A. L. Kennedy: Süßer Ernst

  • Bitte nicht vom Titel abschrecken lassen


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    Schon der frühe Morgen dieses 15. April 2015 deutet dem britischen Beamten Jonathan gegenüber an, wie der restliche Tag verlaufen wird. Beim Blumengießen auf dem Balkon der verurlaubten Exfrau kackt ihm eine Amsel auf die Anzughose. Jon, der in einem Ministerium - vermutlich im Innenministerium - arbeitet, ist jedoch niemand, der in einer auf solche Weise verunstalteten Hose herumlaufen würde, denn Stil und Äußeres sind nicht nur ihm wichtig, sondern essentiell in der Londoner Finanz-, Wirtschafts- und Politikwelt. Wenigstens perfekte Kleidung muss sein, da sein Job in der Hauptsache darin besteht, Fakten auf beschönigende Weise zu verdrehen. Jon hat ein großes rhetorisches Talent, er ist prädestiniert für diese Form der Öffentlichkeitsarbeit, aber er hasst sie - sie bereitet ihm körperliches Unbehagen. Zum Ausgleich, aber auch, weil er die Liebe vermisst und ein Romantiker ist, schreibt der Neunundfünfzigjährige in seiner Freizeit Liebesbriefe an einsame Frauen, die auf seine Annoncen reagiert haben - und ihn für diesen Service bezahlen. Im Ministerium hat man davon Wind bekommen, Jon gilt dort seither als Frauenheld, dabei ist er alles andere als das. Er ist unsicher, frustriert, unglücklich. Er würde lieber in einer sehr viel besseren Welt leben.


    Eine von diesen Frauen, denen Jon professionell schreibt, ist die Mittdreißigerin Margaret, genannt Meg, die früher Wirtschaftsprüferin war, bis ihr Leben aus den Fugen geriet und der Alkohol die Kontrolle übernahm. Heute, an diesem 15. April, ist Meg seit genau einem Jahr trocken, und zur Feier dieses Tages wird sie Jon treffen, den sie als Corwynn August aus seinen hinreißenden Briefen kennengelernt hat. Die beiden haben sich schon zweimal kurz getroffen, nachdem ihn Meg ausfindig gemacht hat, und sie waren sich sympathisch, doch heute soll es endlich ein richtiges Date geben. Die durchaus hübsche, aber etwas zerzauste Meg, die inzwischen in einer Tier-Auffangstation arbeitet, ist aufgedreht, erwartungsvoll, aber auch extrem selbstkritisch, verletzlich und eingeschüchtert. Ihr Leben ist eine Gratwanderung, und beiderseits des Grats wartet das Ungeheuer Ethanol. Sie hofft deshalb auf Stabilität, aber fast noch wichtiger wäre ihr das Ende der Einsamkeit - allerdings nicht um jeden Preis.


    Doch der Tag, dieser Freitag im April 2015, macht es den beiden nicht leicht. Jons Planung wird immer wieder unterbrochen, weil ein zwielichtiger Journalist auf ein Leak gestoßen ist, aber auch seine erwachsene Tochter hat Probleme, die sich ohne Papa nicht lösen lassen. Das Date mit Meg muss warten, und während der Leser mit diesem Paar, das noch keines ist, ebenfalls darauf wartet, dass geschehen wird, worauf alle hoffen, bewegt sich die genau genommen unspektakuläre, aber in zwischenmenschlicher Hinsicht fundamentale Handlung durch dieses London, das schon seit Jahren keine Stadt mehr ist, sondern ein Disneyland für Superreiche, ein Denkmal für eine Macht, die längst vergangen ist, eine absurd teure Kulisse für ein armseliges Schauspiel.


    „Süßer Ernst“, diese unglaubliche Roman mit dem kaum begreifbar dämlichen Titel (im Original „Serious Sweet“ - auch nicht besser), erzählt nur von diesem einen Tag, und auch wenn die Lektüre der gut 560 Seiten mehr als 24 Stunden in Anspruch nehmen mag, funktioniert es. Im Wechsel aus der Sicht beider Hauptfiguren lässt die schottische Autorin, die auch meiner Meinung nach zu den wichtigsten, stärksten, ausdrucksvollsten Stimmen der britischen Literatur gehört, diesen einen Tag vergehen, der es offenbar weder Jon, noch Meg gestatten will, zum Ziel zu kommen, einander zu finden - eher im Gegenteil. Währenddessen lernt der Leser die beiden sehr gut kennen, weil Alison Louise Kennedy äußerst kunstvoll komplexe Gedankenwelten, Handlung und Umweltgeschehen miteinander verwebt. Dazu gehören auch die grotesken Vorgänge in der britischen Politik der Prä-Brexit-Ära, in diesem England, das seit der Amtszeit der anderen Margaret, dieser elf Jahre zwischen 1979 und 1990, die wie kaum eine andere Epoche nicht nur die britische Gegenwart geprägt haben, kein Land für Mitgefühl, Glück und Gemeinsamkeit mehr zu sein scheint. Und dann sind da noch diese kleinen, sehr nüchtern und sachlich erzählten, dennoch sehr emotionalen Episoden zwischen den Kapiteln, die von Menschen in Alltagssituationen berichten, von Achtsamkeit, Glücksmomenten, dem Dasein im Jetzt. Erst ganz am Ende klärt Kennedy auf, was es mit diesen Geschichten auf sich hat.


    Wie „Alles was du brauchst“, meiner ersten Begegnung mit A. L. Kennedy, wird auch dieser wieder ein Roman sein, der lange nachwirkt, der zu einer emotionalen Erinnerung wird, die sich einbrennt und festhält. Auch wenn die Verlangsamung manchmal etwas überzogen wirkt, auch wenn am Ende etwas dick aufgetragen wird, um den Kontrast zur Welt draußen zu verstärken, liest sich „Süßer Ernst“ einfach großartig. Kennedy schreibt äußerst eindringlich und anschaulich, findet gerade für die eher abstrakten Dinge ganz präzise die genau richtigen Worte, gibt beiden Figuren gleich viel und damit genug Raum. „Süßer Ernst“ ist eine Liebesgeschichte, ja, aber in einem ganz anderen Sinn als im üblichen. Es ist außerdem ein sehr politisches Buch - eines, das sich von dieser Illusion namens „Großbritannien“ verabschiedet, während viele, die Bestandteil dieser Illusion sind, noch nicht mitbekommen zu haben scheinen, dass es sich um eine handelt.

    Nur dieser Titel. Auch wenn er zutrifft - er lockt wahrscheinlich die falschen Leser an und schreckt die richtigen ab.


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