'Der begrabene Riese' - Seiten 001 - 062

  • Ishiguros Schreibstil wirft mich wieder um, wie schon bei anderen Büchern. Allerdings ist dieser Roman anders, was sicher am Thema liegt.


    Das sind schwere Zeiten, die wir hier durchlesen - Krankheit, Tod, Elend, Angst. Die Beschreibungen der Gemeinschaftshöhle/Unterkunft von Axl und Beatrix vermitteln ein genaues Bild.

    Nachdenklich macht mich das Vergessen, das alle befallen hat.Warum vergessen alles das meiste gleich wieder. Es gibt so eigentlich keine Vergangenheit mehr, weil sich niemand erinnert. Ich denke, das wird noch wichtig werden.

    Nur Axl scheint Erinnerungsblitze zu haben, die er aber weder richtig einordnen noch festhalten kann.

    Die Menschen leben nur im Jetzt. Es gibt nichts, was mal jemand getan hat. So kann man auch nicht wirklich Pläne machen. Wäre für mich ganz schlimm;)


    Dass Das Paar doch losgeht, finde ich erstaunlich, so ohne Erinnerung, auch nicht an ihren Sohn. Als sie über die Ebene laufen, gehen sie am Hügel des schlafenden Riesen vorbei, der Romantitel. Dazu wird aber noch nichts weiter gesagt.


    Rätsel über Rätsel:

    An was für eine Vergangenheit erinnert sich Axl bruchstückhaft und warum nur er?

    Was ist das für eine Geschichte mit der Inseln und dem Fährmann?


    Ich bin gespannt, verwirrt und angetan...

  • Auch ich bin sehr gut ins Buch gestartet und war vom angenehmen Schreibstil sehr positiv überrascht. Anders als bei Clare ist es mein erstes Buch von Ishiguro und ich bin länger darum herumgeschlichen. (Typisch Vorurteile gegenüber der Schreibe von Nobelpreisträgern halt. ;))


    Mir hat der Einstieg auch sehr gut gefalle. Ich hatte zunächst Bedenken, ob ich mit der Handlungszeit etwas anfangen kann. Aber diese schönen Beschreibungen und der Vergleich der Landschaft damals und heute liesen mich das sehr schnell vergessen und mit diesen wenigen Worten hat Ishiguro es geschafft, mir ein gutes Bild der damaligen Lebensverhältnisse zu vermitteln. Große Kunst! :thumbup:


    Auffallend ist natürlich das seltsame Vergessen, das sehr schnell thematisiert wird und im 2. Kapitel noch um ein Vielfaches verstärkt wird. Ganz gruselig fand ich die Szene, als zwar alle nach dem verschwundenen Mädchen suchen, dann aber aufgrund des Adlers ganz schnell abgelenkt werden und das Mädchen mehr oder weniger vergessen. Man vergisst doch seine Kinder nicht!


    Dass Das Paar doch losgeht, finde ich erstaunlich, so ohne Erinnerung, auch nicht an ihren Sohn.

    Dass hat mich auch überrascht, vor allem die Unbekümmertheit, mit der die beiden losziehen. Sie wissen ja nicht wohin, wissen nicht mal mehr, wie er aussieht (erkennen sie ihn denn?) und das in diesen Zeiten. Die meisten Fremden werden ja nicht gerade freundlich empfangen.


    Auch gewundert hat mich, dass das Dorf sie losgehen ließ. Und ihnen auch noch einige "wertvolle" Besitztümer mitgegeben hat (warme Decken u. ä.). Aber vielleicht waren sie auch froh, dass sie Beatrice und Axl loswurden. Beim Lesen deines Posts, Clare, ist mir die Idee gekommen, dass sie vielleicht aufgrund der "Erinnerungsblitze" von den anderen gemieden, ja geradezu ausgeschlossen werden. Schließlich sind sie dadurch "anders".


