25.7.2017, Berlin, Waldbühne: Robbie Williams


  • Warum bin ich eigentlich hier?
    Ich schaue ins Rund, betrachte die Mischung, die tatsächlich bemerkenswert ist, altersmäßig wie in Bezug auf Bildungsnähe und sonstige soziale Ausstattung. Gleich neben mir sitzt eine Mutter mit ihren zwei Töchtern, sie tragen alle drei lange, dunkle Schaftstiefel aus Wildleder, dazu enge Jeans und pailettenbesetzte Shirts. Das Gesicht der Mutter ist wächsern und aknenarbig, ihre Haare sind zu einem straffen Zopf gebunden, die Brauen sind tätowiert, die Augen schmal von der Hyaluronsäure. Die Töchter, vielleicht zwölf und fünfzehn, sehen fast genauso aus, sie zeigen sogar den gleichen, etwas angestrengten Gesichtsausdruck. Direkt daneben sitzt ein fast schon zu lässig gekleidetes Paar in den Vierzigern, nippt am Weißwein, schwatzt leise über Immobilienkäufe, dann stört eine Gruppe aus sechs Frauen die Szene, eine Runde, wie man sie auch im Flieger nach Malle antreffen könnte. Eine hat die Führung, sucht zusammenhängende Plätze, sinniert lautstark über Muster, die man bilden könnte, über zwei oder drei Reihen hinweg, um sich so nahe wie möglich zu sein. Was mir außerdem auffällt: Wenige haben Mottoshirts oder Kleidung aus dem Merchandising an, dafür gibt es viele Brillenträger. Alle sind pünktlich. Kaum jemand raucht. Der Regen hat aufgehört, obwohl die Unwetterwarnung wegen des Dauerregens noch gilt, später am frühen Abend werden sogar ein paar blaue Flecken am Himmel sichtbar werden. Die Stimmung ist entspannt, das hier ist ein Ausflug, auch einer in die Vergangenheit. Denn, seien wir ehrlich: Der Mann, um den es hier heute geht, hat seine kurze beste Zeit längst hinter sich.

    Warum bin ich eigentlich hier?
    Die Mucke ist nicht meine, aber Mucke ist, glaube ich, auch nicht Thema des Abends. Nur wenige dürften hier sein, weil sie ein Konzert erleben, der Musik lauschen wollen. Das hier soll Erlebnis-Entertainment werden, vielleicht möchten einige aber auch furioses Scheitern miterleben. Oder? Gibt man fast neunzig Tacken aus, um Schadenfreude auszuleben? Nicht wirklich.


    Warum bin ich eigentlich hier?
    Ich fand das irre, mit welchem Selbstbewusstsein und welcher Chuzpe dieser Typ damals für sich beansprucht hat, ein Popstar zu sein, obwohl er gerade bei Take That ausgeschieden war - I couldn't care less - und mit einer Coverversion - George Michaels "Freedom" - als erster Single auch nicht gerade das Rad neu erfand. Dann hat er es, wie man so schön sagt, allen gezeigt, hat mit drei Alben kurz nacheinander die Charts abgeräumt und vor Millionen Menschen gespielt, darunter auch vor mir, gegen Ende der Neunziger im Berliner Olympiastadion, das zweimal nacheinander fast ausverkauft war - etwas, das ihm heute nicht mehr gelingen würde, aber die zwanzigtausend Menschen fassende Waldbühne ist immerhin an zwei Abenden nacheinander bis auf den letzten Platz besetzt. Seinerzeit liefen unaufhörlich Werbespots auf den gigantischen Videowänden, bevor es losging, der Aufbau war riesig, was die fade, uninspirierte und heruntergerotzte Show umso unerträglicher machte. War das ein beschissener Abend! Okay, Williams zog sich zu diesem Zeitpunkt bereits alles rein, was man so kriegen konnte, aber etwas ähnlich trauriges habe ich nur erlebt, als ich dem kurz vor der Reha-Einlieferung stehenden Billie Joe Armstrong bei einem der letzten Green Day-Konzerte zuschauen musste, die vor dem Tourabbruch damals - so um 2012 herum muss das gewesen sein - stattfanden. Armstrong hat sich übrigens aufgerappelt; die aktuelle Tour war sensationell.
    Während meiner Karriere als Party-Plattenaufleger habe ich hin und wieder Williams gespielt, "Rock DJ", natürlich "Angels" und einige der anderen Singles, "Feel" vor allem auf Hochzeiten und Polterabenden. Seine Alben steigen immer noch oben ein, aber Nummer-eins-Singles selbst im UK sind keine mehr zu verzeichnen. Ein Indiz dafür, dass die Platten aus Gründen der Nostalgie gekauft werden, und nicht mehr, weil man ein Fan ist. Hier sind heute, glaube ich, wenige Fans - dafür ist das Durchschnittsalter zu hoch. Was nicht heißt, dass hier nur wenige Leute wären, die ihn nicht auf die eine oder andere Art sehr mögen. Ihn. Nicht so sehr seine Musik. Die inzwischen etwas Beliebiges hat, eigentlich aber immer schon hatte: Der Abend wird das zeigen.


