Der Büchereulen-Adventskalender 2018

  • Der 21. Dezember von rienchen



    Das Internet ist ein großer Misthaufen, in dem man allerdings auch kleine Schätze und Perlen finden kann. *


    *Joseph Weizenbaum, Informatiker


    Normalerweise schreibe ich für diesen wunderbaren Kalender immer eine Geschichte über das, was mich im vergangenen Jahr besonders bewegt hat. Über kleine Alltagsbegegnungen, Freundschaften, skurrile Ereignisse. Ein paar Ideen gab es,


    da war dieser harmlose, schlafende Obdachlose, der von Sicherheitsbeamten aus der vollen U- Bahn getragen wurde, weil sich eine Zugfahrerin durch seine bloße Anwesenheit gestört fühlte. Mit Hunden führte man ihn ab, als sei er ein Schwerverbrecher. Ein paar Fahrgäste protestierten schwach gegen dieses menschenunwürdige Vorgehen. Zwei Stationen weiter war alles wieder vergessen und wir konnten weiter dealenden Typen zugucken, ohne, dass jemand von der Zugsicherheit eingriff.


    Da gab es einen Stromausfall bei uns vor ein paar Wochen. Ein großes Gebiet war betroffen, die gesamte Gegend war wie ausgeknipst. Restaurants, Supermärkte, Cafes – alles dunkel. In unserer Erdgeschosswohnung brannten dutzende Kerzen, und nach und nach traf die halbe Nachbarschaft ein. Eine liebe, alte Dame, die zwei Tage später in eine Seniorenresidenz umziehen wollte und mit den Nerven völlig am Ende war, weil sie in ihren Umzugskartons weder Streichhölzer, noch Kerzen, noch Taschenlampe fand und wie irre durch die dunkle Wohnung taperte, immer die Ereignisse des zweiten Weltkrieges vor Augen, den sie als Kind miterlebte. Unser Nachbar von nebenan, der sich Batterien borgen wollte, dann einfach mal fast zwei Stunden blieb, mit den Kindern Back Gammon spielte und Verschwörungstherorien verbreitete. „Die da oben wollen uns vorbereiten auf das, was da kommt.“ Wie sich nach einer Stunde herausstellte, hatte er tatsächlich einfach Angst im Dunkeln. Wir hatten Kekse und lauwarmen Tee auf einem Stövchen. Als das Licht wieder anging, verabschiedete er sich ein bisschen verschämt.


    Da gab es einige schöne, zwischenmenschliche Begegnungen, die mir viel bedeutet haben. Zum Beispiel gestern Abend, da habe ich zum ersten Mal für jemanden gekocht. Und es hat ihm geschmeckt. Es hat sich wie ein Fundament angefühlt und ich weiß, dass wir das so oft wie möglich wiederholen wollen. Es gibt nichts Schöneres.


    All das wäre es wert gewesen, eine Geschichte daraus zu stricken, was Dystopisches, Sarkastisches, Lustiges, Trauriges, Herzerwärmendes.


    Dann aber kam Jens Büchner dazwischen. Wer? Ein Mann namens Jens Büchner, den ich nicht kenne, irgendein Prominenter, dessen Name mir nichts sagt, der unvorhergesehen gestorben ist, was viele Menschen betroffen gemacht hat. Ein Freund (ja, ein richtiger Freund, den ich seit der Grundschulzeit kenne) fragte auf seiner Facebookseite:


    Wer ist eigentlich dieser Jens Büchner, um den hier alle trauern? Hat der irgendwas geleistet?


    Im Sommer dieses Jahres saß ich auf einem Elternabend, den ich nie vergessen werde. In der Mitte des Raumes brannte eine Kerze, weil die Mutter einer Mitschülerin plötzlich verstorben war. Bis auf die üblichen Small Talk – Konversationen hatten ich - und kaum ein anderes Elternteil - Kontakt mit ihr gehabt, aber wir hatten uns immer freundlich und nett gegrüßt. An diesem Abend saßen Menschen dort, die sonst ziemlich anstrengend sein können und jede Diskussion bis zum bitteren Ende führen, und heulten Rotz und Wasser. Ein Vater, mit dem mich nichts verbindet, hielt und drückte meine Hand und ich war dankbar dafür, weil kein Kind der Welt es verdient hat, dass seine Mutter so jung stirbt. Das ist verdammt nochmal ungerecht. Für einen Moment war einfach mal Stille, jeder von uns hielt inne und nahm sich selbst nicht zu wichtig. Und natürlich ging es dann am nächsten Elternabend wieder weiter mit blöden, unwichtigen Streitereien und Diskussionen, aber plötzlich sehe ich zum Beispiel diesen einen Vater mit ganz anderen Augen. Etwas hat sich in der Klassenelterngemeinschaft verändert.


    Ich habe also keine Ahnung, wer dieser Jens Büchner war, aber ich musste an zwei Mitglieder dieses Forums denken, die in diesem Jahr verstorben sind. Ich kannte sie nicht, nur durch Beiträge im Forum und ein paar persönliche Nachrichten. Mit einem verband mich ein langer E - Mail Kontakt und eines der schönsten Geschenke, die ich besitze, ist eine PDF - Datei mit einer persönlichen Widmung von ihm. Ein paar ausgedruckte DIN A4-Seiten in meinem Bücherregal von einem Menschen, den ich nie persönlich getroffen habe und den ich trotzdem sehr mochte. Gesagt habe ich ihm das nie, vielleicht war das aber auch nicht nötig. Trotzdem – warum habe ich das nie einfach getan?


    Die andere machte auf mich einen offenen, herzlichen, fröhlichen Eindruck, so dass ich sagen kann: ja, es hat mich sehr betroffen und traurig gemacht, auch wenn das nun mal so ist im Leben und es jeden Tag passiert, dass Menschen sterben. Und ich habe mir vorgestellt, mein Facebook-Freund hätte mich wegen meiner offen ausgedrückten Anteilnahme angegriffen.


    Wenn Menschen um einen unbekannten Jens Büchner trauern, wenn sie Empathie mit seiner Familie und seinen Freunden empfinden, ist das nicht auch eine „Leistung“, die diese Person erbracht hat?


    Ja, an dieser Stelle gibt es sonst immer eine Geschichte, und ich hoffe, Ihr nehmt es mir nicht übel, dass es diesmal nicht so ist. Und leider ist auch die Geschichte des letzten Jahres auch noch sehr aktuell.