    Das 2. Kapitel zeigt sehr drastisch die Gefahr des fehlenden Erinnerns. Ich nehme an, die beiden werden noch auf die Probe gestellt und müssen sich irgendwann an gute Zeiten und ihre Liebe erinnern. Auch wenn die Szene sehr surreal war - ich fand den Gedanken dahinter, dass Liebe mit positiven Erinnerungen zusammengehört und sogar daran gemessen wird, sehr schön.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Interessant ist der Erzählstil: der unbekannte Erzähler, der über diese längst vergangenen Zeiten berichtet und uns Axl und Beatrice vorstellt.


    Seid ihr schon einmal in solch alten Wohnhöhlen gewesen? Es gibt in Frankreich welche, die mir ähnlich zu sein scheinen wie die, in der die beschriebene Gemeinschaft lebt. Obwohl die Menschen meist nur in den äußeren Bereichen lebten und nicht tief im Berg.

    Eine schlimme Vorstellung, die Kerze, das einzige Licht weggenommen zu bekommen.

    So richtig nachvollziehen kann ich diese Entscheidung der Dorfgemeinschaft nicht.


    Lese-Rina, ich finde es ist eine interessante Idee, dass es gerade die Erinnerungen waren, die die beiden zu Außenseitern gemacht haben.


    Clare, die eigene Vergangenheit zu vergessen ist ja ein wenig so, als würde man die eigene Identität vergessen. Was bleibt vom eigenen Leben, wenn man alles vergisst, was gewesen ist?

    Offenbar erinnern sich die Menschen aber immerhin an Gebräuche und Techniken wie Ackerbau usw. Es scheint mehr ein Vergessen von Personen und der eigenen Handlungen zu sein.

  • Ich kann mich euren Eindrücken anschließen. Ich gebe mich dem wunderbaren Erzählfluss hin, wundere mich und genieße.


    Erstaunt hat mich neben dem Vergessen, dass wir gleich am Anfang dem "Fährmann", also dem Tod, begegnen.

    Ich musste beim Lesen an unseren Trauspruch denken:

    "Lege mich wie einen Schmuck an dein Herz,

    wie einen Siegelring an deinen Finger,

    denn stark wie der Tod ist die Liebe,

    mächtig wie die Gewalten der Tiefe die Leidenschaft." Hohelied 8,6


    So ähnlich hat es der Fährmann beschrieben. Ich wünsche Beatrice und Axl, dass ihre Liebe diese Probe übersteht.


    "Glühende Lohe ist ihr Feuer,

    gealtig ihre Flamme.

    Wasserfluten löschen die Liebe nicht,

    und Ströme ersticken sie nicht." Hohelied 8,7

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Für mich ist es auch das erste Buch des Autors, welches ich lese. Ich habe gestern schon angefangen damit und konnte gleich gar nicht mehr aufhören mit dem Lesen. Ich war in einem richtigen Lesesog und habe gleich die erste zwei Abschnitte auf einmal gelesen. Ich finde das Buch sehr faszinierend. Alles ist so ein wenig mysteriös und wie in einem Märchen. Die Geschichte übt eine seltsame Faszination auf mich aus.

    Allerdings habe ich das Problem, dass ich irgendwie gar keine Lust habe, viel darüber zu diskutieren oder zu überlegen, was dahinter steckt. Ich habe das Bedürfnis, diese wundersame Geschichte einfach nur in Ruhe zu lesen und zu genießen.:)


    Das Einzige über das ich mir im ersten Abschnitt auch mehr Gedanken gemacht habe, ist diese Sache mit der Kerze. Warum wurde sie dem Paar weggenommen? Warum müssen sie die Nacht im Dunkeln verbringen und dürfen keine Kerze mehr bekommen? Das würde mich interessieren.


    Ansonsten bin ich einfach nur gespannt, wie ihre Reise verlaufen wird und ich freue mich schon auf das Weiterlesen.

  • Interessant ist der Erzählstil: der unbekannte Erzähler, der über diese längst vergangenen Zeiten berichtet und uns Axl und Beatrice vorstellt.

    Den "Erzähler" mag ich total gerne. Er nimmt einen wunderbar mit in diese Zeit und die damalige Lebensweise. :thumbup:


    Erstaunt hat mich neben dem Vergessen, dass wir gleich am Anfang dem "Fährmann", also dem Tod, begegnen.

