Liebe Miteulen,
für mich ist Stephen Kings WAHN das wohl persönlichste und literarischste, erzählerisch intensivste Werk.
King verarbeitet darin seinen schweren Unfall aus dem Jahr 1999 und die langen, langen Nachwehen, aber auch den Kampf des Künstlers gegen sich, seine Zweifel, gegen seine inneren Dämonen.
Horror- und Gruselhungrige sind sogar vermutlich zu Recht von den ersten 200, 300 Seiten enttäuscht – denn was dort wie erzählt wird, ist nicht das Grauen des Bösen der Umwelt und die Geister dunkler Welten, sondern das Grauen im Kopf und Körper eines zutiefst versehrten, verstörten Mannes. Von der Erzählweie und -stimmung erinnert es mich an einen John-Irving oder an klassische Künstlerromane.
Es ist das Psychogramm von Edgar Freemantle, der sich, nachdem er einen Arm bei einem widerwärtigem Unfall verloren hat, nach Florida zurück zieht um sich wieder zu finden, zu heilen, um sich davon zu erholen nun zu WISSEN, sterblich zu sein.
Er ist in vielem gescheitert, und ihm als auch seinem neuen Freund Wireman (Der Lachanfall der beiden… wunderschön), beschäftigen Dinge, die ein Mann erst jenseits von Mitte 40 bewegt. Sie sind beide vom Leben tief Versehrte.
>>Auch King zog sich ab 2002 regelmäßig nach Florida auf eine Insel zurück, um zu schreiben und sich von der Kälte der Realität, zu erholen, die in Gestalt eines Lastwagens über ihn hinweg rollte und ihn quasi klinisch tot im Krankenhaus ablieferte, später mit Gestellen an den Beinen die ihn zwangen, die Knie immer gerade zu lassen und mit der Hand zu schreiben… Später erwarb King übrigens das Gefährt, das ihn hinterrücks töten wollte, und zerstörte es. Eigenhändig. Ein Mann kämpft gegen seine Dämonen… der Fahrer des Wagens starb ein paar Jahre später. An Kings Geburtstag. Hu!<<
Edgar entdeckt sich als Künstler - und damit auch den Wahn, den jede Sorte Künstler befällt: Zweifel, Lebensgeilheit, Manie, Sucht. Wie Edgar sich auch fragt, in wie weit er sich dem Genius ausliefern soll, ob er etwas tun kann, um diese Gabe zu schützen - genauso verarbeitet auch King immer und immer wieder den Genius des Schreibenden. Wie leicht kann eine Muse verschwinden! Wiehilflos Schreibende ihrem eigenen produktiven Wahn ausgeliefert sind – so verstehe ich die Story von Edgar/Stephen.
So wie sich Edgar sucht und findet, sucht auch King nach sich (Auch wenn WAHN nun sicher nicht in allem Bekenntnis des Autoren ist, nicht immer lässt King hier die Hosen allzu vordergründig herunter…).
Instinkt, Kunst, die Macht, Realität zu verändern (Wie es Edgar mit seinen Gemälden endteckt): All das treibt auch King um.
Insofern ist WAHN der Wahn des Schriftstellers Stephen selbst, und wer den Roman so leist und nicht als weiteres Gänsehautwerk des Imperators des Fürchtens, wird sicher mehr Lese-Lust empfinden.
Vermutlich ist WAHN sogar das am wenigsten dem Horrorgenre zurechenbarste Werk; die Elemente – Geisterkinder, Familiengeheimnisse, Dämonen, das böse Weibliche aus dem Meer, Wunder… – geraten eher in die Nähe von Mystik und Fantasy.
Dennoch: für mich eines der besten Kings, und ich kenne sie nahezu alle – weil es das persönlichste, das literarischste ist; und weil es, würde es ohne Autorennamen veröffentlicht werden, all die Kingkritiker, die ihn für ein Bähbäh-Trivialschriftsteller halten, beeindrucken würde als ein anspruchsvoller, dichter, intensiver, besonderer (Künstler)Roman.
Herzlichst aus Hamburg
_Nina
(Kingianerin seit 1986. Erster Kontakt: "Deadzone".)