Schöne Tage 1914 - Gerhard Jelinek

  • Worum es geht
    Zu Beginn des Jahres 1914 basiert das Grundgefühl der Menschen in Europa auf Sicherheit. Die soziale Lage breiter Bevölkerungsschichten hatte sich seit Ende des 19. Jahrhunderts immer weiter verbessert, dem technischen Fortschritt scheinen keine Grenzen gesetzt. Die Bilder haben längst laufen gelernt, und begeistern ein großes Publikum; das Automobil hat seinen Siegeszug angetreten, und "Aeroplane" beginnen den Himmel zu erobern. In Paris werden Pläne für einen Tunnel unter dem Ärmelkanal geschmiedet, in Wien soll eine U-Bahn gebaut werden. Die Suffragetten kämpfen in London für das Frauenwahlrecht, in der Kunst- und Modewelt werden Konventionen gesprengt, doch ist es auch ein Zeitalter sehr unterschiedlicher Geschwindigkeiten.
    Die Kluft zwischen einer in die Moderne rasenden und doch noch in einem restfeudalen System verharrenden Gesellschaft wird immer größer. In Wien sitzt ein greiser Herrscher seit 65 Jahren auf dem Thron und lehnt jede Reform, jede staatsrechtliche Umgestaltung der Habsburgermonarchie in einen modernen Bundesstaat ab. Trotz dieser "Obstruktionspolitik" gilt ein großer europäischer Krieg als unmöglich; zu eng sind nicht nur die wirtschaftlichen Verflechtungen der Länder, sondern auch die verwandtschaftlichen Beziehungen sämtlicher europäischer Fürsten- und Königshäuser.
    Die Schüsse von Sarajewo setzten der Stagnation schließlich ein gewaltsames Ende, brachten letztlich vier Imperien zum Einsturz, und führten zu einer Neuordnung Europas, die fast 80 Jahre dauern sollte.


    Wie es mir gefallen hat
    Aus Briefen, Tagebucheintragungen und Zeitungsartikeln hat der gelernte Jurist und erfahrene Journalist Gerhard Jelinek eine gleichermaßen informative wie unterhaltsame Collage dieses europäischen Schicksalsjahres in Zeitzeugenberichten zusammengestellt.
    Anhand mehr oder weniger wichtiger Ereignisse führt der Autor seine Leser durch das erste Halbjahr des Jahres 1914, und vermittelt dabei einen sehr guten Eindruck der allgemeinen Stimmungslage, sowie der aktuellen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Situation. Deutlich werden dabei die Spannungsfelder sichtbar, die sich durch das Fortschreiten in die Moderne und das Festhalten am Althergebrachten ergeben.
    Die Argumentation des Autors, dass der Krieg weder als unabwendbares Schicksal über Europa hereingebrochen ist, noch im "Rate der Vorsehung" beschlossen worden war, wie es im Kriegsmanifest des Kaisers hieß, kann ich ebenfalls voll und ganz teilen. Vielmehr wurden die Weichen von einigen wenigen Ministern, Diplomaten und Militärs sehr bewusst gestellt, während Franz Joseph zur Sommerfrische nach Bad Ischl dampfte, und auch Kaiser Wilhelm nichts Besseres zu tun wusste, als seine traditionelle Nordlandreise anzutreten. Wenigstens zeigte sich Letzterer bei seiner Rückkehr am 27. Juli sehr erstaunt über die entgegenkommende Haltung der Serben. Von seinem berühmten handschriftlichen Kommentar am Rand des Dokuments: "Aber damit fällt jeder Kriegsgrund fort", erfährt die österreichische Regierung allerdings nichts mehr.
    Kaiser Franz Joseph verlangt von seinen hohen Generälen zwar ein "selbständiges, rasches, aber stets taktvolles und niemals unbedachtes Handeln"; für ihn dürften seine eigenen Richtlinien aber nicht gegolten haben, als er am 28. Juli die Kriegserklärung an Serbien, und damit auch das Todesurteil für 15 Millionen Menschen, Soldaten wie Zivilisten, unterschreibt.


    Für den Autor gibt es von mir bei so viel Kompetenz in Sachen allgemein verständlicher Geschichtsschreibung nur allerhöchstes Lob und eine absolute Leseempfehlung.