    Es sollte nicht rührselig werden, ist es jetzt aber doch. Wir denken immer, wir haben genug Zeit, um Dinge zu sagen, die wir schon immer mal sagen wollten, und dann haben wir sie vielleicht doch nicht mehr. Wer weiß das schon. Für alle, die sich angesprochen fühlen möchten:


    Es ist schön, dass es Euch gibt - mit Euren offenen Ohren. Dass es hier in meinem Regal Bücher mit und ohne persönliche Widmungen gibt, die ich wie Schätze hüte. Dass ich mit einigen von Euch schon mal einen gehoben habe und einem von Euch Geld für eine Taxifahrt durchs nächtliche Berlin schulde. Ich meine, es waren acht Euro fünfzig. Vielleicht kann ich mich mal revanchieren. Ich möchte mich für viele Dinge aus den vergangenen Jahren bedanken - für Weihnachtskarten, Teepakete und liebe Worte zum Geburtstag. Wie schön, dass hier in meinem Garten seit einigen Jahren ein Pflaumenbäumchen aus Leipzig wächst, von einer Eule, die ich nie gesehen habe und die trotzdem da ist. In diesem Jahr war trotz der Rekordhitze die erste Pflaume dran. Vielleicht lernen wir uns irgendwann kennen.


    Ich mag das alles sehr.


    Danke.


    Frohe Weihnachten, liebe Büchereulen.

  • Der 22. Dezember von Tom



    Die letzte Show (Rock. End. Roll.)


    Rollo sah mitleiderregend aus, wie er da einsam im fahl-orangegelben Schein einer Straßenlaterne stand, der einzigen in Schlork, einem Dreihundert-Seelen-Nest im Nirgendwo aus südöstlichem Thüringen, westlichem Sachsen und dem Frankenland. Die Straßenlaterne befand sich vor einem Gebäude, an dessen Fassade der Schriftzug "Hotel Kaminski" zu lesen war, in fleckig-dunkelgrauer Schrift auf einem hellgrauen Metallschild, das zwischen den Fenstern des ersten und zweiten Stocks vor sich hin rostete. Es war selbst nicht beleuchtet, weil es in dieser Gegend kein Laufpublikum gab, das es bei Dunkelheit anzulocken galt. Das Hotel Kaminski hatte für seine acht Gästezimmer irgendwann - vermutlich kurz nach der Wende - einen Stern erkämpft und war dann vergessen worden. Es verdiente nicht einmal diesen einen Stern, höchstens einen Mond, vielleicht auch nur einen Asteroiden. Die Zimmer rochen schlimm nach asbestdachpappigem Osten, die Matratzen bogen sich bis zum Erdmittelpunkt durch, und der Unterschied zwischen warmem und kaltem Leitungswasser betrug höchstens zwei Grad Celsius. Einmal im Jahr, wenn das Schlorker Apfelweinherbstfest gefeiert wurde, war das Hotel Kaminski ausgebucht, wie man uns erzählt hatte. Immerhin hatten wir es von gestern auf heute zur Hälfte ausgelastet. Es gehörte zu den besseren Unterkünften der letzten zwei Wochen. Wenn auf dem Tourzettel in der Spalte "Unterkunft" das Wörtchen "privat" zu finden war, musste man mit dem Schlimmsten rechnen - und bekam es auch. Das Hotel Kaminski war im Vergleich dazu nachgerade komfortabel.


    Rollo stand im Schneeregen, der im morgendlichen Dämmerlicht wirkte, als würden lauter sterbende Fluginsekten vom Himmel fallen, die taumelnd gegen ihr bevorstehendes Ende ankämpften. Ein leises Klatschen erklang, wenn die dicken, matschigen Flocken auf dem blassroten Metall landeten. Rollo war unser Tourbus, ein in seinem Baujahr, also 1984, noch dunkelroter Fiat Ducato 280, dessen Kilometerzähler schon zweimal genullt hatte. Es kam einem Wunder gleich, dass die Kiste überhaupt noch fuhr, und zwar zuverlässig und nahezu wartungsfrei; sie brauchte alle vierhundert Kilometer etwas Benzin, alle tausend einen Liter Öl und alle zwei Jahre neue Reifen und Wischerblätter, das war's. An diesem Morgen würde uns Rollo zum letzten Gig unserer kurzen, spätherbstlichen Tour bringen, einem fünfzehn Tage langen Trip durch Provinznester wie dieses Schlork, das, genau wie sein verblüffendes Hotel, zu den besseren Locations gehört hatte. Ungefähr tausend Leute hatten uns auf der Tour insgesamt gesehen, an einigen Abenden nur zwanzig oder dreißig, aber gestern, im "Mehrzweckhaus Schlork", über hundert.

    Und sie hatten es gemocht.


    Greta stand neben Rollo, mit dem Rücken gegen die Laterne gelehnt. Sie hatte sich die Kapuze ihrer Regenjacke weit ins Gesicht gezogen, und rauchte hastig - im Dunkel des Stofflochs waren abwechselnd ein Glühpunkt oder waagerechte Qualmkegel zu sehen. Früher hatten wir alle wie die Weltmeister geraucht, dann hatte Wouter, unser holländischer Drummer, den wir Walter nannten, seine Tochter bekommen und als erster aufgehört. Frederick hatte irgendwann die Zugaben nicht mehr durchgehalten und war zweimal nach den Sets backstage zusammengebrochen, mit akuter Atemnot und hochfrequent pochender Pumpe. Ich hatte die Sache beendet, als ich mit Jen zusammengekommen war, die mich zwar liebte, wie sie sagte, aber nicht küssen wollte, wenn ich nach Ziggis roch. Das war sechs Jahre her. Jen war längst wieder über alle Berge, aber da man in den meisten Locations nicht mehr rauchen durfte, es im Tourbus aus sozialen Gründen sowieso nicht geboten war und ich ansonsten auch nicht viele Gelegenheiten hatte, war es dabei geblieben. Das mit dem Rauchen und das mit Jen. Das mit Jen war schade, denn ich hatte sie wirklich sehr gemocht. Das mit dem Rauchen war mir egal. Ob ich, von jetzt an gesehen, noch vierzig oder doch nur fünfundzwanzig Jahre hätte, spielte nach meinem Dafürhalten keine Rolle.

