Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster - Susann Pásztor

  • Klappentext (kopiert von Amazon.de):
    Wie begegnet man einer Frau, die höchstens noch ein halbes Jahr zu leben hat? Fred glaubt es zu wissen. Er ist alleinerziehender Vater und hat sich zum ehrenamtlichen Sterbebegleiter ausbilden lassen, um seinem Leben mehr Sinn zu geben. Aber Karla, stark, spröde und eigensinnig, arrangiert sich schon selbst mit ihrem bevorstehenden Tod und möchte nur etwas menschliche Nähe – zu ihren Bedingungen.
    Als Freds Versuch, sie mit ihrer Vergangenheit zu versöhnen, grandios scheitert, ist es nur noch Phil, sein 13-jähriger Sohn, der Karla besuchen darf, um ihre Konzertfotos zu archivieren. Dann trifft Hausmeister Klaffki in einer kritischen Situation die richtige Entscheidung – und verhilft Fred zu einer zweiten Chance.
    Susann Pásztor erzählt in ihrem dritten Roman eine berührende Geschichte über die erstaunliche Entwicklung einer Vater-Sohn-Beziehung – unpathetisch und humorvoll, einfühlsam und mit sicherem Gespür für menschliche Gefühlslagen.


    Mein Kommentar:
    „Ich schreibe eigentlich nur noch Listen. Für alles andere fehlen mir die Worte.“


    Fred Wiener ist so neurotisch wie eine Hauptfigur in einem älteren Woody-Allen-Film: „War er irgendwo mit jemandem verabredet, was selten genug vorkam, schlenderte er immer ein wenig auf und ab und entfernte sich dann so weit, dass er den Treffpunkt noch gut im Auge behalten konnte, um sich bei der ersten Sichtung der anderen Person wieder dem Ziel zu nähern.“ S. 11 Für seine Kollegen ist er nur der Langweiler, das „Wienerwürstchen“ – und hat sich zum ehrenamtlichen Sterbebegleiter ausbilden lassen, aus Angst, sein Leben sei belanglos. So gerät er an Karla, die alles ist, aber nicht unentschieden oder „lauwarm“. Karla fordert ihn heraus in seiner Komfortzone. Auf „Was würden Sie denn gern tun mit der Zeit, die Ihnen noch bleibt?“ entgegnet Karla „Ist das Ihr Unterhaltungsprogramm für Sterbende, Herr Wiener?“


    Phil ist der 13-jährige Sohn des alleinerziehenden Fred, viel zu klein für sein Alter, Schreiber von Gedichten und mit seinem Vater in einem „Nichtangriffspakt“ lebend, aus dem heraus Fragen nicht gestellt und Antworten nicht erwartet werden, besonders, was Phils Mutter betrifft. Auch er begegnet Karla: „Er suchte nach seiner Angst und fand sie weit hinter seiner Neugier und etwas anderem, das mit Bewunderung zu tun hatte.“ S. 76



    Mit großem Einfühlungsvermögen für die Situation und für die Personen schildert Susann Pásztor ihre Geschichte dieses Aufeinandertreffens von wunderbaren Charakteren (wann schon kann man sich gleichzeitig in etlichen Zügen mit einem Teenager, einem Mann Mitte Vierzig und einer älteren Dame identifizieren?) – die feine Ironie dazu ist geradezu hinreißend. „Was sah sie [Karla] in ihm [Fred]? Einen Gesandten des Todes? Einen zukünftigen Beistand für schwere Stunden? Einen schwitzenden, übergewichtigen Mittvierziger?“ S. 13


    Dieses Buch über eine Sterbebegleitung zelebriert doch vor allem das Leben, aber auf eine so mitreißende und bewegende Art, das ich es geradezu verschlungen habe. Für dieses Buch benötigt man Zeit – nein, es sind nur 288 Seiten, die sich noch dazu fix und leicht lesen lassen. Aber man möchte dieses Buch nicht unterbrechen MÜSSEN und daher sollte man es nur anfangen, wenn man miteinander auch ungestört sein kann; auch, um gelegentlich innehalten zu können.