    Der Fährmann! :bonk Klar doch, der Tod! Das habe ich überhaupt nicht geschnallt, lese da viel zu "realistisch". Aber mit der Erklärung gibt das Ganze dann wesentlich mehr Sinn!


    Deswegen bin ich sehr froh, dass wir das Buch gemeinsam lesen, ich würde da viele Sachen einfach "überlesen" und gemeinsam erschließt sich dann doch wesentlich mehr.

    Das Einzige über das ich mir im ersten Abschnitt auch mehr Gedanken gemacht habe, ist diese Sache mit der Kerze. Warum wurde sie dem Paar weggenommen? Warum müssen sie die Nacht im Dunkeln verbringen und dürfen keine Kerze mehr bekommen? Das würde mich interessieren.

    Für mich ist es ein Indiz, dass die beiden von ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Sie selber (und auch viele aus der Gemeinschaft - siehe die redenden Frauen beim Waschen) verstehen ja nicht, warum ihnen keine Kerze zugestanden wird. Ich habe es so gelesen, dass manche (Brandgefahr!?) keine Kerze bekommen, aber Axl sagt ja einmal, selbst Betrunkenen und Familien mit tobenden Kindern wird eine Kerze anvertraut. Einen richtigen "Grund" gibt es wahrscheinlich nicht.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Mir fällt, gerade nach dem, was Regenfisch gesagt hat, immer mehr auf, wie sehr die ganze Geschichte biblischen Gleichnissen ähnelt. Mehr noch als Märchen.


    Ich dachte auch zunächst an Brandgefahr, aber was soll im Inneren einer solchen Wohnhöhle eigentlich brennen? Türen aus Holz waren offenbar eher die Ausnahme und Boden und Wände waren wohl nicht verkleidet, jedenfalls nicht nach der Beschreibung. Natürlich könnten die Decken eines Betts in Brand geraten, aber dieses Feuer hätte keine Chance, sich weiter auszubreiten.


    Vielleicht steht die Kerze im weitesten Sinne für Erleuchtung, für Erkenntnisse. Beides scheint in der Gemeinschaft nicht gerade erwünscht zu sein.


    Ach, und zum Fährmann fällt mir ein, der musste ja auch bezahlt werden, nämlich mit einer Münze unter der Zunge des Verstorbenen. Hier mit Geschichten und einer Prüfung.

  • Ich dachte auch zunächst an Brandgefahr, aber was soll im Inneren einer solchen Wohnhöhle eigentlich brennen? Türen aus Holz waren offenbar eher die Ausnahme und Boden und Wände waren wohl nicht verkleidet, jedenfalls nicht nach der Beschreibung. Natürlich könnten die Decken eines Betts in Brand geraten, aber dieses Feuer hätte keine Chance, sich weiter auszubreiten.

    Ich habe es mir so erklärt: Die Gefahr geht da nicht in erster Linie von den Flammen aus, sondern davon, dass der Rauch nicht abziehen kann. Rauchgas ist tödlich und gefährlicher als Flammen.

    Kinder lieben zunächst ihre Eltern blind, später fangen sie an, diese zu beurteilen, manchmal verzeihen sie ihnen sogar. Oscar Wilde

  • Ich winke mal kurz in eure LR :wave , bei der ich lange überlegt hatte, sie parallel zu Julie Jewels mitzumachen (und daher jetzt auch mal 'reingespitzt habe), mir dann jedoch aufgrund der durchwachsenen Rezis bei amazon nicht so sicher war. Aber nach euren Beschreibungen hier lege ich mir das Buch sofort auf den Onleihe-SuB. Viel Spaß noch!!! :lesend

  • Für mich ist es ein Indiz, dass die beiden von ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Sie selber (und auch viele aus der Gemeinschaft - siehe die redenden Frauen beim Waschen) verstehen ja nicht, warum ihnen keine Kerze zugestanden wird. Ich habe es so gelesen, dass manche (Brandgefahr!?) keine Kerze bekommen, aber Axl sagt ja einmal, selbst Betrunkenen und Familien mit tobenden Kindern wird eine Kerze anvertraut. Einen richtigen "Grund" gibt es wahrscheinlich nicht.