    Warum bin ich eigentlich hier?
    Vielleicht, um Erasure zu sehen. Um 19.15 Uhr kommen Vince Clarke, Andy Bell und zwei Tänzerinnen mit unaussprechlichen spanischen Künstlernamen auf die Bühne, gekleidet in goldene und silberne Bodysuits, aber diese beiden Frauen sind, was den BMI anbetrifft, um die halbe Skala von dem entfernt, was anderthalb Stunden später um Williams herumtanzen wird. Andy Bell trägt eine grüne Paillettenjacke, Clarke im schwarzen Anzug versteckt sich hinter einem Computertisch, hat aber eine Gitarre in der Hand. Halbplayback. Ich habe ungute Erinnerungen an Stücke wie "Oh, L'amour" oder "Sometimes", diesen Bonbonpop, den Clarke nach Depeche Mode und Yazoo komponiert hat, und den bei Polterabenden stark angeschickerte Trauzeuginnen kurz nach Mitternacht hören wollten, warum auch immer. Erasure gehörte zu den ersten Acts, die die Scene im Augen hatten und vergleichsweise begeistert von ihr aufgenommen wurden. Bell trägt dem durch Verhalten, Tanzbewegungen und Ansagen - überwiegend auf Deutsch übrigens - Rechnung, er ist liebenswürdig, lustig, nur ein bisschen tuckig und sehr, sehr höflich, und die Dreiviertelstunde vergeht schnell, denn der Mann kann immer noch singen. Erasure haben verblüffend viele, verblüffend ununterscheidbare Alben produziert, zuletzt im vergangenen Jahr, aber natürlich feiern die Waldbühnenbesucher vor allem "Sometimes". Ist ja auch eine schöne Nummer. Und dieser Auftritt ist ja auch sehr, sehr sympathisch.