    S. 18 „Wenn ich Listen schreibe, dann sind es welche, auf denen steht, welche Todesarten mir noch weniger gefallen als die, an der ich sterben werde. Ich schreibe Listen mit meinen gebrochenen Versprechen und all den Dingen, an die ich nie geglaubt habe. Ich schreibe eigentlich nur noch Listen. Für alles andere fehlen mir die Worte.“


    Und ich – muss eindeutig wieder einmal weniger Listen schreiben…

  • Fred ist ein in sich gekehrter alleinerziehender Vater. Er hat sich zum Sterbebegleiter ausbilden lassen und hat bei Karla nun seinen ersten Einsatz. Sein Sohn Phil soll für Karla ihre Negative digitalisieren. Beide schließen Karla, die sehr speziell ist, schnell in ihr Herz. In seinem Übereifer schießt Fred übers Ziel hinaus und Karla lässt nur noch Phil zu sich. Ausgerechnet Hausmeister Klaffki schafft es, Fred eine neue Chance zu ermöglichen.


    Dieses Buch handelt vom Sterben – von den letzten Wochen und Monaten einer an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankten außergewöhnlichen Frau. Aber es handelt auch vom Erwachsenwerden. Denn Phil und auch sein Vater wachsen in der Zeit mit Karla über sich hinaus und verändern sich. Ebenso verändert sich die Beziehung der beiden zueinander und auch zu Sabine, Freds Exfrau und Phils Mutter.


    Mich hat die Story sehr berührt. Das liegt zum Teil natürlich mit daran, dass ich vieles, das hier erzählt wird, selbst erlebt habe. Doch es hat nicht alte Wunden aufgerissen, sondern tatsächlich Narben balsamiert. Ja, es hat eine heilende Wirkung – auch wenn ich natürlich am Ende geheult habe, wie ein kleines Kind. Dennoch – ich liebe dieses Buch!


    Die Erzählerperspektive ist etwas außergewöhnlich gewählt, denn sie fokussiert die Charaktere, um die es in dem Augenblick gerade geht, so, als würde man direkt deren Gedanken lesen. Es ist also keine Distanz über alles, sondern wechselt immer wieder die Personen. Entsprechend sind die Kapitel dann auch benannt (nach dem Namen der jeweiligen Person). Karlas Kapitel sind immer nur Listen von Gedanken. Dennoch liest es sich sehr gut. Man ist erstaunt, wie viel man am Stück gelesen hat. Mit der entsprechenden Zeit und Ruhe ist es kein Problem, das Buch komplett am Stück zu lesen. Viele der Gedanken sind wunderbar komisch, trotz all der Melancholie, die natürlich über allem liegt.


    Wirkliche Spannung kommt keine auf. Im Gegenteil – wünscht man sich doch das große Wunder, dass Karla gegen jede Vernunft geheilt wird. Aber alles greift so schön ineinander, zeigt ein so schönes Abbild der Wirklichkeit (trotz aller Traurigkeit), dass man nicht zu lesen aufhören kann und mag.


    Sich mit dem Tod, dem Sterben und dem Umgang damit auseinanderzusetzen ist nicht sehr einfach. Aber dieses Buch zeigt, dass man es sich oft viel zu schwer macht – und damit auch dem Sterbenden. Mich bewegt das Buch sehr, es geht tief unter die Haut und klingt anhaltend nach. Es ist definitiv schon jetzt eins meiner Highlights 2017 – und dafür gibt es die vollen fünf Sterne = 10 Punkte.

  • Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster - Susann Pasztor
    288 Seiten
    Hardcover
    Kiepenheuer & Witsch


    Die Autorin
    Susann Pásztor, 1957 in Soltau geboren, lebt als freie Autorin und Übersetzerin in Berlin. Ihr Debütroman »Ein fabelhafter Lügner« (KiWi 1201, 2011) erschien 2010 und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. 2013 folgte der Roman »Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts« (KiWi 1326). Sie hat die Ausbildung zur Sterbebegleiterin abgeschlossen und ist seit mehreren Jahren ehrenamtlich tätig.


    Inhalt
    Fred Wiener, alleinerziehender Vater, engagiert sich seit Kurzem als ehrenamtlicher Sterbebegleiter. Er lebt sehr zurückgezogen, ohne nennenswerte soziale Kontakte. Bis er das Gefühl hat, seinem Leben mehr Sinn zu verleihen. Fred lässt sich ausbilden, besucht während seiner Freizeit Seminare und Fortbildungen. Seine erste Begleitung ist Karla, eine 60-jährige Dame, unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt. Der Kontakt ist zunächst nicht einfach, wie soll man sich verhalten? Worüber spricht man? Welche Themen sind angemessen? Doch Fred wächst an seiner Rolle und gibt sein Bestes, um Karla noch eine möglichst schöne Zeit zu bereiten. Doch wie weit darf man in das Leben einer Sterbenden eingreifen?
    Und auch sein pubertierender Sohn freundet sich mit Karla an. Phil hat es nicht leicht im Leben, er kämpft mit dem Erwachsenwerden und das Verhältnis zur abwesenden Mutter ist auch eher schwierig.



    Meine Meinung
    Erzählt wird die Geschichte hauptsächlich aus der Sicht von Fred und Phil. So erfährt der Leser hautnah die Gedanken, Stimmungen und Gefühle von Vater und Sohn, so dass man sich hervorragend in die jeweils erzählende Person hineinversetzen kann. Doch auch Karlas Schwester Gudrun kommt kurzzeitig zu Wort. Hierbei handelt es sich um eine eher ruhige Geschichte, in der wir die Charaktere ein Stück weit auf ihrem Weg begleiten. Besonders die berührende Sprache sticht hervor, die Erzählweise ist fast schon poetisch und sehr melancholisch. Zwar hofft man zu Beginn noch auf ein Wunder, schließlich hat man als Leser die Figuren jeweils auf ihre Art ins Herz geschlossen. Doch letztendlich ist eigentlich von vornherein an klar, worauf das Ganze hinausläuft. Und doch blitzt immer wieder ein Funke Humor hervor, die Seiten sind gespickt mit Situationskomik, die mich trotz all der Traurigkeit oftmals zum Schmunzeln gebracht hat.
    Eingentlich ist es auch eher ein lebensbejahendes Buch. Es geht um Sterbebegleitung, um Freundschaft, um die Vater-Sohn-Beziehung und um das Erwachsenwerden.
    10 Punkte

  • Nachdem ich die Rezensionen hier gelesen habe muss ich sagen wirklich kein leichtes Buch.
    Man spürt und fühlt wie schwer es ist sich mir dem Sterben auseinander zu setzen. Der Autorin ist der Balanceakt zwischen Leben und Sterben gelungen.....

  • Fred ist nach einer ziemlich unerquicklichen Ehe auf Sinnsuche und wird Sterbegleiter. Sein erster Einsatz bringt ihn jedoch mit der halsstarrigen Karla zusammen, die von seinen menschlichen Anwandlungen wenig hält. Aber sie braucht Fred nun einmal. Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium und nun auch noch Fred, dieser gefühlt typische Durchnittsdeutsche -wir haben uns alle lieb-Mann will natürlich wieder alles richtig machen. Wie bei seiner, der Esoterik zugeneigten Ehefrau, die sich inzwischen einem zupacken deren Mann zugewandt hat. Wie bei seinem Sohn Phil, dem sein Vater mit seiner leidigen Kumpelmasche zumindest mittelschwer auf den Zeiger geht, was in diesen pubertären Lebensjahren ja auch kein Wunder ist. Fred versucht die Mauer zwischen sich und der äußerst bärbeißigen Karla immer wieder einfallsreich zu überbrücken und überschreitet schließlich eine Grenze, die Karlas Gegenwart mit ihrer Vergangenheit verknüpft. Karla, einst hingebungsvoller Fan der Gruppe Grateful Dead hat nur noch einen Wunsch und den kann ihr eigentlich nur Freds Sohn erfüllen.


    An das Thema Sterbebegleitung bin ich mit einer gewissen Grundskepsis gegangen. Aber die Leseprobe zu dem Buch hat mir gefallen und ich wurde tatsächlich positiv überrascht. Dieses Buch fördert eine herrliche Schlichtheit und eine hintergründige Komik zutage, wie ich sie in letzter Zeit selten gelesen habe. Susann Pàsztor hat die Gabe unser Dasein wirklich auf den Punkt zu bringen, die Realität einzufangen und diese auf einen literarischen Sockel zu hieven. Die Menschen kommen sehr lebensnah rüber. Wobei der etwas spröde Erzählton manchmal etwas über die Emotionen herübergeht und aus dem Ende eine Spur zu wenig herausholt. Aber ansonsten hat mich der Roman voll überzeugt. Vor allem die Entwicklung von Phil, dem genialen Reim-Rapper, der seinen seinen Weg geht. Er wächst am meisten in diesem Buch. Auch schön, wie die ganzen kleinen zwischenmenschlichen Geheimnisse nach und nach aufgedeckt werden. Und wer da zuletzt stirbt hat doch seine Würde gewonnen. Ein sehr gutes Buch von einer ausgezeichneten Autorin, die eine Lanze für die Sterbebegleiter bricht. Ich werde mir nicht nur Ihren Namen merken.