    Jen hatte mich verlassen, weil sie nicht damit zurechtkam, dass ich zweimal in der Woche abends zu den Bandproben ging und an fast allen Freitagen und Sonnabenden irgendwo mit der Combo spielte, meistens auf kleinen Bühnen, bei Festen oder Feiern, selten mal als Support von jemandem, den man kennen konnte, wenn man sich auskannte. Es gab die Band da schon seit vierzehn Jahren, und Jen hatte zu mir gesagt: "Das wird doch nichts mehr, Micha."

    "Ich glaube daran, Jen", hatte ich geantwortet, und vermieden, ihr dabei in die Augen zu schauen.

    "Nein, du glaubst, dass du daran glauben musst, mein Bester", schnarrte sie. "Weil alles andere bedeuten würde, sich der Erkenntnis zu beugen, dass es besser wäre, sofort aufzuhören." Jen schnaufte und strich sich gleichzeitig mit dem Zeigefinger über die Schläfe, an deren Rand winzige, goldblonde Haare wuchsen - eine nachdenkliche Geste, die ich gerne an ihr sah, aber jetzt nicht. "Weißt du, als ich fünf war, hatte ich längst herausgefunden, dass der Weihnachtsmann eine Lüge ist, dass die Erwachsenen schauspielern und mogeln und Geheimnisse hüten, um den Mythos für uns Kinder am Leben zu halten. Als ich das verstand, dachte ich, ich dürfte auf keinen Fall durchblicken lassen, dass ich den Bluff durchschaut hatte, weil es das gesamte Fest für alle sinnlos machen würde. Ich glaubte, ich müsste weiter daran glauben, und das habe ich dann getan, bis ich elf war. Meine Mutter ist aus allen Wolken gefallen, als ich ihr erzählt habe, dass ich das Spiel längst durchschaut hatte. Sie schimpfte ungeheuerlich, weil ich ihr eine Menge Arbeit gemacht hatte - und es schon seit Jahren ein viel entspannteres Fest gewesen wäre, ohne die ständige Kulissenschieberei."

    "Mmh", machte ich, weil ich das Gleichnis nicht verstehen wollte. Außerdem glaubte ich ihr die Geschichte nicht ganz. Meine Eltern hatten es geliebt, mir die Existenz des Weihnachtsmanns vorzugaukeln, und sie waren tief enttäuscht, als ich die Wahrheit herausfand. Und sie direkt für beschissene Geschenke verantwortlich machen konnte.

    "Ich verstehe ja, dass dir das viel bedeutet", sagte sie und legte mir den rechten Handrücken an die Wange. "Aber das macht es fast noch schlimmer, weil du deine Leidenschaft in etwas investierst, das auf das Ende einer Sackgasse zurauscht. Das macht mich auch fertig. Du bist ein guter Musiker und machst großartige Auftragsarbeiten." Ich zwinkerte, weil ich nicht hören wollte, wie die Ansprache enden würde. "Aber du bist kein Bandleader, kein Hitkomponist und eigentlich auch keine Rampensau. Das gilt für euch alle. Ihr seid solide Musiker, eure Songs sind nicht schlecht."

    "Aber", soufflierte ich ungewollt.

    "Sie sind eben auch nicht richtig gut."

    Das war vier Jahre her. Ein paar Wochen nach dem Gespräch hatte mich Jen verlassen, um irgendwo auf dem Land ihren Traum zu verwirklichen - eine Werkstatt für Oldtimer. Jen war eine ziemlich geschickte Mechanikerin.


    "Wie heißt das Nest?", fragte Wouter. Er kam aus Eindhoven, lebte aber schon seit dreißig Jahren in Stuttgart. Wenn man ihn fragte, wie er hieß, sagte er längst selbst "Walter".

    Ich kannte die Antwort eigentlich, zog aber doch den Zettel aus der Jackentasche. "Boringen an der Ilse, das ist nur vierzig Kilometer weg von zu Hause." Piko, unser Booker, suchte uns zwar die grausigsten Unterkünfte aus, aber er sorgte dafür, dass wir gut vorbereitet waren. "Etwas mehr als vierhundert Kilometer bis dahin. Wir sollten in vier, fünf Stunden dort sein. Wenn wir sie gefunden haben, fast nur noch Autobahn. Und wir können nach dem Auftritt heimfahren, wenn wir wollen."

    "Die letzte Show", sagte Greta leise an der Fluppe vorbei.

    "Es nennt sich 'Xms Htrs Prty' und findet in einem Gemeindezentrum statt."

    "Warum spielen wir bei einer Christmas-Haters-Party?", fragte Frederick, während er sehnsüchtig dabei zuschaute, wie Greta die Kippe am Laternenmast ausdrückte.

    "Warum spielen wir überhaupt an Heiligabend?", fragte Greta zurück, aber es war klar, dass sie die Antwort nicht hören wollte. Schließlich kannten wir sie alle. Das Festhalten an diesem Projekt hatte uns vereinsamen lassen. Wir lebten für die zwei Stunden auf der Bühne, wir wurden dabei zu anderen, zu besseren, zu anerkannten und bedeutsamen Menschen, und es war sogar egal, wie viele Leute uns zuschauten. Der sprichwörtliche Schalter wurde umgelegt, wenn wir aus den schweißmuffigen Backstage-Räumen ins magere Scheinwerferlicht traten, noch eine halbe Minute mit der Abstimmung kämpften - und dann einfach spielten. Unsere Musik. Das, was seit zwanzig Jahren im Zentrum unserer Träume stand. Und was aus uns eine kleine, emotional unterkühlte Familie ohne weitere Verwandtschaft gemacht hatte, vier Leute, die sonst niemanden hatten, weil selbst Wouters geduldige Frau irgendwann die Segel gestrichen hatte und abgehauen war. Was aber zu einem Gutteil auch daran lag, dass sich Walter schon immer und unverändert auch nach der Hochzeit durch das Weibsvolk vögelte, das sich das gefallen ließ, und das waren nicht wenige. Gestern Abend allerdings hatte er niemanden gefunden; das Weibsvolk von Schlork ließ sich mit niemandem von außerhalb ein, das hatte mir der angesäuselte Bürgermeister höchstpersönlich verraten, aus welchen Gründen auch immer.


    Ich öffnete Rollos Hecktüren, um meinen Trolley zwischen die Instrumente und die Kisten mit dem Merchandising zu schieben. Der Bus wurde von uns als Fünfsitzer verwendet. Direkt hinter der Rückbank begann der Stauraum, der fast bis zur Decke gefüllt war, wenn wir uns auf Tour befanden. Den meisten Platz nahm natürlich Wouters in runden Cases aufbewahrte Schießbude ein, gefolgt von Gretas zwei Gitarren und meinen zwei Bässen. Außerdem schleppten wir Mikrofonständer mit, dazu etwas Kabelage, zwei Monitorboxen für Notfälle, ein großes Case mit jeder Menge Technik-Schnickschnack und, natürlich, unsere Koffer. Und dann waren da die zwei Kisten mit Merch. In der einen Kiste, die immer noch halbvoll war, lagerten Shirts, Basecaps und Aufkleber, und in der anderen Kiste befanden sich ungefähr 300 Exemplare unserer ersten und bislang einzigen CD mit dem Titel "Best Of", die zwar ziemlich gut (weil: auf unsere Kosten) produziert, aber erbärmlich ausgestattet war. Wir waren damals, vor dreizehn Jahren, an eine kleine Plattenfirma geraten, die sich als betrügerisch entpuppt hatte. Es gab keinen Vertrieb, keine Werbung und auch kein Interesse daran, die Alben der zumeist ziemlich schlechten Bands zu verkaufen. Jedenfalls an Musikfreunde. Man verkaufte sie uns. Weil es aber noch teurer geworden wäre, die CDs selbst pressen zu lassen, und weil wir dafür tatsächlich abermals ins Studio gemusst hätten, denn der Firma gehörten die Rechte am Master, kauften wir die zweitausend Stück und versuchten seitdem, sie unserem Publikum aufzuhalsen. Das Album war nicht schlecht, aber der Name war natürlich ironisch gemeint, denn es enthielt einfach alle vierzehn Stücke, die wir damals im Repertoire gehabt hatten. Das zweite Album wollten wir dann "Greatest Hits" oder schlicht "Gold" oder sogar "Platin" nennen, aber dazu war es bisher nicht gekommen. Wir hatten erst gut die Hälfte von "Best Of" verkauft, und damit auch vom wirklich billig hergestellten Booklet, in dem Greta Gerda hieß und Wouter sogar Werner, davon abgesehen waren sechs Songtitel falsch geschrieben. Wenigstens das hätten wir natürlich längst ersetzen können, aber wenn wir nicht probten oder auf der Bühne standen, hielt sich unser Engagement in Grenzen.

    Vielleicht hatte Jen ja doch recht.


    "Schlaf nicht ein", brummte Frederick, aber freundlich, schob mich beiseite und seine Reisetasche auf meinen Trolley. Greta kletterte auf den Beifahrersitz, Drummer und Sänger auf die Rückbank. Obwohl uns der Bus gemeinsam gehörte, fuhr ich meistens. Und auch an diesem ungemütlichen Morgen war auf Rollo Verlass. Der Motor sprang sofort an, sogar die Heizung signalisierte Einsatzbereitschaft, und auf MDR Jump begann gerade "Last Christmas", wofür die Wahrscheinlichkeit zu jeder Uhrzeit an diesem Tag bei nahezu neunzig Prozent lag. Frederick setzte sofort ein; er liebte Kitsch und war eigentlich ein Glam-Rocker. Er konnte wirklich gut singen, hatte aber die Bühnenpräsenz einer gammligen Salatgurke. Nach einer halben Minute summte Greta mit, und am Ende des Stücks grölten wir es alle gemeinsam.

    Aber der magische Moment war gleich wieder vorbei, als das Lied verklang. Wenig später schliefen Wouter und Frederick, und als wir aus dem Datenfunkloch Schlork wieder in digitalisiertere Regionen kamen, war Greta mit ihrem Smartphone beschäftigt. Wir redeten unterwegs sowieso nicht viel.

    Nach einer Stunde hielt ich auf einer Tankstelle. Rollo trank, Greta rauchte, die beiden anderen schliefen weiter - sie würden frühestens gegen Mittag aufwachen. Ich besorgte Kaffee für mich und Greta, außerdem ein paar Croissants.

    "Willst du tauschen?", fragte sie höflich, lächelte aber erleichtert, als ich den Kopf schüttelte. Bevor wir weiterfuhren, checkte ich noch meine Mails der vergangenen Tage. Wieder ziemlich viele Anfragen für Auftragsarbeiten und Studiogigs. Es wurde zwar allmählich weniger, aber die spärlichen Aufträge, die ich zwischen Proben und Gigs annahm, hatten mir einen guten Ruf verschafft. Ein paar Leute wünschten mir frohe Weihnachten, ein paar Leute, die uns irgendwo gesehen hatten, bedankten sich für die netten Abende.

    Am Mittag erwachten die beiden anderen, danach planten wir gemeinsam die drei Sets, die wir zwischen fünf und acht zu spielen hätten, und wir beschlossen, den Abend mit "Last Christmas" enden zu lassen, das wir zwar nicht im Repertoire hatten, das zu spielen aber für uns kein Problem wäre. Wir fuhren bei irgendeinem Lingen von der Autobahn, es schneite jetzt wieder, wovon wir seit Schlork zum Glück verschont geblieben worden waren - Rollo war kein sehr guter Begleiter bei Schnee- und Eisglätte. Nach ein paar Kilometern auf der wenig befahrenen Landstraße hörten wir plötzlich einen heftigen Schlag aus dem Motorraum, der Bus bockte mit einem laut knarrenden Geräusch und ich trat beherzt die Kupplung durch - ich erwartete diesen Augenblick schließlich schon seit Jahren, wie mir klar wurde. Fast beschaulich still war es im Innenraum des Ducato, als er am Straßenrand ausrollte und ich ihn ohne Bremskraftverstärker zum Anhalten bringen musste. Wir stiegen aus, blinzelten in die Schneeflocken, die aus dem hellbrauntrüben Himmel fielen, und betrachteten das Auto, als könnte man allein dadurch die Schadensursache erkennen. Oder, um ehrlicher zu sein, die Todesursache. Keiner von uns hatte auch nur die geringste Ahnung von Fahrzeugmechanik, doch uns allen war klar, dass hier jede Hilfe zu spät käme. Ich sah, dass wir eine schwarze Tröpfelspur im flachen, jungfräulichen Schnee hinterlassen hatten, holte deshalb eine der alten Decken aus dem Laderaum, die wir zwischen unsere Instrumente stopften, und legte sie dort unter den Bus, wo ich die Ölwanne vermutete.

    "Scheiße", sagte Wouter, aber er sah nicht traurig aus. "Man kann dieses Boringen an der Ilse von hier aus vermutlich schon sehen, oder?"

    "Das war's wohl", erklärte Frederick.

    "Wie meinst du das?", fragte Greta. Sie zündete sich eine Fluppe an und musterte unseren Sänger dabei skeptisch.

    "Komm schon, wir alle wissen, was ich meine. Das ist ein verdammtes Zeichen. Rollo gibt auf. Wir sollten das auch tun." Während er das sagte, starrte er die Zigarette zwischen Gretas Lippen an. "Und gib mir auch eine. Nur die eine. Bitte."

    Sie gab seinem Wunsch nach, zum ersten Mal. Frederick rauchte zwei lange Züge und sah dabei so genießerisch aus, als würde er oral befriedigt werden. Dann warf er die halbgerauchte Zigarette in den Schnee und nickte zum endgültigen Abschied.

    "Ihr wollt die Band auflösen?", fragte Wouter, der seinen Oberkörper umklammerte, obwohl er eine dicke Daunenjacke trug. So kalt war es überhaupt nicht.

    "Ich rufe den ADAC", sagte ich, weil ich keinen Beitrag zu dieser Diskussion hatte. Nicht nur die Vernunft sprach dafür, es zu beenden. Alles sprach dafür. Meine drei Musikerkollegen sahen sich erleichtert an, weil endlich etwas zur Sprache gekommen war, das allen schon lange auf der Seele lastete.

    Aber dann wäre die Band auch weg. Ich konnte mir ein Leben ohne die Band nicht vorstellen.

    "Der eine Job noch?", fragte Frederick, und ich konnte sehen, dass die beiden anderen nickten, wobei sie ziemlich entspannt - viel zu entspannt - lächelten. Aber bevor ich mich einmischen konnte, ohne zu wissen, womit ich mich hätte einmischen können, meldete sich der ADAC. "Wenn wir es nach Boringen an der Ilse schaffen", hörte ich von Wouter noch.

    "Fröhliche Weihnachten", sagte die weibliche Stimme am Telefon.

    "Wie man's nimmt", antwortete ich.


    Als eine gute Stunde später der azurblaue und ziemlich beeindruckende Truck vorfuhr, der uns auf seine potent wirkende Abschleppgabel nehmen würde, waren die meisten Dinge schon geregelt. Eigentlich gab es überhaupt nicht viel zu regeln, wie wir ein wenig erschüttert feststellten, wobei ich noch immer nicht wirklich davon überzeugt war, dass wir das Richtige taten. Den Silvestergig - der einzige noch auf dem Buchungsplan - würden wir auch absagen, womit ich zum ersten Mal seit zwanzig Jahren vor der Entscheidung stand, wie und wo ich Silvester verbringen wollen würde. Allein zu Hause? Oder mit Freunden? Aber mit welchen? Und: War diese Entscheidung wirklich klug, richtig und vernünftig? Oder ließen wir uns von den Umständen beeinflussen? Schließlich war Weihnachten, das Fest der Irrationalität.

    Auf der Tür des Trucks stand in silberfarbenen Lettern "Jens Garage".


    Zweihundert Menschen passten ins evangelische Gemeindehaus von Boringen an der Ilse, was für eine protestantische Einrichtung in dieser vatikanfrommen Gegend ein außerordentliches Fassungsvermögen war. Aber es war natürlich nicht die Kirche, die diese etwas blasphemische Sache veranstaltete, sondern eine kleine Eventfirma, die den Raum gemietet hatte. Der Saal war jedenfalls gut gefüllt, zu etwa siebzig Prozent mit mäßig attraktiven Männern jenseits der Vierzig, ein paar jüngeren Typen und relativ wenig potentiellem Futter für unseren holländischen Drummer. Aber rechts von der Bühne stand Jen an einem der Stehtische, trank Punsch aus einem Steingutbecher, wehrte Tanzaufforderungen ab und lächelte gelegentlich zu mir hoch. Ich lächelte zurück und konzentrierte mich wieder auf den Job, was letztlich keine Rolle spielte, denn die Leute hier wollten nur ihrer Einsamkeit entkommen, und es war ihnen egal, was oder wie gut wir spielten. Keiner von ihnen war nach meinem Gefühl ein echter Weihnachtshasser. Sie hassten es nur, an diesem Tag allein zu sein.


    Wir spielten nahezu perfekt, vielleicht sogar so gut wie noch nie vorher. Während ich an meinem Bass herumzupfte, meinen Bandkollegen zusah und zuhörte und ab und zu das Publikum checkte, kam es mir völlig absurd vor, dass wir wenige Stunden vorher beschlossen hatten, dem hier, diesem absolut erhabenen, wunderbaren Geschehen, ein Ende zu setzen und nie wieder - NIE WIEDER - zusammen zu spielen, das Projekt zu beerdigen, die restlichen Exemplare von "Best Of" bei Ebay-Kleinanzeigen zu verticken und nur noch unseren Brotjobs nachzugehen. Die Gesichter der drei anderen strahlten, Greta war eins mit ihrer Gitarre, Frederick sang sich das letzte gesunde Lungenbläschen aus dem Hals und Wouter trommelte, dass es bis nach Eindhoven zu hören war, obwohl eine inzwischen halbleere Kiste Bier neben seiner Schießbude stand.

    "Machst du die Ansage?", fragte Frederick, als wir am Stehtisch bei Jen unsere letzten Pausendrinks nahmen. Ein Spätvierziger kam betont lässig vorbeimarschiert, tätschelte seine Schulter, sagte "Tolle Show, Leute", und Frederick antwortete noch lässiger, aber ohne es betonen zu müssen: "Danke, Mann".

    Ich nickte und starrte Jen an.

    Nach dem vorletzten Song nahm ich mir das Mikrofon.

    "Fröhlichstmögliche Weihnachten", sagte ich. Ein paar Gäste protestierten zaghaft, die anderen klatschten oder lachten. "Wir spielen jetzt unseren letzten Song." Mäßiges Gemurre. "Danach kommt DJ ..." - ich warf einen Blick auf die Setlist, die auf dem Bühnenboden klebte, und auf der irgendwo der Name stand - " ... äh ... DJ Aknenarbe. Kann das sein?" Ich schaute zu Wouter, der nickte, aber Wouter war besoffen. "Jedenfalls. Das hier ist unser letztes Lied, wir haben es noch nie gespielt, und es ist eine Coverversion. Aber es ist wirklich unser allerletztes Lied, denn wir haben heute beschlossen, die Band aufzulösen."

