreudigkeit aller Besucher.
    Sie verließen den Raum und stürzten sich auf das Buffet. Thorben und seine Mitarbeiterinnen beantworteten letzte Fragen und genossen wie immer diese Stunde nach den Führungen.


    Niemand bemerkte das Fehlen eines Besuchers. Helge, genervt und gelangweilt von dieser Veranstaltung, hatte die Konzentration aller auf das Buffet genutzt und war wieder in den Ausstellungsraum zurück gehuscht. Er griff in die Truhe, nahm eine Handvoll Scheine heraus und steckte sie sich in die Tasche. Er grinste, das war sein Schmerzensgeld für die blöde Idee seines Stiefvaters, diesmal anstatt einer Vergnügungsreise lieber einen Bildungsurlaub zu unternehmen.


    Er blickte auf die Axt in dem Glasschrank. Er konnte nicht anders, er musste sie einfach herausholen und ausprobieren wie sie sich anfühlte. Ohne weitere Überlegung griff er zu und wog sie in der Hand. Was für ein Gefühl. Wie berauscht von dieser verbotenen Tat hob er die Axt hoch und schwang sie durch die Luft. Er hörte das fröhliche Geplapper und Lachen dieser nervtötenden Idioten und ging zur Tür. Er war bereit, die Axt war bereit, der Fluch wollte erfüllt werden. Mit einem Schrei stürmte er in die Vorhalle. Panische Augen, blankes Entsetzen, abwehrende Bewegungen. Helge wütete im Blutrausch und Blutgier war durstig.

  • "Mängelrüge"
    Thema: Die Axt im Haus ...
    Autorin: Holle
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    Er schaute aus dem Dachfenster seines kleinen Hauses. Der Morgen war sonnig, und die Vögel sangen.


    Am Gartenzaun lief eine Straße entlang. Sie führte linkerhand hinunter bis zum großen Fluss mit seiner zerstörten Brücke und weiter in Richtung Süden. Im Norden am Horizont ragten die Schneeberge empor. Dort verlor sich ihre Spur in der Ferne. Und auf der anderen Straßenseite erstreckte sich westwärts der dunkle Wald.


    Überall waren Zeichen der Zerstörung zu erkennen. Ein schwerer Sturm hatte gewütet! Felsbrocken und Bäume versperrten die Straße; Unrat machte ein Vorwärtskommen unmöglich. Ruinen ragten zwischen Bäumen empor. Wilde Tiere zeigten sich sogar am helllichten Tag.


    Er musste sich sehr beeilen! Bis zum Sonnenuntergang sollte sein Straßenabschnitt fertig sein. Unruhig wartete er auf den Arbeitsbeginn. Dann war es so weit. Er sprintete zur Straße und lief nach rechts. Holzbalken lagen im Weg. Ab mit ihnen in die Lagerhalle! Sein erstes Arbeitsmaterial für Reparaturen!


    Sobald die Last verstaut war, ging es weiter. Am Rande des Weges leuchteten rote Früchte an einem Strauch. Schnell pflückte er ihn leer. Nahrungsvorrat konnte nie schaden. Ab damit in die Speisekammer.


    Und schon spurtete er wieder los. Ein großer Baum war über die Straße gefallen. Zerlegen und lagern. Er holte die Axt aus dem Haus. Geäst musste abgehauen, der Stamm zerkleinert werden. So etwas hatte er noch nie gemacht. Das ging auf die Gelenke. Er schwang die Axt und ließ sie auf einen Ast hinabsausen. Mann, das fuhr durch den gesamten Körper hindurch wie Donnerhall!


    Schon nach kurzer Zeit stand ihm der Schweiß auf der Stirn und sein Atem ging stoßweise. Die Axt war stumpf. Gab es einen Schleifstein im Haus? Außerdem hatte er kaum noch Kraft und fühlte sich fast wie ein Verhungernder. Als der Baum zerlegt und gelagert war, besorgte er sich Nahrung aus dem Vorrat und suchte auch gleich nach dem Schleifstein. Aber der war nicht zu finden. Ebenso gab es nichts zu trinken, außer dem, was die gesammelten Früchte an Saft hergaben. Und kein Klo!


    Also wieder los. Der Nachmittag verging. Ganze Felsbrocken wurden zerlegt und von der Straße geräumt. Es war sonnenklar, dass die Axt für solch eine Aufgabe keinesfalls geeignet war. Seine Schultern, Ellenbogen und Handgelenke schmerzten unerträglich, und er hatte Blasen an den Händen. Warum gab es keinen Bagger? Er wollte schon aufgeben und sich geschlagen geben, da ertönte plötzlich ein Gong und eine Stimme sagte: „Beeil dich, es wird gleich dunkel, und die Nacht bricht herein!“ Da fuhr ihm - wie vom Himmel geschickt - neue Kraft in den Körper, und er beseitigte das letzte Hindernis rechtzeitig.


