Sven Stricker: Sörensen hat Angst

  • Alter Falter!


    Ich weiß, die Wendung "alter Falter" ist irre uncool - niemand, der etwas auf sich hält, sollte sie noch verwenden. Aber das waren tatsächlich die ersten Worte, die mir in den Sinn kamen, als ich nach 427 Seiten die Lektüre von "Sörensen hat Angst" beendet hatte: Alter Falter, was für ein Buch!


    Kriminalkommissar Sörensen, dessen Vornamen man nicht erfährt, leidet unter einer generalisierten Angststörung. Freundin und Kind haben ihn verlassen, er hat eine Therapie absolviert und steht unter entsprechender Medikation. Und er glaubt, nein, er hofft, sich besser in den Griff zu bekommen, wenn er die laute, anstrengende Großstadt Hamburg verlässt und in die Provinz umzieht. Das Wechselangebot eines Kollegen aus einem Nest namens "Katenbüll" kommt da genau richtig. Im ruhigen Nichts irgendwo an der Nordseeküste, denkt Sörensen, kann er wieder zu sich finden und die Angst bewältigen, wenigstens ausblenden. Allerdings ist dieses Nichts alles andere als ruhig und beschaulich - und kaum ist der neue Kommissar im verregneten, septembergrauen Katenbüll angekommen, wird auch schon die erste Leiche gefunden. Bürgermeister Hinrichs ist im eigenen Pferdestall durch drei Pistolenkugeln getötet worden. Und damit fängt es erst an.


    Also - eigentlich fängt es ganz anders an. Man begleitet Sörensen auf seinem Weg in die Provinz, lauscht seinen Gedanken, und einem Gespräch mit dem jungen Ole, der als Anhalter einsteigt und das gleiche Ziel hat. Das ist recht amüsant, aber nie unsubtil, und man gewöhnt sich schnell an diese Figur, die einem sofort sympathisch ist - ein Gefühl, das sich bis zum Ende unaufhörlich verstärkt. Die Erwartungshaltung lässt sich an dieser Stelle noch wie folgt zusammenfassen: Aha, das wird ein schlau-lustiger Regionalkrimi. So eine Mischung aus Karen Duves "Regenroman" und einem der ersten Klüpfel/Kobr-Dinger ("Milchgeld"), nur in viel besser. Weil es, wie schnell zu bemerken ist, äußerst stilsicher und im perfekten Duktus verfasst wurde - und wenn es um Dialoge geht, kann man vor Sven Stricker nur den Hut ziehen. Es macht einfach Spaß. Doch das Lachen bleibt einem sprichwörtlich bald im Halse stecken. Wie dem toten Bürgermeister Hinrichs der Zettel mit dem ominösen Bibelzitat. Hatte ich das schon erwähnt?

    Während der kommenden drei Tage erweist sich die Provinzidylle als reine (und, vorsichtig gesagt, nicht besonders hübsche) Kulisse, hinter der die Hölle lauert. Zusammen mit einer hübschen und klugen Kollegin namens Jennifer Holstenbeck und dem schlurfigen Praktikanten Malte Schuster sieht sich der angstgestörte Kriminalist mit Strukturen konfrontiert, die sich hinter brutalster Großstadtkriminalität nicht verstecken müssen: Watch out, Bronx - here comes Katenbüll!


