'Jeder stirbt für sich allein' - Seiten 200 - 286

  • Als hier von "Ein halbes Jahr danach" die Rede war, fällt mir wieder deutlich auf, dass es in diesem Buch keinen Jahresablauf gibt, d. h. keine Jahreszeiten, keine Feiertage (lediglich der Sonntag spielt jetzt eine Rolle), kein Wetter, alles gleichförmig.

  • Überall gibt es Misstrauen zwischen Nachbarn und sogar Freunden. Jeder hat Angst, einen Fehler zu machen. Jeder hat etwas zu verbergen. Aber genau das gibt auch den Menschen die Möglichkeit, sich irgendwie durchzulavieren, wenn man es geschickt anstellt.


    Der Kommissar Escherich ist ganz schön gerissen. Mal ist er ganz kumpelhaft, mal drohend oder versteckt manipulativ. Also ehrlich, ich gönne es ihm, dass er von seinem Vorgesetzten schikaniert wird und dass Enno entkommen konnte.
    Interessant ist es zu erfahren, was jeweils Jäger und Gejagte gegenseitig voneinander denken, wie sie sich und die Situation einschätzen.


    Traurig finde ich es, dass Otto nichts von Annas Kindheit und Familie weiß und sie somit nicht wirklich kennt.

  • Ich will nicht sagen, dass ich Escherich sympathisch finde - aber er ist ein gerissener Kerl. Er ist sicher mal ein guter Polizist gewesen, bevor die Nazis die Herrschaft übernommen haben. Insofern habe ich schon ein gewisses Mitgefühl mit ihm.


    Enno tut mir nicht leid - im Gegenteil. Selbst ein schwacher und feiger Kerl, nutzt er alle anderen aus, soweit es ihm möglich ist. Manipulativ ist er genauso.
    Von Barkhausen gar nicht zu reden.

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Enno tut mir nicht leid - im Gegenteil. Selbst ein schwacher und feiger Kerl, nutzt er alle anderen aus, soweit es ihm möglich ist. Manipulativ ist er genauso.


    Was er mit Frau Hete anstellt, ist wirklich perfide. Enno schafft es, bei Frau Hete Mutterinstinkte zu wecken. Gegen besseres Wissen kümmert sie sich rührend um ihn.
    Dieser gefühlvolle Satz passt eigentlich gar nicht in das Buch:
    "Eine Weile hörte sie still auf dieses Weinen, das durch die Nacht klagelos immer weitergeht, als traure die Nacht selbst über all den Kummer, den es jetzt auf der Welt gibt."

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    ...
    Enno tut mir nicht leid - im Gegenteil. Selbst ein schwacher und feiger Kerl, nutzt er alle anderen aus, soweit es ihm möglich ist. Manipulativ ist er genauso.
    Von Barkhausen gar nicht zu reden.


    :write
    Die beiden haben genug Eigenanteil an ihrer Situation. Mir tun eher die Frauen leid, die ausgenutzt werden.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Ich denke, Fallada hätte genauso gut, irgend eine andere Figur nehmen können. Die Situation zeigt nur, wie schnell jemandem etwas in die Schuhe geschoben wurde, wenn es vorteilhaft war. Wenn jemand in die Mühlen der Gestapo geriet, hatte er keine Chance.


    Es kommen noch mehr solche Zufälle. Ich habe im übernächsten Abschnitt etwas dazu geschrieben.

  • Ich glaube, in dieser Zeit ging das vielen Menschen so. Der Selbsterhaltungstrieb ist unglaublich stark und eigentlich ist den meisten Menschen die eigene Haut am wichtigsten, vielleicht noch Familie und enge Freunde.


    Und nach unten treten und von oben getreten werden dürfte auch normal in der Arbeitswelt gewesen sein.


    Da wird Escherich nicht der einzige sein. Und ganz ehrlich, selbst wenn er gewollt hätte, wäre es für ihn auch nicht möglich, aus dem Polizeidienst auszuscheiden - das würde ihn doch sofort hochverdächtig machen. Ähnliches galt für viele Menschen damals. Und dann muss man einfach für die Sache sein, sie sich schönreden, bis man selbst davon überzeugt ist.


    Und wie würden wir reagieren, wenn er nicht für ein Regime, was wir als falsch ansehen, arbeiten würde, sondern genau so handeln würde, wenn er, sagen wir mal, heute im Polizeidienst wäre und versuchen würde, einen Ring Menschenhändler zu sprengen? Wäre derselbe Mensch mit den selben Handlungen immer noch ein übler Kerl?


    Irgendwie macht mich vieles an dem Buch nachdenklich.

  • Zitat

    Original von Ellemir
    Und wie würden wir reagieren, wenn er nicht für ein Regime, was wir als falsch ansehen, arbeiten würde, ...


    Ein interessanter Gedanke. Escherisch darf ja allein daher eigentlich schon kein Sympath sein, da er bei der verhassten Gestapo arbeitet. Bei einem heutigen Kommissariat ist ihm in seinem bisherigen Verhalten noch nicht allzu viel vorzuwerfen. :gruebel

  • Zitat

    Original von xexos


    Ein interessanter Gedanke. Escherisch darf ja allein daher eigentlich schon kein Sympath sein, da er bei der verhassten Gestapo arbeitet. Bei einem heutigen Kommissariat ist ihm in seinem bisherigen Verhalten noch nicht allzu viel vorzuwerfen. :gruebel


    Fallada verleigt Escherich schon sympathische Züge, finde ich, zumindest am Anfang des Buches. Das schreibt er sehr realistisch, finde ich, und verdeutlicht dem Leser, dass hinter jedem Gestapo-Beamten auch ein Mensch steckt, der seine Taten verantworten muss.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Ich glaube, dass man in diesen Zeiten so sein musste wie Escherich. Er musste seine eigene Haut retten. Klar, dass ihm da ein daher gelaufener Typ egal ist. Das wäre bei mir zwar vermutlich nicht unbedingt so, aber das ist allzu menschlich. Was aber nicht heißt, dass ich das gut finde. Ich fand es eher faszinierend, wie er allen die Worte im Mund umdrehen konnte.


    Das Misstrauen überall finde ich wirklich schrecklich. Ich liebe unsere Welt, in der man weiß, dass es noch Menschen gibt, denen man Vertrauen kann. In so einem Umfeld wie in dem Buch könnte und wollte ich nicht leben. Das würde mich fertig machen. Vermutlich würde ich im Irrenhaus landen oder so...

  • Zitat

    Original von xexos


    Ein interessanter Gedanke. Escherisch darf ja allein daher eigentlich schon kein Sympath sein, da er bei der verhassten Gestapo arbeitet. Bei einem heutigen Kommissariat ist ihm in seinem bisherigen Verhalten noch nicht allzu viel vorzuwerfen. :gruebel


    Das habe ich auch überlegt, bisher finde ich Escherich nicht wirlich unsympathisch, wenn ich ausblende, dass er für die Gestapo arbeitet und auch an seinen Methoden ist noch nichts auszusetzen.


    Ich frage mich immer wieder, ob ich diese Idee mit den Karten wirklich gut finde, es wird ja im Buch auch immer wieder gesagt, dass die Quangels damit andere in Gefahr bringen und der eine oder andere hat es wirklich verdient, nicht auf den Schirm der Gestapo zu kommen, wie der arzt, der seine jüdische Frau versteckt.

  • Zitat

    Original von Zwergin


    Ich frage mich immer wieder, ob ich diese Idee mit den Karten wirklich gut finde, es wird ja im Buch auch immer wieder gesagt, dass die Quangels damit andere in Gefahr bringen und der eine oder andere hat es wirklich verdient, nicht auf den Schirm der Gestapo zu kommen, wie der arzt, der seine jüdische Frau versteckt.


    Ich hab das nicht mehr so genau in Erinnerung. Aber war es den Quangels bewusst, dass ihre Aktionen auch für andere gefährlich sein konnten?
    Beim Arzt habe ich mich gefragt, ob es ihm nicht klar wahr, dass er mit seinen großzügigen Krankschreibungen die Aufmerksamkeit der Nazis auf sich ziehen könnte. Aber wahrscheinlich ließ ihm sein Gewissen keine andere Wahl.