  • „Vorlesen darfst du mir erst, wenn ich mich nicht mehr dagegen wehren kann. Ich mochte Vorlesen noch nie, aber wahrscheinlich wird es mir bei dir sogar gefallen.“ (S.168)


    Zusammenfassung. Fred ist seit Neuestem ehrenamtlicher Sterbebegleiter und will alles tun, um seinen ersten Einsatz nicht zu vermasseln. Karla hat Bauchspeicheldrüsenkrebs und gerät in ihren letzten Monaten an Fred. Diese Konstellation, so schwierig sie zu Beginn auch zu werden scheint, lässt nicht nur Karla und Fred ein gutes Stück wachsen.


    Erster Satz. Nur zehn Minuten vor Karlas Hauseingang reichten aus, um Freds Zuversicht in Beklommenheit und dann in mühsam kontrollierte Panik zu verwandeln.


    Cover. Es gibt schönere Cover und solche, die mich mehr ansprechen. Was mir jedoch gut gefällt, das ist der Titel, obwohl ich ihn zunächst nicht verstanden habe. Aber als mir dann klar war, wann dieses „und dann“ eintritt, da fand ich den Titel wirklich gelungen.


    Inhalt. So schwer die Geschichte auch ist, die in diesem Roman erzählt wird, so leicht ließ sie sich doch lesen, nicht im Sinne von „leichter Lektüre“, sondern weil sich alles, was geschildert wird, so natürlich und richtig anfühlt, nie gestelzt oder hölzern (außer an den Stellen, an denen die Situation es erfordert). Vieles wird nie ausgesprochen, vieles findet nur am Rande Erwähnung und hätte dem Buch noch ein paar Seiten mehr bescheren können, und viele Stellen finde ich im Nachhinein ein wenig unbefriedigend.
    Aber dann wieder ist es ganz genau das, was mir an dem Roman so gut gefallen hat: Seine Unvollkommenheit, dass sich im Leben eben nicht immer alles aufklärt und in Wohlgefallen auflöst, dass nicht immer alles einfach ist.


    Personen. Kaum ein Roman hat es bisher auf die Weise geschafft, mir Figuren an die Hand zu geben, mit denen ich mich identifizieren kann, wie dieser. Das beginnt bei Fred, dessen Gedanken mir zu Beginn teils unangenehm waren, weil ich mich so gut in ihnen wiederfinden konnte; da ist Freds Sohn Phil, der eine solche Begeisterung für Wörter aufbringt, dass ich mich (in dieser Hinsicht) so verstanden wie nie zuvor gefühlt habe; und da ist Karla, für deren Zitat oben ich sie hätte knutschen können, weil ich mich so sehr darin wiederfinde. Allein das fand ich an „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“ ziemlich grandios.
    Und auch in den Figuren ist dieses Buch so wunderbar unperfekt. Sie erklären sich nicht, jedenfalls nicht wirklich in zufriedenstellendem Ausmaß, und unter anderem dadurch entsteht diese Unvollkommenheit, die mir an diesem Roman sehr gut gefallen hat.


    Zitate. „Sie hatten immer noch schlechten Sex, aber sie heirateten trotzdem, weil es niemanden gab, mit dem sie besseren Sex hätten haben können.“ (S. 91)
    „Das Konzept der Seele, verstand er plötzlich, war nicht durch religiösen Idealismus entstanden, sondern nur das Ergebnis eines einfachen Subtraktionsprozesses.“ (S. 172)
    „Wie unangenehm dieser plötzliche Druck war, den er in seinem Brustkorb spürte, es könnte Kotzen oder Weinen oder ein Herzinfarkt werden.“ (S. 250)


    Fazit. Ein Roman, der mich sehr bewegt hat, den ich mit Vergnügen und häufig mit mindestens einer Träne im Auge gelesen habe. Ein Roman über das Wachsen an Aufgaben und Situationen, über Liebe und Freundschaft und über Familie. Ein Roman, den ich wirklich empfehlen kann.