    Vollkommen zerschlagen loggte er sich per Iriskennung aus, nahm den Sync-Helm ab und legte die Spielhandschuhe beiseite. Summend fuhr die Maschine die Energie herunter. Seine Eindrücke und Beurteilungen als Tester schickte er umgehend an die Auftraggeber. Es war beeindruckend, in einer quasi-realen Umgebung zu spielen. Aber an den Spielwerkzeugen musste unbedingt noch gearbeitet werden! Prüfend tastete er seine schmerzenden Gelenke ab. Was für ein Glück, dass es noch keine Kampfspiele in dieser Technik gab!

  • "Die Kuh"
    Thema: Therapie
    Autor: crycorner
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    Dr. Marxen unterdrückt sich ein Gähnen und tut so, als würde er wichtige Notizen machen. Seinen Gegenüber hatte er bereits in der ersten Sitzung kategorisiert. Herr Berndt war eine Kuh. Und Kühe wollen gemolken werden, weil sonst der Euter platzt. So zumindest seine nicht zoologisch verifizierte Meinung. Berndt, dessen Krankenkasse er nun schon seit 2 Jahren Rechnungen schicken darf, war ein hoffnungsloser Fall. Unter einem Matriarchat aufgewachsen, hat er sich zwangsläufig eine Frau angelacht, die seiner Mutter ein perfektes Abbild ist. Sein Ego liegt am Boden und will sich am liebsten eingraben. Seine Frau hält die Schippe in der Hand. Früher hätte Dr. Marxen darauf hingearbeitet, jemandem wie Herrn Berndt Selbstbewusstsein zu verschaffen. So hätte der Patient die Möglichkeit, sich von der Mutter loszusagen und bestenfalls eine neue Basis in der Beziehung zu seiner Frau zu finden. Oder sie zu verlassen. Leider musste Dr. Marxen feststellen, dass einige Patienten sich dadurch noch innerhalb der bewilligten Kurzzeittherapie für geheilt hielten. Aber auch jemand wie Dr. Marxen muss Rechnungen zahlen. Also ließ sein Enthusiasmus nach. Mittlerweile sitzt er 6-8 Stunden am Tag in seinem kleinen Räumchen mit wechselnden Patienten, tut so, als würde er zuhören, kritzelt was auf seinen Block und langweilt sich zu Tode.


    Seine Gedanken schweifen ab. Das funktioniert ganz gut, weil er gelernt hat, auf die Sprachmelodie zu achten. Patienten neigen im Allgemeinen dazu, zu reden, nicht zu fragen. Aber wenn dann eine Frage kommt, stellt Dr. Marxen das Anhand der Sprachmelodie fest und kann geistesgegenwärtig genug reagieren. Meistens mit der Standardantwort: „Wie würde Ihr inneres Kind diese Frage beantworten?“. Kein Zweifel, Dr. Marxen war zutiefst gelangweilt und daher auch frustriert. Die Frustration nimmt Überhand und beeinflusst sein Leben außerhalb dieses muffigen Therapieraumes überaus negativ. Fehlender innerer Antrieb. Selbstdiagnose: Depression. Berufsbedingt. Also eher ein Burn Out. Beziehungsweise ein Bore Out.


    Könnte er sich selbst helfen? Sich selbst sein Leid klagen? Darauf antworten? Analysieren? Therapieren? Vielleicht. Allein es fehlt ihm der Antrieb. Denn sein eigener Therapeut ist ja leider auch an Depressionen erkrankt. Und wenn er sich selbst einfach einen Selektiven Serotoninhemmer verschrieb? Nein, das würde seine Aufmerksamkeit gegenüber seinen Patienten komplett aushebeln und er wäre noch nicht einmal in der Lage, sich verändernde Sprachmelodien zu erkennen. Er wäre praktisch berufsunfähig.


    Daher entschied er sich, selbst einen Therapeuten zu konsultieren. Die Entscheidung traf er bereits vor einigen Monaten. Gleich nach der Sitzung mit diesem armseligen Herrn Berndt, würde er sich auf den Weg machen. Zu der ersten Sitzung seiner eigenen Therapie.