    So lese ich das auch. Ihnen wird quasi das Licht innerhalb der Gemeinschaft entzogen. Für mich sind das alles Symbole für den nahenden Tod. Sie begeben sich auf die letzte Reise, so verstehe ich das. Das Dorf hat sie schon aufgegeben.

    Wahrscheinlich liege ich total falsch.:lache

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Vielleicht steht die Kerze im weitesten Sinne für Erleuchtung, für Erkenntnisse. Beides scheint in der Gemeinschaft nicht gerade erwünscht zu sein.

    Das ist auch eine gute Idee. Dafür spricht auch, dass die beiden sich ja auch noch an die Vergangenheit erinnern. Das scheint die Leute im Dorf ja zu stören. Außerdem sind sie ehrliche und aufrechte Personen, die standhaft ihren Weg gehen.



    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Ich winke mal kurz in eure LR , bei der ich lange überlegt hatte, sie parallel zu Julie Jewels mitzumachen (und daher jetzt auch mal 'reingespitzt habe), mir dann jedoch aufgrund der durchwachsenen Rezis bei amazon nicht so sicher war. Aber nach euren Beschreibungen hier lege ich mir das Buch sofort auf den Onleihe-SuB. Viel Spaß noch!!!

    Danke! Der Inhalt ist "mystisch" und ich wollte erst auch nicht mitlesen. Das ist nicht so meins. Jetzt bin ich aber froh.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Das ist auch eine gute Idee. Dafür spricht auch, dass die beiden sich ja auch noch an die Vergangenheit erinnern. Das scheint die Leute im Dorf ja zu stören. Außerdem sind sie ehrliche und aufrechte Personen, die standhaft ihren Weg gehen.

    Na ja, so richtig erinnern sie sich auch nicht an die Vergangenheit, obwohl ja bei Axl einzelne Erinnerungen zu kommen scheinen. Sie wissen nicht mehr genau, wie sie sich kennen lernten, wie ihr Sohn geboren wurde, ja,an sein Gesicht.

    Sie scheinen die Ältesten im Dorf zu sein, aber wurde ihnen deshalb die Kerze entzogen? Vielleicht haben sie ja auch etwas getan, an das sie sich nicht erinnern und an das sich mittlerweile auch niemand anderes mehr erinnert:gruebel

  • Danke! Der Inhalt ist "mystisch" und ich wollte erst auch nicht mitlesen. Das ist nicht so meins. Jetzt bin ich aber froh.


    Normalerweise ist das auch nicht so meins, daher die Skepsis. Aber manchmal ist es dann doch irgendwie stimmig... :wow Die ersten 24 Seiten haben mir jedenfalls gefallen und Lust auf mehr gemacht!


    (Ja, das Buch hat sich mittlerweile heimlich auf meinen Reader geschlichen :lache und mir zugeraunt, dass der angebrochene Krimi auch noch warten kann. :wave  Saiya , trägst du mich bitte noch mit in die LR ein? :knuddel1)

  • Ach, ich weiß nicht so recht.

    Warum sollten dann, mangels der gemeinsamen, schönsten Erinnerung, Mann und Frau getrennt werden?

    Weil es den weinigsten Paaren gegönnt ist, zur gleichzeitig zu sterben. Der Mann der alten Frau starb und sie wollte/musste weiterleben, hadert aber natürlich mit dem Tod ihres Mannes. Sehr schön finde ich, dass sie mit ihren Kaninchen dem Tod auch etwas Unbehagen zufügt und ihn sogar verfolgt. Er bekommt dadurch etwas Menschliches.

    Der Fährmann bringt nur die Paare gemeinsam an das andere Ufer, deren Liebe stark genug ist.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Na ja, so richtig erinnern sie sich auch nicht an die Vergangenheit, obwohl ja bei Axl einzelne Erinnerungen zu kommen scheinen. Sie wissen nicht mehr genau, wie sie sich kennen lernten, wie ihr Sohn geboren wurde, ja,an sein Gesicht.

    Richtig erinnern sie sich nicht, das stimmt. Aber wenigstens ist ihnen bewusst, dass sie vergessen.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin