Miss Vee oder Wie man die Welt buchstabiert - Lissa Evans

  • Lissa Evans - Miss Vee oder Wie man die Welt buchstabiert


    Titel: Miss Vee oder Wie man die Welt buchstabiert

    Autor: Lissa Evans

    ISBN-10: 3471351175

    ISBN-13: 978-3471351178

    Originaltitel: Crooked Heart

    Erscheinungsdatum: März 2015

    Verlag: List

    Seiten: 352



    Zum Autor:


    Die Britin Lissa Evans hat den Arztberuf an den Nagel gehängt, um als StandUp-Comedian noch mehr Freude zu bereiten. Dann fing sie an, für die BBC Comedy-Programme zu produzieren, zuerst im Radio, dann im Fernsehen, wofür sie mit einem BAFTA ausgezeichnet wurde. Als Schriftstellerin hat sie bereits fünf Romane veröffentlicht, darunter drei Kinderbücher. Sie lebt mit ihrer Familie in London. (Quelle: Buchumschlag/List Verlag)



    Kurzbeschreibung/Klappentext:


    Nichts im Leben von Vera Sedge verläuft nach Plan. Die 36-Jährige schlittert kopflos von einer hausgemachten Krise in die nächste. Vee ist notorisch pleite, und es ist ihr inzwischen egal, wenn sie auch mal krumme Wege geht. Dann stolpert der zehnjährige Noel in ihr Leben. Er ist mit der Kinderlandverschickung ins kleine St. Albans gekommen. Er ist hochbegabt, altklug und ganz anders als alle Menschen, die Vee bisher kennengelernt hat.

    Noels kühler Kopf und sein großes Herz bringen sie auf eine Idee und beiden einen unverhofften Geldsegen. Auf sich allein gestellt, ist Vee eine Katastrophe. Zusammen mit Noel ist sie ein geniales Team. Ihre Freundschaft wird auf die Probe gestellt, als Noel in London von einem Fliegeralarm überrascht wird. Vee macht sich auf, ihn zu suchen. Mit kühlem Kopf, großem Herz und einer guten Idee schlagen sie sich durch die schwierigen Zeiten. (Quelle: List Verlag)



    Inhalt:


    Die Geschichte beginnt im Jahr 1939, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.

    In Hampstead Heath, einem ländlichen Vorort Londons, lebt der (fast) zehnjährige Waisenjunge Noel bei seiner alten Patentante. Tante Mattie, eigentlich Matilda Simpkin, ehemalige Suffragette und studierte Philosophin, kümmert sich seit dem Tod seiner Eltern um Noel, fördert und unterrichtet den intelligenten und wissbegierigen Jungen. Doch die kluge, gebildete Frau verliert sich immer mehr in einer schwerer Demenz und kann schließlich weder sich selbst noch ihren Patensohn mehr versorgen.


    Noel kümmert sich rührend um seine Mattie, die für den einsamen, elternlosen Jungen das ist, was einer Familie am nächsten kommt. Doch als er sie nicht retten kann, macht er sich große Vorwürfe und leidet sehr unter ihrem Verlust. Schließlich wird er bei entfernten Verwandten Matties untergebracht und wenig später mit der wegen des Kriegsausbruchs anlaufenden Kinderlandverschickung nach St. Albans evakuiert, ein kleines Städtchen nördlich von London.


    Zusammen mit einer ganzen Schulklasse lärmender Kinder strandet Noel in dieser kleinen Stadt in Hertfordshire, die für eine Weile sein Zuhause werden soll. Schließlich sind alle Kinder an Pflegeeltern vermittelt, nur für ihn, den schmächtigen Jungen mit dem Hinkefuß und den Henkelohren, will sich niemand finden, bis schließlich Vera Sedge ein Auge auf ihn wirft - allerdings nicht nur aus reiner Menschenfreundlichkeit, sondern weil sie hofft, sich durch die Aufnahme dieses verkrüppelten und etwas zurückgeblieben wirkenden Jungen Vorteile - und vor allem etwas zusätzliches Einkommen - zu verschaffen.