    Ich wollte nicht wahrnehmen, wie das Publikum auf diese Ansage reagierte, sondern zählte sofort an.


    "Wir könnten bei mir noch ein bisschen Weihnachten feiern", sagte Jen zu mir, als ich den Bass ins Case legte. Ich brummte freundlich-zustimmend und zwinkerte ihr zu. "Und vielleicht Silvester", ergänzte sie. Das war Angebot und Frage zugleich. Ich nickte, lächelte, aus vielen Gründen - und nicht zuletzt, weil mir eine Entscheidung abgenommen worden war. Auf dem Weg nach draußen, einen Arm um ihre Hüfte gelegt, dachte ich darüber nach, wieder mit dem Rauchen anzufangen.

  • Der 23. Dezember von R. Bote



    Ein Traum von Weihnachten


    Die Bahn hatte sich wirklich Mühe gegeben, die Bahnhofshalle weihnachtlich zu schmücken. Ein künstlicher Christbaum, grüne Girlanden, Tannengrün nachempfunden, unter der Decke, alles da. Aber weihnachtliche Stimmung konnte schon deshalb nicht aufkommen, weil niemand Zeit hatte für Besinnlichkeit: Nicht die Pendler, die über verspätete Züge fluchten und von Bahnsteig zu Bahnsteig oder zu den U-Bahnen hasteten, und nicht die Verkäufer in den Läden und Imbissen, die zu Weihnachtsmusik in Endlosschleifen auf viel zu engem Raum viel zu viele Leute auf einmal bedienen mussten.

    Nike wusste eigentlich gar nicht, warum sie sich das antat. Sie hatte einfach nichts Besseres zu tun, und ob sie jetzt hier abhing oder woanders, kam am Ende aufs Gleiche raus. Es war der letzte Schultag vor den Weihnachtsferien, allerdings schon früher Abend. Denise, Nikes beste Freundin, war gleich nach Schulschluss abgedampft in den Weihnachtsurlaub, ihre Eltern hatten sie extra von der Schule abgeholt, um Zeit zu sparen. Auch von den daheim Gebliebenen hatte niemand Zeit, Weihnachtsstress, wohin Nike auch schaute. Fiel denn Weihnachten jedes Jahr vom Himmel, dass die Leute alle Besorgungen auf den letzten Drücker machen mussten? Gut, Nike hatte es da leichter, sie beschenkte nur ihre Mutter und Denise; ihren Vater hatte sie nie kennengelernt, und zu ihren Großeltern hatte sie keinen Kontakt, weil ihre Mutter sich mit denen schon vor ihrer Geburt verkracht hatte.

    Nike hockte auf einem länglichen Poller auf dem Bahnhofsvorplatz. Mäßig interessiert beobachtete sie die Leute, die vom Bahnhof zum Königswall hetzten und weiter die Treppen zwischen Bibliothek und Fußballmuseum hoch zur Kampstraße und zur Einkaufsmeile am Westenhellweg. Sie langweilte sich, hatte aber auch keine Lust, nach Hause zu gehen. Da war es auch nicht besser, denn die Praxis für medizinische Massagen ihrer Mutter war direkt nebenan und nur halb von der Wohnung getrennt. Wenn das Wartezimmer voll war und dann auch noch eine bestimmte, immer gestresste Sprechstundenhilfe Dienst tat, zog Nike es vor, nicht zu Hause zu sein.

    „Alles o. k. bei dir?“ Die Stimme übertönte kaum den allgemeinen Lärm auf dem Bahnhofsvorplatz, und im ersten Moment fühlte Nike sich auch nicht angesprochen. Dann schaute sie doch auf – vielleicht passierte in der Nähe etwas, das ihre Langeweile unterbrach?

    Direkt vor ihr stand ein Junge, sie schätzte ihn auf 14 oder 15, also ein oder zwei Jahre älter als sie selbst. Auf den ersten Blick war nichts Ungewöhnliches an ihm, er war durchschnittlich groß, hatte eine normale Figur und braune Haare, die kurz, aber nicht raspelkurz geschnitten waren. Bekleidet war er mit Jeans, Anorak und Turnschuhen. Das einzig Auffällige an ihm war die Tatsache, dass er Nike gerade angesprochen hatte.

    Für einen Moment war Nike verwirrt. Machte sie so einen verlorenen und hilfsbedürftigen Eindruck? Gut, sie hockte auf dem Bahnhofsvorplatz wie bestellt und nicht abgeholt, aber sie sah doch ordentlich aus. Ihre Klamotten waren sauber, die langen, blonden Haare ordentlich gekämmt, sie war nicht betrunken, und sie hatte auch nicht dagesessen, als käme sie aus eigener Kraft nicht mehr hoch. Wie also kam der Typ darauf, dass sie Hilfe brauchte?

    Sie hätte ihm versichern können, dass alles in Ordnung war. Sie hätte ihm auch sagen können, dass er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern sollte. Aber sie hatte Zeit und war dankbar für jedes Ereignis, das sie für einen Moment ablenkte. Wenn sich herausstellte, dass die Frage nur der Beginn einer blöden Anmache war, dann konnte sie der Sache immer noch ein Ende machen.

    „Du sitzt hier schon eine halbe Ewigkeit“, erklärte der Junge, als sie ihn fragte, wie er darauf kam, dass bei ihr irgendwas nicht stimmen könnte. „Viel länger, als die Meisten auf irgendjemanden warten würden, der nicht pünktlich zu einer Verabredung kommt, jedenfalls. Und ich hab auch nichts gehört, dass sich ein Zug zwei oder drei Stunden verspätet.“ „Ich könnte ja auf jemanden warten, der umsteigen muss“, gab Nike zurück, obwohl sie die Erklärung des Jungen durchaus einleuchtend fand. „Also so, dass er woanders den Anschluss verpasst hat und deshalb hier mit einem späteren Zug ankommt.“ „Wäre natürlich möglich“, musste der Junge zugeben. „Aber so sieht es nicht aus. Du telefonierst nicht, schreibst keine WhatsApp, gehst auch nicht rein, um zu gucken, ob sich bei den Zügen was ändert, wie es jemand machen würde, der auf einen anderen wartet. Du hockst einfach nur hier und starrst Löcher in die Luft.“