    Warum bin ich eigentlich hier?
    Um eine gute Show zu sehen. Ich mag gute Shows. Okay, es gibt Grenzen, ich würde nicht einmal gegen sehr viel Geld zu Helene Fischer, ins Musikantenstadl oder auf ähnliche Veranstaltungen gehen. Andererseits habe ich tatsächlich beim Aprés Ski mal Mickey Krause live gesehen, über dessen Texte und Musik man viel sagen kann, aber der Mann ist auf seine Art gut. Ein Entertainer. Ein Profi.
    Aber - reicht das als Erklärung? Es gibt viele Musiker, die angeblich tolle Shows abliefern, einige davon seit Jahrzehnten, aber wenn ich Namen wie Status Quo, ZZ Top, Eagles oder Supertramp vor dem geistigen Auge sehe, schlafe ich aus Langeweile sofort ein. Eine Show muss schon sehr gut sein, um extrem verstaubte Mucke auszugleichen. Ich habe ZZ Top und die Eagles und - glaube ich zumindest - auch Supertramp in den Achtzigern live gesehen, das war okay. Diese Bands haben sich seither nicht geändert, aber ich schon. Deshalb würde ich nicht mehr hingehen, ganz egal, was die auffahren. Dann lieber zu Muse, Arcade Fire, Editors und The National. Notfalls auch nochmal zu DM, aber die letzten beiden Alben waren ziemlicher Mist - wenn man ehrlich ist, hat sich bei denen auch seit zwanzig Jahren nichts mehr getan.
    Zwei Minuten nach acht. Die vier Kameraleute nehmen ihre Positionen ein, einen davon habe ich beim Erasure-Auftritt beobachtet, wo er gut gelaunt getanzt hat. Neben der Bühne befinden sich hohe Videowände, der Aufbau reicht weit in den Innenraum, in Form eines halben, rotgelben Sterns. Jetzt gibt es doch einen Werbeclip, aber tatsächlich nur einen, für Kapselkaffee. Nicht kaufen, bitte! Ein Roadie schiebt unter dem verhaltenen Jubel des Publikums das letzte bisschen Wasser von den Laufstegen. Das Schlagzeug wird abgedeckt. Das Rund ist voll, ein paar letzte blonde Spätdreißigerinnen in schwarzen Lederjäckchen und High Heels kommen rauchend die Steintreppe heruntergedackelt und wollen sich sehr selbstbewusst auf Plätze setzen, die seit über einer Stunde anderen gehören, hier, im unteren Mittelring, keine dreißig Meter von der Bühne weg. Nee, Mädels, sucht euch mal was weit oben links am Rand. Sie setzen sich auf die Treppe, bis ein Stewart kommt und die meckernden Damen verscheucht. Ich bin mir ziemlich sicher, die Berufsbilder punktgenau erraten zu haben.
    Und dann folgen drei Minuten, die mir peinlich sind. Eine Art Hymne wird gespielt, eine Hymne an Robbie, dazu gibt es den Text in einer Karaokeversion auf der Großbildwand. Ein Mann in den Vierzigern, zwei Meter von mir entfernt, singt tatsächlich mit, diesen Blödsinn zur Melodie der britischen De-facto-Nationalhymne "God Save The Queen". Andererseits ist das auch lustig, selbstironisch und gnadenlos überzogen. Aber alle Zuschauer folgen der Aufforderung, aufzustehen, und keiner wird sich in den nächsten 100 Minuten wieder hinsetzen. Kein einziger.