    Besagte Vera Sedge - verwitwet, Ende dreißig, notorisch pleite, Chaotin und leidgeprüfter Unglücksrabe - lebt zusammen mit ihrer durch einen Unfall verstummten Mutter und ihrem völlig verzogenen Sohn Donald in einer winzigen Wohnung über einem Schrottplatz. Über Wasser hält sie sich und ihre Familie durch Putzjobs und Heimarbeit. Verschuldet und ständig knapp bei Kasse, tüftelt sie allerlei haarsträubende Methoden aus, ihre Finanzlage aufzubessern, scheitert dabei aber stets grandios an ihrem eigenen Chaos und ihrer absoluten Planlosigkeit, und stolpert so von einem Unglück zum nächsten.


    Das ändert sich jedoch, als Noel in ihr Leben tritt. Denn so zurückgeblieben, wie der schweigsame, verstockte Junge nach außen hin wirkt, ist er ganz und gar nicht. Und im Gegensatz zu Vera ist Noel sogar ausgesprochen gut im Planen und Austüfteln. Gemeinsam schaffen es der altkluge kleine Besserwisser und seine beherzte Pflegemutter, der Familie sogar so etwas wie ein geregeltes Einkommen zu bescheren - wobei sich dessen Beschaffung nicht immer in rechtlich und moralisch vertretbarem Rahmen bewegt.


    Doch es dauert eine Weile, bis diese beiden so ungleichen Charaktere zu einem Team werden. Nur zögerlich kriechen sie aus ihren Schutzpanzern und müssen manch harte Bewährungsprobe bestehen. Und erst im Bombenhagel über London zeigt sich, wie sehr sie einander brauchen und was wahre Freundschaft ausmacht.




    Meine Eindrücke/Meinung:


    Ich hatte das Buch bereits hier liegen, als ich im Bucheinband über die Autorin gelesen habe, dass sie als StandUp-Comedian und Comedyschreiberin gearbeitet hat. Deswegen war ich dann doch ziemlich skeptisch, weil das für mich arg nach plumpem Schenkelklopf-Humor klingt, den ich ganz und gar nicht mag. Umso überraschter war ich, als sich das Buch für mich als kleiner Glücksgriff herausgestellt hat.


    Humor hat es trotz vieler ernster, trauriger und anrührender Stellen tatsächlich reichlich, aber eher von der feinen, unaufdringlichen Sorte. Der Schreibstil hat mir unheimlich gut gefallen und mich gleich von der ersten Seite an ins Buch gesogen, er ist flüssig und lebhaft, dabei oft witzig, ohne platt zu sein. Die Autorin versteht es, Szenen anschaulich und farbig zu beschreiben, so dass man sich alles gut vorstellen kann. Ich finde, dass sie eine sehr schöne, bildreiche Sprache hat, und beim Lesen bin ich oft an einzelnen Sätzen und Metaphern hängengeblieben, die wie kleine Edelsteinchen aus dem Text herausblitzen und noch ein zweites Mal gelesen werden wollten.


    "Geoffreys Gesicht schien nur aus Zähnen zu bestehen; wenn er lächelte, war es, als würde jemand einen Klavierdeckel aufklappen."


    Sowas in der Art meine ich. Vielleicht ist es nicht jedermanns Geschmack, aber ich mag solche Formulierungen unheimlich gern und es bereitet mir echtes Vergnügen, solche Sätze zu lesen. Hier klang es auch nicht aufgesetzt oder krampfhaft in den Text gestopft, wie in manch anderem Buch, sondern immer passend und nie übertrieben.


    Was mir an dem Buch aber am meisten Spaß gemacht hat, das waren die Figuren. Die ganze Geschichte ist bevölkert von teils skurrilen, teils liebenswerten Typen, manchmal auch beides auf einmal. Noel mit den Henkelohren und dem Hinkefuß habe ich sofort ins Herz geschlossen, genauso wie Tante Mattie und Vera "Miss Vee" Sedge. Auch jede kleine Nebenfigur - auch wenn sie gar nicht ausführlich beschrieben wird - hat etwas ganz "eigenes", das sie bemerkenswert macht und an das man sich auch lange danach noch erinnert.


