Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit
Roman, 355 Seiten
Piper Verlag, München 1983 (Dt. Originalausgabe)
gebundene Ausgabe 2010: 10,00 EUR, ISBN 978-3492259750
Inhalt (Klappentext):
Von Kindheit an träumt John Franklin davon, zur See zu fahren, obwohl er dafür denkbar ungeeignet ist: Langsam im Sprechen und Denken, langsam in seinen Reaktionen misst er die Zeit nach eigenen Maßstäben. Zunächst erkennt nur sein Lehrer, dass Johns eigenartige Behinderung auch Vorzüge hat – was er einmal erfasst hat, das behält er, das Einzigartige, das Detail begreift er besser als jeder andere.
John Franklin geht zur Marine, erlebt die Schlacht von Trafalgar, den Krieg und das Sterben. Beides trifft ihn umso furchtbarer, als er innerhalb des von ihm kaum begriffenen, chaotisch schnellen Geschehens einzelne Vorgänge wie in Zeitlupe ablaufen sieht. Insgeheim aber träumt er von friedlicher Entdeckung, will die legendäre Nordwestpassage finden.
„Die Entdeckung der Langsamkeit“, auf den ersten Blick ein Seefahrerroman, ist zugleich ein Roman über das Abenteuer und die Sehnsucht danach und ein Entwicklungsroman. Doch hat Sten Nadony die Biographie des englischen Seefahrers und Nordpolforschers John Franklin (1786–1847) zu einer subtilen Studie über das Wesen der Zeit umgeschrieben, die von der Langsamkeit als Lebensprinzip erzählt.
Über den Autor:
Sten Nadolny wurde 1942 in Zehdenick an der Havel als Sohn des Schriftstellerpaares Burkhard und Isabella Nadolny geboren. Er wuchs in Oberbayern auf und studierte Geschichte und Politikwissenschaft, 1976 promovierte er an der Freien Universität Berlin. Nadolny arbeitete zunächst ein Jahr lang als Geschichtslehrer, danach wurde er Aufnahmeleiter beim Film. Der Autor lebt in Berlin.
1981 erschien Nadolnys erster Roman „Netzkarte“. Zwei Jahre später erschien Nadolnys bekanntestes Buch „Die Entdeckung der Langsamkeit“, nachdem das fünfte Kapitel des Romans zuvor mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet worden war. Der Roman wurde mehrfach preisgekrönt, in zahlreiche Sprachen übersetzt und ist inzwischen zum modernen Klassiker der deutschsprachigen Literatur geworden.
Meine Meinung:
„Die Entdeckung der Langsamkeit“ gehört zu meinen Lieblingsbüchern, ich habe das Buch eben zum zweiten Mal gelesen.
Vordergründig schildert der Roman das Leben des Nordpolarforschers John Franklin, beginnend mit dessen Kindheit und endend mit dessen Tod im Jahr 1847. Die Schilderung des Lebens dieser historischen Person erfolgt in klassischer Form, das heißt der Handlungsverlauf wird einstrangig und in chronolischer Abfolge ohne Rückblenden dargestellt, meistens hält sich der Autor an die historisch verbürgten Fakten. Insofern handelt es sich um einen historischen Roman.
Allerdings – und das ist das Faszinierende an diesem Buch! – hat der Autor seine Hauptfigur „gezinkt“, wie Sten Nadolny es in seinem Nachwort zur 2007 erschienen Sonderausgabe des Buches selbst formuliert. Den Begriff „gezinkt“, sonst für markierte Spielkarten von Falschspielern verwendet, übernimmt Nadolny hier: er stattet seine Hauptfigur mit einer besonderen Eigenschaft aus, um sie für den Leser interessanter zu machen. Der John Franklin des Romans ist mit einer unglaublichen Langsamkeit ausgestattet, er braucht für alles sehr viel mehr Zeit als andere Menschen. Und das „Zinken“ der Hauptfigur geht auf: die Langsamkeit, die der Autor John Franklin andichtet, passt zu dem, was der historische Franklin getan, gesagt und geschrieben hat und neben dem vordergründigen Thema des Buches entsteht ein Thema hinter dem Thema: denn eigentlich handelt das Buch von der Zeit, von Geschwindigkeit, Individualismus, Toleranz und Respekt vor Anderen.
Während seiner Kindheit und Jugend wird John Franklin wegen seiner Langsamkeit oft verspottet. Er will unbedingt schneller werden, sich der Geschwindigkeit der anderen anpassen. Da ihm dies nicht gelingt, muss er sich später, während seiner Ausbildung auf See, Tricks einfallen lassen, die seine Langsamkeit kaschieren. So legt er sich Standardantworten und Floskeln zurecht, um im Gespräch Zeit zu gewinnen oder er lernt alle technischen Details des Schiffes auswendig, um diese automatisch und ohne Zeitverlust jederzeit parat zu haben. Als Kapitän erwirbt sich Franklin schließlich die Achtung seiner Mannschaft und der Admiralität: aufgrund seiner bedächtigen und ruhigen Art behält er als einziger im Angesicht drohender Katastrophen die Nerven, nimmt sich Zeit zum Nachdenken und rettet so mehrfach das Leben seiner Männer. Mehrere solcher Situationen werden im Buch sehr anschaulich geschildert.
Sehr gut hat mir auch gefallen, dass die Hauptperson nicht als Superheld daherkommt. Zum einen gelingt dies dem Autor durch die Langsamkeit, die er John Franklin andichtet. Aber auch der historische Franklin war kein Superheld, denn die Entdeckung der Nordwestpassage war wegen des Eises vollkommen nutzlos.
Ich habe für das Lesen des Buches mehr Zeit als sonst üblich gebraucht. Der verlangsamten Wahrnehmung der Hauptfigur angepasst, erzählt der Autor detailreich, bildhaft und gründlich. Es lohnt sich aber, sich die Zeit für dieses Buch zu nehmen.
Ich vergebe 10 Punkte.
Leseprobe:
Eine Leseprobe aus dem ersten Kapitel gibt es auf der Internetseite von Weltbild. <klick>