Barbara Yelin: Irmina (Graphic Novel)

  • Barbara Yelin: Irmina
    Reprodukt Verlag 2014. 300 Seiten
    ISBN-13: 978-3956400063. 39,00€


    Verlagstext
    Die ehrgeizige Irmina reist Mitte der 1930er Jahre nach London, um eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin zu beginnen. Dort lernt sie Howard aus der Karibik kennen, dem sie sich im Streben nach einem selbstbestimmten Leben verbunden fühlt. Durch den klugen und zielstrebigen Oxfordstudenten beginnt Irmina ihren Blick auf die Welt zu öffnen. Doch findet ihre Beziehung ein jähes Ende, als Irmina, bedrängt durch die politische Situation, nach Berlin zurückkehrt. Im nationalsozialistischen Deutschland steht sie vor der Möglichkeit, den erstrebten Wohlstand endlich zu erlangen, wenn sie dafür die verbrecherische Ideologie des Regimes nicht infrage stellt. Und die politischen Ereignisse eskalieren weiter und weiter… Mit "Irmina" legt Barbara Yelin ihr Glanzstück vor: ein packendes Drama um die Entscheidung zwischen persönlicher Freiheit und dem Drang nach gesellschaftlichem Aufstieg. Basierend auf einer wahren Geschichte, erzählt sie in atmosphärisch dichten Bildern einen Werdegang voller Brüche, der aber auch exemplarisch für die Mitschuld durch Wegsehen und Vorteilsnahme vieler im Nationalsozialismus sehen kann. Mit einem Nachwort von Dr. Alexander Korb.


    Die Autorin und Illustratorin
    Barbara Yelin, geboren 1977 in München, studierte Illustration an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Als Comiczeichnerin ist sie vor allem in Frankreich durch die Bände "Le visiteur" und "Le retard" bekannt geworden (beide erschienen bei Editions de l’an 2 – Actes Sud). In deutscher Sprache sind verschiedene Kurzgeschichten von Barbara Yelin in der Anthologie "Spring" erschienen, die von einem Kollektiv von Zeichnerinnen herausgegeben wird. Jede Ausgabe von "Spring" wird etwa zu gleichen Teilen mit Comics und Illustrationen bestritten. Desweiteren ist eine Kurzgeschichte von Barbara Yelin in der Anthologie “Pomme d’amour” (Die Biblyothek) erschienen. "Gift", die Geschichte eines historischen Kriminalfalls nach einem Szenario von Peer Meter, ist der erste umfangreiche Comic von Barbara Yelin, der nun in deutscher Sprache bei Reprodukt erscheint. Barbara Yelin lebt und arbeitet in München.


    Inhalt
    So unbeschwert wie in der oberen Hälfte des Buchcovers wird Irmina nicht wieder unterwegs sein: Howard radelt mit ihr durch Oxford, um ihr stolz seine Universitätsstadt zu zeigen. Im Jahr 1934 lebt Irmina von Behdinger als Austauschschülerin in London und besucht dort eine Wirtschaftsschule, um Fremdsprachen-Sekretärin zu werden. Howard stammt von der Insel Barbados und hat sich unter erheblichen Anstrengungen ein Stipendium für ein Jurastudium in England erkämpft. Beide sind Außenseiter in England, Irmina als disziplinierte Deutsche (das „Nazifräulein“) und Howard aufgrund seiner Hautfarbe. Die keimende Beziehung zwischen beiden findet ein jähes Ende, als Irmina aufgrund der politischen Verhältnisse plötzlich ohne Unterkunft und ohne Geld aus Deutschland in England festsitzt – und sich zur Rückkehr nach Deutschland entscheidet. Mit meinem Wissen der Gegenwart, dass sie sich besser irgendwie in England durchgeschlagen hätte als zurückzukehren, wirkt Irminas überstürzte Rückkehr auf Leser der Graphic Novel enttäuschend. Aus Irminas Sicht stellen sich die Dinge ganz anders dar. Sie ist zu der Zeit noch nicht volljährig und hatte als Frau bürgerlicher Herkunft vermutlich noch nie zuvor eine Entscheidung dieser Tragweite allein zu treffen. Zurück in Deutschland kann Irmina zwar als Fremdsprachensekretärin im Kriegsministerium ihren Lebensunterhalt verdienen, mit ihrem Gehalt jedoch vermutlich keine großen Sprünge machen. Anders als im Klappentext angekündigt sehe ich Irmina nicht als ehrgeizig, sondern höchstens als pflichtbewusst und fleißig, als durchschnittliche Frau ihrer Generation. Bereits in England war Irmina hauptsächlich mit dem eigenen Überleben beschäftigt und hat sich erst durch den Einfluss ihrer Gönnerin, bei der sie kostenfrei lebt, gezwungenermaßen mit den Tagesereignissen beschäftigt. Vier Jahre später sieht sich Irmina mit dem erstarkenden Nationalsozialismus und der Judenverfolgung konfrontiert und geht schließlich eine Vernunftehe mit dem SS-Offizier Gregor Meinrich ein. Der Briefkontakt zu Howard reißt ab. Nach Jahrzehnten, kurz vor ihrer Pensionierung erhält Irmina überraschend einen Brief aus Barbados.