    Scharf beobachtet! Aber das bedeutete auch... „Stalkst du mich?“ „Ich würd’s nicht so nennen“, verwahrte sich der Junge. „Aber ich beobachte dich schon eine ganze Weile.“ „Auch nichts Besseres zu tun, wie?“, folgerte Nike. „Ich find’s einfach schade, dass die Leute so wenig Zeit haben“, antwortete der Junge. „Schau sie dir an, alle am Rennen, kein Blick nach rechts und links, und Gesichter wie sieben Monate Regenwetter.“ „Ist doch immer so vor Weihnachten.“ Nike zuckte mit den Schultern. „Ich bin froh, dass ich das nicht mitmachen muss.“ „Na ja“, auch der Junge zuckte mit den Schultern. „ich geh dann wohl mal besser. Bei dir ist ja alles o. k.“

    Damit wandte er sich ab, und Nike schaute ihm verwirrt hinterher. Komische Type, ging es ihr durch den Kopf. Sie konnte sein Auftreten absolut nicht einordnen, aber ein unsympathischer Zeitgenosse schien er nicht zu sein. Vielleicht wäre es doch ganz schön gewesen, wenn er noch ein bisschen geblieben wäre zum Quatschen – willkommen zurück, Langeweile!

    Aber der unbekannte Junge beschäftigte sie weiter, auch wenn er nicht mehr da war. Immer wieder überlegte sie, was er wirklich von ihr gewollt hatte, ob sie tatsächlich irgendwie hilfsbedürftig ausgesehen oder ob er schlicht Gesellschaft gesucht hatte. Wenn er mitbekommen hatte, wie lange sie schon auf dem Poller saß, und auch wusste, dass sie offenbar auf niemanden wartete, dann musste er viel Zeit damit verbracht haben, sie zu beobachten. Sie wunderte sich selbst, dass ihr der Gedanke nicht unangenehm war, und ein bisschen ärgerte sie sich sogar, dass sie ihm offenbar das Gefühl gegeben hatte, zu stören.

    Selbst im Schlaf ließ er sie nicht los, denn als sie in ihrem Traum auf einem wunderschönen Pferd an einen einsamen Strand mit goldenem Sand ritt, in den Ausläufern der Wellen abstieg und in ein kristallklares Meer eintauchte, da saß er ein kleines Stück entfernt unter einer Palme und beobachtete sie. Als sie auftauchte, lächelte er ihr zu, und sie winkte.

    Der Traum war toll, so schön hatte Nike schon lange nicht mehr geträumt, und er hielt die ganze Nacht an. Aber er verwirrte sie auch, und nach dem Aufwachen fragte sie sich, warum der Junge vom Bahnhof sie die ganze Zeit begleitet hatte. Sie hatte gelesen, wie das mit den Träumen funktionierte: Das Unterbewusstsein verarbeitete damit Erfahrungen, Erinnerungen und Gefühle, auch manche, an die der Träumende sich gar nicht bewusst entsinnen konnte. Aber welche Gefühle hatte es noch mal hochgeholt, dass der Junge in ihrem Traum aufgetaucht war? Es war doch nur eine flüchtige Begegnung gewesen, wie jeder sie ungezählte Male erlebte! Eine Begegnung, die sie bestimmt in ein paar Tagen völlig vergessen haben würde!

    Doch so einfach war die Sachlage nicht. Ein bisschen war Nike selbst schuld, sie hätte schließlich nicht am ersten Ferientag wieder am Bahnhof abhängen müssen. Aber irgendwie hatte sie es magisch dorthin gezogen – hatte sie insgeheim gehofft, den Jungen wiederzutreffen? Wenn ja, dann wurde ihr Wunsch prompt erfüllt, denn sie saß erst seit ein paar Minuten auf dem gleichen Poller wie am Vortag, als er wieder vor ihr stand. Sie freute sich darüber, also musste sie wohl tatsächlich darauf gehofft haben, warum auch immer.

    „Hi“, begrüßte er sie. Die Frage, ob alles o. k. war, sparte er sich. Jetzt wusste er ja, dass sie einfach nur abhing. „Hi“, antwortete Nike. „Wird das jetzt zu einer regelmäßigen Einrichtung?“ „An mir soll’s nicht scheitern“, antwortete der Junge. „Übrigens, ich bin Bene. Eigentlich Benedikt, aber da kommt man zu sehr aus der Puste.“ „Nike“, stellte auch Nike sich vor. „Na ja, im Moment ist bei mir mal so rein gar nichts los, meine beste Freundin ist in Urlaub... Aber was machst du eigentlich jeden Tag hier?“ „Wenn ich dir das erzähle, glaubst du mir eh nicht“, behauptete Bene. „Erzähl’s mir trotzdem!“, bat Nike. Das hörte sich so geheimnisvoll an, und wenn er sie auf den Arm nahm, dann bekam sie vielleicht wenigstens eine unterhaltsame Geschichte zu hören.

    Bene zuckte mit den Schultern. „Also gut“, entschied er. „Sei ganz ehrlich: Du hast heute Nacht von einem Pferd geträumt, vom Strand und vom Meer, stimmt’s?“

    Nike hätte es nicht leugnen können. Die Frage kam zu unerwartet, und sie war zu verblüfft, dass er erraten hatte, was sie geträumt hatte. Ihr Gesicht verriet sie, ehe sie sich überlegen konnte, ob sie flunkern oder die Antwort verweigern sollte. „Woher weißt du...?“ Sie hatte von Traumdeutern gehört, Leuten, die aus Träumen Rückschlüsse auf das Leben eines Menschen ziehen konnten oder zumindest behaupteten, dass sie es konnten, aber die konnten nur das deuten, was der Träumende ihnen erzählte. Aber Nike hatte ihm nicht erzählt, wovon sie in der letzten Nacht geträumt hätte, es nicht einmal angedeutet! Trotzdem wusste er es, viel zu genau, als dass er es einfach erraten haben konnte.

    „Ich hab es dir eingegeben“, erklärte Bene schlicht. „Nicht bis ins Detail, das wäre auf jeden Fall zu aufwendig, und vielleicht kann ich es auch gar nicht, aber zumindest die Richtung.“

    Nike glotzte ihn an. Hatte sie eben gedacht, noch besser könnte es nicht mehr kommen? Tja, da hatte sie sich wohl gründlich geirrt!

    Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie ihre Stimme wiederfand, und das auch nur so halb. „Wie...?“ Bene zuckte mit den Schultern. „Ich schaue den Leuten in die Augen und stelle mir dabei vor, wie sie etwas Bestimmtes träumen, und das träumen sie dann tatsächlich. Ich weiß weder, warum ich das kann, noch wie es genau funktioniert. Es ist einfach da.“ „Krass!“, meinte Nike. Es hörte sich völlig unglaublich an, aber zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie keinen Moment lang das Gefühl, dass er log und sie mit irgendwelchen Taschenspielertricks betrog. „Machst du das oft?“

    „Kaum noch“, gab Bene zu. „Im Kindergarten hab ich es häufiger gemacht, und in der Grundschule auch noch, aber irgendwie will ich nicht allen, die ich kenne, immer wieder in den Träumen rumfummeln. Eigentlich ist das ja was ganz Privates, und vielleicht schadet es auch, wenn man es zu oft macht. Ich weiß nicht, ob du weißt, dass Träume die Art des Unterbewusstseins sind, Erlebnisse zu verarbeiten?“ Nike nickte, zum Zeichen, dass ihr das zumindest in groben Zügen bekannt war. „Vielleicht passiert irgendwas, wenn das Unterbewusstsein zu lange nichts mehr frei verarbeiten kann, weil ich zu oft eingreife.“

    Das leuchtete Nike ein, aber einen Versuch wollte sie trotzdem noch wagen. „Gib mir einen Traum ein und schreib auf, was es ist“, bat sie. „Ich merke mir ganz genau, was ich heute Nacht träume, und morgen Mittag treffen wir uns wieder hier und vergleichen.“

    Bene war einverstanden, und Nike gab ihm Gelegenheit, ihr ausführlich in die Augen zu schauen. Seine waren tiefblau, das fiel ihr jetzt erst auf, und sein Blick hatte nichts Stechendes; ein stechender Blick war in Büchern, die sie gelesen hatte, das Merkmal von Bösewichten gewesen, die in der Lage waren, andere Menschen zu manipulieren.

    Sie fühlte sich nicht manipuliert, obwohl sie wusste, dass Bene genau das tat. Es kam ihr selbst merkwürdig vor, dass sie sich nicht wehrte, und obwohl sie ihn kaum – eigentlich überhaupt nicht – kannte, hatte sie das Gefühl, dass sie ihm vertrauen konnte.

    Diesmal schickte er sie in ihrem – wirklich ihrem? – Traum in eine Berghütte. Draußen dämmerte es, gerade noch war die dicke Schneeschicht draußen auf den Fensterbrettern zu erkennen. Im Kamin flackerte ein Feuer, es war kuschelig warm, leise Weihnachtsmusik war zu hören. Ihre Mutter war da und Denise, sie aßen zusammen und sangen Lieder, im Hintergrund schimmerten bunte Kugeln am Weihnachtsbaum.

    Mitten in diese Gemütlichkeit hinein klopfte es, und als Nike öffnete, stand Bene vor ihr. Sie stutzte, dann fiel sie ihm um den Hals und zog ihn in die Hütte. Sie drückte ihn auf die Couch, setzte sich neben ihn und stellte ihn ihrer Mutter und Denise vor. Der bedeutungsvolle Blick der besten Freundin entging ihr nicht, aber sie war viel zu guter Stimmung, um sich mit einer Widerrede aufzuhalten.

    Sie hätte ewig so in der Hütte sitzen und Weihnachten feiern mögen, doch irgendwann war die Nacht um. Nike wachte auf aus ihrem schönen Traum, blieb mit geschlossenen Augen liegen, um sich alles ganz fest einzuprägen, und ärgerte sich dann, dass sie sich erst für mittags mit Bene verabredet hatte. In der Hoffnung, dass er genauso gespannt war wie sie, ging sie trotzdem direkt nach dem Frühstück zum Bahnhof und setzte sich auf ihren angestammten Platz.

    Sie musste sich gedulden, aber zum Glück nicht so lange, wie sie befürchtet hatte. Bene kam um kurz vor elf und entdeckte sie auf den ersten Blick. „Hi!“, begrüßte er sie. „Und, was hast du Schönes geträumt?“

    Zum Glück sprach er leise genug, dass niemand mithören konnte, denn sonst hätten wohl einige Leute ziemlich blöd aus der Wäsche geguckt. „Ich weiß nicht, wie du das hinkriegst“, antwortete Nike, „aber es war super.“ Sie erzählte, und Bene öffnete parallel eine Datei mit Notizen, die er am Vortag auf seinem Handy angelegt hatte. Nike las die Stichpunkte und stutzte. „Dein Auftauchen hast du vergessen“, stellte sie fest.

    Zu ihrer Überraschung schüttelte Bene den Kopf. „Das war nicht von mir“, versicherte er. „Das muss dein Unterbewusstsein von sich aus eingebaut haben.“ Nike wurde rot, denn sie wusste, was das bedeutete. Aber sie würde sich nicht wehren, und eins war sicher: Dieses Weihnachten würde in jeder Hinsicht ein Traum werden.

  • Der 24. Dezember von churchill


    Wegen einer Augenoperation bin ich leider in diesem Jahr nicht in der Lage, einen längeren Text zu verfassen. Deshalb fasse ich mich. Und zwar kurz.


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    Sonett 1818 - 2018


    Es war just heute vor zweihundert Jahren.

    Die Orgel war kaputt, wollte nicht klingen.

    Die Menschen müssten ohne Orgel singen.

    Schon strömten sie zur Kirche hin in Scharen.


    Hilfspfarrer Josef Mohr und Lehrer Gruber

    lösten im Dunkel dieser Nacht die Starre

    und griffen wie daheim zu der Gitarre

    und sangen mit Frau Maier und Herrn Huber


    ein Lied so zart und liebend wie das Leben,

    das immer neu in einem Stall geboren

    und wachsen wird, um uns zu retten.


    So klingt es Jahr um Jahr in uns’ren Metten

    weltweit als Zauberton für uns’re Ohren,

    um in der stillen Nacht uns zu umgeben.


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    Euch allen ein frohes Weihnachtsfest und eine gesegnete Heilige Nacht 2018!

    Tut euch etwas Gutes und singt oder hört „Stille Nacht“!