    Warum bin ich eigentlich hier?
    Eigentlich hat das, was dann folgt, überhaupt kein Konzept, ist ein heilloses Durcheinander, musikalisch wie optisch. Laser und Lichtbatterien, Nebel und Tänzerinnen, unüberschaubar viele Musiker, dazu und immer mittendrin Robbie Fucking Williams, ungeheuer gut gelaunt, sichtbar entspannt, ein bisschen dicker als früher, doppelkinnig, tätowiert bis zur Halskrause. "Ich bin genau da, wo ich hinwollte", wird er im Verlauf des Abends sagen. Dem Größenwahn folgte der Absturz, die Wahrheit liegt - wie so oft - in der Mitte. Inzwischen Familienvater, seit 43 Jahren selbst Sohn - später wird der eigene Vater auf die Bühne geholt, und was sich pathetisch anhört, hat in diesem Kontext eine seltsame Selbstverständlichkeit. Der Mann haut immer noch ordentlich auf die Kacke, aber nicht mehr ohne Rücksicht auf Verluste - das muss man erstmal hinkriegen. Es ist die speckfette Selbstironie, die all das trägt. Und die Professionalität, mit der es vorgetragen wird.
    Ungefähr in der Mitte des Programms gibt es eine längere Ansage, Williams erzählt davon, dass er 1994 in Berlin war, wo er mit "seiner Band" Take That vor dem Brandenburger Tor gespielt hat. Einen anderen Auftritt bei gleicher Gelegenheit hatte George Michael, der ja inzwischen verstorben ist, und Williams berichtet, wie sehr ihn dieser Mann damals beeindruckt hat, woraus vermutlich später dann die Idee wurde, ausgerechnet "Freedom" zu covern, das jetzt gespielt wird, während ein Foto von George Michael das Bühnenbild beherrscht. In diesem Moment, der natürlich auch Show ist, der nichts Spontanes hat, aber so wirkt, hat er mich. Ich mochte weder das Original, noch finde ich die Coverversion besonders berauschend, aber das Wie ist mitreißend. Der Klang ist übrigens ausgezeichnet, die Lautstärke ausreichend hoch - und Williams trifft tatsächlich die meisten Töne.
    Ab da gibt es nur noch Superlative. Das extrem gut gelaunte Publikum macht alles mit, tanzt und singt und bewegt die Arme nach Kommando, Williams lüpft immer wieder den Rock, um seinen Schlüpfer zu zeigen, und ich denke, dass es wirklich cool wäre, wenn er nichts darunter trüge, aber dieser Schritt wäre einer zu weit für den gealterten Robbie Williams, der Vater zweier Kinder ist, die ihn manchmal im Fernsehen sehen, das aber nicht mögen, wie er später berichtet.


    Es endet um viertel elf, nach "Angels" mit "My Way" zum Klavier, aber im Weggehen singt er noch eine Strophe aus "Feel" an, die das Publikum sofort aufgreift, um sie a capella zu beenden. Dann geht das Licht an, dazu wird "(I've Had) The Time Of My Life" gespielt, und es ist zwar nicht wie bei Green Day im Hyde Park, wo kürzlich 60.000 Leute "Bohemian Rhapsody" zur Konserve mitgesungen haben, aber auch hier singen ein paar tausend Leute fröhlich mit, orientieren sich gleichzeitig zum oberen Rand der Schüssel, zockeln gemütlich in Richtung Ausgang. Ich weiß nicht, warum sie hier waren, und ich kann das auch von mir noch immer nicht sagen, aber manchmal muss man vielleicht auch einfach damit aufhören, unnötige Fragen zu stellen.


  • Schöner Bericht. :-)
    Meine Schwester war in München beim Konzert und fand es insgesamt auch ok.
    Auch wenn knapp 90 Minuten ( incl. Zugabe!! ) etwas wenig sind.
    Zudem hatte ihre Freundin bei ebay eine gefälschte Karte ersteigert und kam damit natürlich nicht rein.
    Aber da war sie nicht die Einzige. Scheint nicht gerade selten vorzukommen.........


    Mit der Waldbühne hatte Robbie Williams natürlich eine großartige Kulisse für seinen Auftritt.

  • Tom, was für ein toller Bericht. :anbet Vielen Dank für Deine Gedanken, Beschreibungen und Betrachtungen; schön, dass Du sie mit uns so ausführlich teilst.

    Manche Bücher müssen gekostet werden, manche verschlingt man, und nur einige wenige kaut man und verdaut sie ganz.
    (Tintenherz - Cornelia Funke)

  • Danke, Ihr Lieben. Freut mich! :-)


    Edit: Der Text enthält einen Fehler, die Konzerte im Olympiastadion waren nicht Ende der Neunziger, sondern 2006. Verblüffend. Es kam mir vor, als wäre das deutlich länger her.


    Und dann habe ich gerade noch das hier entdeckt:


    Bands und Musiker, die ich mir ganz sicher nie wieder live ansehen werde


    Das erklärt auch, warum ich vorgestern in der Waldbühne war. Ich wollte dem Mann eine zweite Chance geben. Er hat sie genutzt. Zu den anderen Musikern aus der verlinkten Liste gehe ich aber wirklich nicht mehr. Nie wieder. ;-)