    Barbara Yelin erzählt, angeregt durch den Nachlass ihrer Großmutter, als Graphic Novel die fiktive Geschichte einer jungen Deutschen während des Nationalsozialismus. Irmina träumt zwar davon, aus der vorgezeichneten Rolle als Ehefrau und Mutter auszubrechen, schreckt aber im entscheidenden Moment stets vor der Entscheidung für einen alternativen Lebensweg zurück. Zwischen Irminas Selbsteinschätzung und der Wertung anderer, die Irminas Ausbildung in London und ihr Eintreten für den diskriminierten Howard mutig finden, klafft nach meiner Ansicht ein gewaltiger Graben. Die Verfolgung Andersdenkender und Andersgläubiger findet für Irmina außerhalb ihrer pesönlichen Lebenswelt statt, obwohl sie durch die Erlebnisse mit dem farbigen Howard dafür sensibilisiert sein sollte. Eine Verbindung zwischen Gregors Dienstgrad und den nicht zu übersehenden Ereignissen in ihrer Straße stellt Irmina nicht her. In dieser Geschichte ist nicht zu übersehen, dass die Juden-Verfolgung keine Maßnahme einer Minderheit war, sondern von der Bevölkerung geduldet wurde und deren Bereicherung an jüdischem Besitz diente. Irmina steht als Figur stellvertretend für Mitläufer, die meinen, an bestehenden Verhältnissen nichts ändern zu können, und kann sicher Verständnis für diese ganz normalen Deutschen zur Zeit des Nationalsozialismus wecken.


    Fazit
    Mit dominierenden Schwarz- und Grautönen und wenigen roten Tupfen durch die Flaggen der Nationalsozialisten wirkt Irminas Leben so düster wie ein Novembertag in London. Besonders beeindruckend wirken auf mich die vielen Alltagsdetails und doppelseitige Straßenszenen, in die Busse und Pferdekutschen Dynamik bringen. Yelins Graphic Novel erzeugt sehr direkte Emotionen durch den Kontrast zwischen dem, was ich mir für Irmina gewünscht hätte und was ihr Leben letztendlich für sie bereithielt.


    10 von 10 Punkten

  • Ich bin jetzt überhaupt nicht die Zielgruppe für graphic novels aber eine Buchbesprechung neulich im Fernsehen hat mich doch neugierig gemacht (obwohl ich lieber einen „normalen“ Roman zum Thema gehabt hätte ;)). Der Preis liegt mit 39 Euro doch sehr über meinem üblichen Prohibitivpreis, aber die Investition hat sich auf alle Fälle gelohnt. Das Buch ist wunderbar aufbereitet, gedruckt auf sehr hochwertigem dickem Papier und die Qualität der Farben unterstützt die gezeichnete Geschichte auf jeder Seite. Letzteres ist unglaublich wichtig, da die verschiedenen Farben - bzw. eben auch der Verzicht auf Farbe - beim Erzählen der Geschichte schon fast die halbe Miete sind. Beeindruckend, wie verschiedene subtile Abstufungen an Grau und Beige Stimmung schaffen können, wie kraftvolles Rot oder Türkis Akzente setzt.


    Als Schnell-Leserin muss man sich hier zur Langsamkeit zwingen und sich die Details der Zeichnungen anschauen und auch auf sich wirken lassen. Sie erzählen die Geschichte ebenso wie der Text, wie die Dialoge. Trotz der deprimierenden Geschichte muss man über manch kleines Detail in den Zeichnungen dann doch lachen oder zumindest schmunzeln.
    Die Geschichte an sich ist sehr realistisch und auch sehr emotional. Es fängt an damit, dass man Irmina erst mal nicht mag, dann macht sie eine Entwicklung zum Positiven durch, dann mag man sie mehr, dann wieder weniger und dann noch weniger und so ist es ein Auf und Ab. Aber eigentlich will man sie immer nur Schütteln und Aufwecken und sie zur Vernunft bringen, sie vielleicht auch zur Heldin machen.


    Das gelingt nicht und so bleibt dieser gezeichnete Roman bis zum Schluss realistisch und etwas frustrierend und deprimierend. Aber auch zum Nachdenken anregend.
    Also eine rundum gelungene Arbeit von Frau Yelin.


    Höchstbewertung :fingerhoch (Eulenpunkte, Amazonsterne, Fruchtzwerge…whatever).