    Ständig die eigene Angst und die vorhersehbaren Attacken im Nacken, stapft Sörensen, der ein bisschen George Clooney ähnelt, durch den omnipräsenten Matsch, begegnet dem eigenartigen, überlässigen Pfarrer Mielke, dem halbseidenen Fleischfabrikanten Schäffler, der nassforsch-dummdreisten Zweiten Stellvertretenden Bürgermeisterin Frauke Dietz, der "Käse-Käthe" und vielen anderen, die allesamt schwerste Päckchen zu tragen haben und keineswegs irgendein ländliches Ideal leben - ganz im Gegenteil. Mit jeder Begegnung verstärkt sich zudem die Erkenntnis, dass das Experiment scheitern wird, aber erstaunlicherweise ist es die hohe Schlagzahl an Ereignissen, die die Störung deckelt. Je stärker Sörensen unter Druck gerät, umso besser funktioniert er. Okay, so richtig in volle Fahrt gerät er nie, weil er eben Sörensen ist, ein nachdenklicher, guter Beobachter, ein Feingeist und Menschenfreund, und nicht der Haudrauf-Typ, der die ohnehin flache Landschaft hemdsärmelig plättet. Und genau das zeichnet ihn und dieses bemerkenswerte Buch auch aus: Es ist ein Figurenroman, eine Geschichte, in der die Menschen, ihre Schicksale und Eigenarten im Vordergrund stehen - und der Fall, den es zu lösen gilt, dient als verbindendes Element, wenn auch als sehr wuchtiges. Da ist dann auch verzeihlich, dass man zuweilen denkt, es müsse doch ein wenig rasanter vorangehen, andererseits vergisst man gelegentlich, dass es ganze drei Tage sind, von denen Stricker da erzählt. Schon nach wenigen Seiten kommt es einem vor, als hätte man selbst mindestens einen langen, trüben Herbst in Katenbüll verbracht. Die feuchtkalte Tristesse schleicht sich in alle Poren und Synapsen. Und dennoch schwingt immer ein gerüttelt Maß an optimistischer Fröhlichkeit mit - das ist hohe Kunst, es auf diese Weise hinzukriegen.


    "Sörensen hat Angst" ist ein feines, nachdenkliches, äußerst sympathisches Buch. Es ist eigentlich kein Kriminalroman und erst recht keine besonders komische Geschichte, sondern, wie der Titel sagt, die Erzählung von jemandem, der Angst hat - und dort, wo er eigentlich Ablenkung sucht, auf genau dieses Gefühl trifft. Denn Katenbüll, dieses stereotype, langweilige Kaff am Koog, das steht für alles, was unser Zusammensein erschwert, und ganz vorne auf dieser Liste findet sich eben: Angst. Eine Angst, der man unbedingt entgegentreten muss. Mindestens so, wie Sörensen das macht.


    Bitte schnellstmöglich mehr davon, Herr Stricker! Danke.

  • Ich fand den Einstieg etwas schwer, aber dann hatte man sich daran gewöhnt. Auch daran, dauernd mit zu leiden und ebenfalls Angst zu verspüren. Ein guter Anfang, macht Lust auf mehr. Kein gewöhnlicher Krimi und alle haben ansonsten ganz normale Probleme.

  • Der Film läuft offiziell erst in der kommenden Woche. Sven hat das Drehbuch selbst geschrieben, und Bjarne Mädel hat erstmals Regie geführt.


    Ich hab' den Film auch gestern gesehen und finde ihn überwiegend gelungen. Er hängt im Mittelteil ein bisschen, und die Bildsprache ist für meinen Geschmack oft etwas zu laut, aber die sich dann doch stark verdichtende Story und die Traumbesetzung Mädel-Kurth-Brandt (vor allem Matthias Brandt ist schlicht hinreißend) machen das wieder wett. Was ich allerdings als nicht optimal umgesetzt empfand, war die Vermittlung von Sörensens Angststörung, das blieb mir ein wenig zu sehr auf der symptomatischen Ebene. Ansonsten ein wirklich solider und oft sogar recht origineller Krimiabend. Allerdings hatte ich mit Katenbüll nicht ganz so trist vorgestellt.

  • Der ausführlichen, begeisterten Rezi von Tom kann ich nur zustimmen: Was für ein großartiges Buch!



    Tatsächlich hat mich die Ausstrahlung des Filmes daran erinnert, dass ich das Buch doch lesen wollte. Die Verfilmung fand ich sehr gut. Das Buch schlägt diese aber noch um Längen, und so soll es ja auch sein.