    Trotz des eher heiteren Grundtons werden in dem Roman auch ernste Themen angesprochen, Demenz, Einsamkeit, Angst, Armut und Unrecht, hochfliegende Träume und bittere Enttäuschungen, die Entbehrungen der Kriegsjahre, der ewige Kampf, sich irgendwie über Wasser zu halten und nicht unterzugehen. Vor allem mit Vera konnte ich mitfühlen, die gegen Ende eine große Enttäuschung hinnehmen muss und dadurch ziemlich unsanft in der Wirklichkeit landet. Die Autorin lässt ihre Figuren aber trotz aller Tragik nicht in Verzweiflung versinken, sondern gibt ihnen einen unverwüstlichen Überlebenswillen und stets Gelegenheit, neue Hoffnung zu schöpfen.


    Schön zu erleben fand ich, wie sich die Beziehung zwischen Noel und Vera entwickelt, in klitzekleinen, zögerlichen Schritten - manchmal kamen mir die beiden vor wie zwei übervorsichtige Schnecken, die ängstlich ihre Fühler aus dem Haus strecken und sofort wieder zurückziehen, wenn ihnen jemand zu nahe kommt. Beide schleppen jede Menge Altlasten mit sich herum, Schuldgefühle, Wut und seelische Narben, die eine Annäherung zuerst sehr schwer machen. Die beiden sind so völlig unterschiedliche Charaktere, und doch haben sie auch Gemeinsamkeiten. Beides sind sie einsame, verlorene Seelen in einer gerade aus den Fugen geratenden Welt, die sich aneinander festhalten und wieder aufrichten.


    In die Geschichte eingestreut finden sich auch immer wieder die Briefe, die Veras Mutter eifrig an den ehrenwerten Mr. Churchill schreibt, um ihn von der Lage der Nation und der Meinung des gemeinen Volkes zu unterrichten. Themen hat sie reichlich: Beschwerden über das unzumutbare Brot oder faule Hilfspolizisten, das Niederstrecken von feindlichen Fallschirmjägern mittels ihres Bügeleisens, die Entdeckung geheimer Spionage-Nachrichten in der morgendlichen Radiosendung und noch allerhand mehr. Die Brieftexte sind witzig zu lesen und vermitteln gleichzeitig auch ein wenig von dem, was ein Volk in Kriegszeiten bewegt.


    Kritik habe ich eigentlich kaum. Im Mittelteil gibt es einige Längen, da plätschert die Geschichte mal eine Weile etwas lahm vor sich hin. Und ich mochte die Szenen mit Veras Sohn Donald nicht sonderlich, der war mir einfach komplett unsympathisch. Aber er hat am Schluss die schreckliche Hilde abgekriegt, das hat mich mit der Welt wieder versöhnt. Ansonsten fand ich das Buch echt schön und habe es gern gelesen. Der Stil der Autorin hat mir so gut gefallen, dass ich mir wohl auch ihre beiden anderen Romane besorgen werde.

  • So in etwa würde auch meine Punktewertung ausfallen, mir hat es supergut gefallen :)


    Ich habe den Eindruck, dass es generell ziemlich untergegangen ist, bei Ama hat es auch nur mickrige drei Kommentare bekommen. Das hat mich ein wenig gewundert und ich finde es schade, weil es meiner Meinung nach wirklich mehr verdient hätte.

  • :) Sehr schöne Rezension, Bücherdrache :thumbup: - hat mir gleich Lust gemacht, mich nach dem Originalroman umzuschauen. Seltsam, da ist das Hardcover fast die Hälfte billiger als das Taschenbuch:

    Amazon-Link

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • :) Sehr schöne Rezension, Bücherdrache :thumbup: - hat mir gleich Lust gemacht, mich nach dem Originalroman umzuschauen. Seltsam, da ist das Hardcover fast die Hälfte billiger als das Taschenbuch:

    Amazon-Link

    Das scheint mir ein Angebot von einem Amazon-Marketplace-Händler zu sein, rechts in dem Kästchen mit dem Preis sieht man auch, dass da noch 3 Euro Porto dazukommen. So sehr viel billiger als das TB ist es dann gar nicht mehr, wenn man das mit einrechnet. Die gebundene Ausgabe gibt es dann wohl nicht mehr regulär im Handel bzw bei Amazon, sondern offenbar bloß noch in Restexemplaren :gruebel


    Wagst du dich an die englische Ausgabe? Vom Stil der Autorin her würde ich vermuten, dass sich das ganz gut lesen lässt :)

  • Wagst du dich an die englische Ausgabe? Vom Stil der Autorin her würde ich vermuten, dass sich das ganz gut lesen lässt :)

    :gruebel Vielleicht - nach Deiner Rezension scheint Lissa Evans wirklich einen schöner Schreibstil zu haben - auch wenn ich ein wenig skeptisch bei solchen Wortspielen bin, wie Du sie erwähnt hast:


    Die Autorin versteht es, Szenen anschaulich und farbig zu beschreiben, so dass man sich alles gut vorstellen kann. Ich finde, dass sie eine sehr schöne, bildreiche Sprache hat, und beim Lesen bin ich oft an einzelnen Sätzen und Metaphern hängengeblieben, die wie kleine Edelsteinchen aus dem Text herausblitzen und noch ein zweites Mal gelesen werden wollten.


    "Geoffreys Gesicht schien nur aus Zähnen zu bestehen; wenn er lächelte, war es, als würde jemand einen Klavierdeckel aufklappen."


    Sowas in der Art meine ich. Vielleicht ist es nicht jedermanns Geschmack, aber ich mag solche Formulierungen unheimlich gern und es bereitet mir echtes Vergnügen, solche Sätze zu lesen. Hier klang es auch nicht aufgesetzt oder krampfhaft in den Text gestopft, wie in manch anderem Buch, sondern immer passend und nie übertrieben.

    Solche Anspielungen und Vergleiche müssen schon gut in die beschriebene Stimmung passen, damit sie mich nicht stören. Leider lasse ich mich von dergleichen leicht so ablenken, dass meine Gedanken in eine völlig andere Richtung gehen, als die Szene gerade läuft. Das hemmt dann ziemlich den Lesefluss. :gruebel

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • :gruebel Vielleicht - nach Deiner Rezension scheint Lissa Evans wirklich einen schöner Schreibstil zu haben - auch wenn ich ein wenig skeptisch bei solchen Wortspielen bin, wie Du sie erwähnt hast:


    Solche Anspielungen und Vergleiche müssen schon gut in die beschriebene Stimmung passen, damit sie mich nicht stören. Leider lasse ich mich von dergleichen leicht so ablenken, dass meine Gedanken in eine völlig andere Richtung gehen, als die Szene gerade läuft. Das hemmt dann ziemlich den Lesefluss. :gruebel

    Ja, jeder mag eben etwas anderes. Mir hat der Stil unheimlich gut gefallen, aber ich weiß natürlich, dass er deswegen nicht automatisch allen gefällt. Ich hatte ja extra geschrieben, dass es vielleicht nicht jedermanns Geschmack ist ;)


    Ob es deiner ist, weiß ich halt nicht und kann dir deshalb bei der Entscheidung auch leider nicht helfen. Jeder liest eben ein Buch auf seine ganz persönliche Weise. Wenn du solche Formulierungen generell nicht so magst, ist es vielleicht einfach nicht das Richtige für dich. Aber mit einem ausführlichen "Blick ins Buch" solltest du ja sehen können, ob der Stil dir liegt :)


  • :) Ja, den "Blick ins Buch" habe ich gerade gehabt - und es liest sich recht gut. :thumbup:


    Die Bildvergleiche sind nicht so häufig wie in anderen Büchern, die ich schon abgebrochen habe, weil ich solche Assoziationen zu häufig und unpassend fand.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

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