    In diesem Moment ändert sich die Sprachmelodie seines Patienten: „…oder was meinen Sie?“. Dr. Marxen antwortet reflexartig: „Was würde denn Ihr inneres Kind dazu meinen?“. Herr Berndt schaut ihn irritiert an und fragt: „Könnte es denn eine Meinung zur generellen Terminverschiebung unserer Treffen haben?“


    Später am Tag ist es dann soweit. Dr. Marxen sitzt Dr. Herrmann gegenüber und schildert fachlich korrekt seine Eigendiagnose. Dr. Herrmann unterdrückt sich ein Gähnen und tut so, als würde er sich wichtige Notizen machen. „Aha, eine Kuh“, denkt Herr Dr. Herrmann.

  • "Vergebliche Zähmung"
    Thema: Therapie
    Autorin: Rumpelstilzchen
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    „Hexe, dreckiges Flittchen“, Heide Krügers Stimme überschlug sich und in einer Anwandlung rasenden Zorns hätte sie beinahe das nagelneue iPhone auf den Boden geknallt. „Frau Krüger, ich kann nicht mit Ihnen sprechen.“, äffte sie die Stimme ihrer Gesprächspartnerin nach.


    In ihrer ohnmächtigen Wut fegte sie den Dahlienstrauß vom Wohnzimmertisch, trampelte auf den Blüten herum und warf sich heulend aufs Sofa.


    Alles war gut gewesen, bis dieses Weib aufgetaucht war, diese männerbetörende Sirene. Ein mustergültiger Ehemann war er gewesen, ihr Dieter. Fleißig, häuslich, hilfsbereit. Immer freundlich. Natürlich hatte es eine Weile gedauert, bis sie sich aneinander gewöhnt hatten. Am Beginn ihrer Ehe hatte es oft Streit gegeben. Mit seinen Freunden hatte er sich treffen wollen, zum Fußball gehen. Das schwerverdiente Geld in die Kneipe tragen. Es war nicht leicht gewesen, ihn davon abzubringen. Aber die Mühe hatte sich gelohnt. Nach einer Weile hatten die nichtsnutzigen Freunde nicht mehr angerufen. Ihr Dieter war bei ihr zuhause geblieben. Hatte sie zum Literaturkreis begleitet, Gefallen an der Gartenarbeit gefunden und begonnen, gute Bücher zu lesen. Sie hätte sich keinen besseren Ehemann wünschen können.


    Gut, in letzter Zeit war er etwas still gewesen. Etwas schien ihn zu beschäftigen. Aber ein Urlaub im vertrauten Hotel im Schwarzwald hätte ihn sicher wieder aufgemuntert.


    Wie war er nur an dieses Weib, diese Frau Güttler geraten? Ganz langsam hatte er sich verändert, hatte begonnen, mit ihr zu streiten. Wollte alleine aus dem Haus gehen. Und heute - heute hatte er seinen kleinen Koffer gepackt, ihr gesagt, sie nehme ihm die Luft zum Atmen und war gegangen. Hatte sie und ihr gemütliches Zuhause verlassen.


    Natürlich war er zu ihr gegangen. Er hatte es zwar bestritten. Aber ihr konnte er nichts vormachen. Ihr nicht. Aber sie würde kämpfen. Sie würde nicht kampflos zugunsten einer jungen Schlampe zurückstecken. Niemals.


    Entschlossen ging sie ins Bad und wischte die Tränenspuren aus dem Gesicht. Aus der Küche holte sie das Ausbeinmesser. Das passte genau in ihre Handtasche, lag gut in der Hand und war das richtige Werkzeug.


    Die Adresse hatte sie in Dieters Notizbuch gefunden, ganz harmlos unter der von seinem Hausarzt versteckt. Es war nicht weit. Die zehn Minuten zu Fuß heizten ihre Wut nur weiter an.


    Hier war es. Schillerstraße 21. Heide Krüger öffnete ihre Handtasche und umklammerte mit der rechten Hand das Messer. Einen Moment zögerte sie, doch da kam eine kleine, rundliche Gestalt aus der Tür und drehte sich um, um die Tür abzuschließen.


    Sie brauchte nicht lange nachzudenken. Schnell ging sie auf die Frau zu. „Sie sind Frau Güttler?“ Die Person drehte sich um. „Ja, ich bin Helene Güttler, kennen wir uns?“


    Nein. Das konnte nicht sein. Keine attraktive junge Verführerin, eine alte Frau, mindestens sechzig, runzlig und dicklich, lächelte sie fragend an. Heide Krügers Blick fiel auf das Messingschild neben der Tür. Dr. Helene Güttler, Psychologische Psychotherapeutin , stand da geschrieben.


    „Aber, aber…“stotterte sie ungläubig. Das Messer, das sie hinter dem Rücken verborgen hatte, fiel klappernd zu Boden.

  • "Manchmal muss es raus"
    Thema: Therapie
    Autorin: Lese-rina
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    Der Tag begann vielversprechend. Hans-Jürgen stand mit dem richtigen Fuß und zeitig genug auf, um in aller Ruhe seine Yoga-Übungen zu machen. Die Vögel zwischerten vor dem geöffneten Fenster, der Morgendunst löste sich langsam in den ersten Sonnenstrahlen auf und es versprach, ein perfekter Tag zu werden.


    „Guten Morgen Schatz“ begrüßte ihn seine gutgelaunte Frau und häufte reichlich Rührei auf seinen Teller. Auch Tochter Kerstin, die morgenmufflig ihre Sachen zusammenpackte, konnte seine gute Laune nicht trüben. „Bitte Mami, fahr mich, sonst komm ich schon wieder zu spät“, bettelte Kerstin und Hans-Jürgen war froh, als die beiden mit den Worten „Viel Erfolg bei deinem Meeting!“ abgezogen waren. Doch das Klingeln des Telefons störte ihn beim Zeitunglesen. „Ja Mama, wir kümmern uns natürlich morgen um Fiffi“, versprach er geduldig, nur um einige Sekunden entsetzt nachzufragen „Heute? Fiffi kommt heute? Aber ich habe ein wichtiges Geschäftstreffen und Monika …“ Doch den Redeschwall seiner Mutter hatte er wenig entgegenzusetzen und so blieb ihm nur, die baldige Abholung Fiffis zu versprechen. Sofort wählte er die Handynummer seiner Frau, doch Beethovens 9. Sinfonie erklang aus dem Wohnzimmer. Mittlerweile ziemlich genervt versuchte Hans-Jürgen die Handynummer seiner Tochter. „The person, you are calling is …“ „Verdammte Technik!“ Hans-Jürgen überlegte fieberhaft, wem er Fiffi sonst anvertrauen konnte. Letztlich blieb nur Frau Schöneberger, seine Sekretärin, die sich hoffentlich nochmal erbarmte. Eilig packte Hans-Jürgen seine Unterlagen ein und stürmte nach einem wehmütigen Blick auf das mittlerweile kalte Rührei in die Garage und ins Auto. Schnell die Fernbedienung zum Öffnen des Garagentors gedrückt, doch selbst nach mehrmaligen, immer hektischer werdenden Versuchen rührte es sich keinen Millimeter. Zur Fehlersuche hatte Hans-Jürgen keine Zeit und die Handgriffe zum manuellen Entriegeln fielen ihm spontan nicht ein. Blieb nur zu Fuß Fiffi abzuholen und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln weiterzufahren.


    Es kam, wie es kommen musste. Natürlich fuhr ihm die U-Bahn vor der Nase weg, Fiffi setzte sein Häufchen mitten auf den Bürgersteig und Hans-Jürgen musste mangels Hundetüte sein frisches Taschentuch unter den keifenden Worten einer Alten zweckentfremden. Beschimpfungen und sogar einige Knüffe gab es auch, als Fiffi einen anderen Hund ansprang. Endlich am Bürogebäude angekommen kam der Aufzug nicht und so torkelte Hans-Jürgen völlig fertig mit Fiffi im Arm über eine halbe Stunde zu spät in sein Vorzimmer. Frau Schöneberger begrüßte ihn völlig aufgelöst, doch erst ihre Frage nach seinem Handy erinnerte ihn an die vergessene Tasche im Auto. Doch das konnte Hans-Jürgen nun auch nicht mehr erschüttern. Die überraschte Sekretärin bekam den Hund in die Arme gedrückt und Hans-Jürgen schritt hocherhobenen Hauptes in sein Büro. Nach einer – zumindest seinerseits – freundlichen Begrüßung ging er zum Fenster und riss es mit einem kräftigen Ruck auf. Er holte tief Luft … und stieß einen langen und durchdringenden Schrei aus. Anschließend drehte er sich lächelnd zu seinen sprachlosen Vorgesetzten um „Aggressionsabbau durch Schreien“ erklärte er lächelnd „wollen sie nicht auch?“ Wollten sie nicht, doch als sich während seines trotz vergessener Unterlagen gelungenen Vortrags die säuerlichen Mienen langsam aufhellten, wusste er: der Tag ist gerettet.