Beiträge von Swansea

    Mit Büchern mag es wie mit Menschen sein:


    Zu manchen hat man "Zugang", zu anderen nicht ;)


    und eine Leseweisheit, die mich seit Langem begleitet ist die, niemals eine Rezension geschweige denn viele oder kontroverse zu lesen, bevor ich SELBST das Buch gelesen habe, um das es geht.

    Nun weiß ich wieder umso mehr, warum :)

    "Der Geschichtenbäcker" von Carsten Henn; der Nachfolger zum "Buchspazierer" sozusagen, dem wir auch anfangs kurz in diesem warmherzigen und berührenden Roman begegnen, erschien (HC, geb., 2022) im Piper Verlag. Dieses Mal begleiten wir eine frühere Tänzerin auf ihrem Weg, sich selbst so lieben und annehmen zu können, wie sie ist:


    "Brot backen ist fast wie ein Tanz. Teig wird rhythmisch geknetet, die Drehung der Hände, der Schwung der Hüfte geben ihm Geschmeidigkeit. Fasziniert beobachtet die ehemalige Tänzerin Sofie den italienischen Bäcker Giacomo bei seiner Arbeit. Eigentlich wollte sie den Aushilfsjob in der Dorfbackstube gleich wieder kündigen. Zu sehr hat das Ende ihrer Karriere ihr Leben aus der Bahn geworfen. Wer ist sie, wenn sie nicht tanzt? Doch überraschend findet Sofie in er kleinen Bäckerei viel mehr als nur eine Beschäftigung: die Weisheit eines einfachen Mannes, das Glück der kleinen Dinge und den Mut zur Veränderung".

    (Quelle: Buchrückentext des Verlages)


    So einige sehr sympathische Figuren "bevölkern" diesen Roman von Carsten Henn, der es stilistisch zauberhaft versteht, seine Leser schon zu Beginn in seine Geschichte; hier dem kleinen Dorfbäckerladen, literarisch zu "entführen". Nicht ohne Grund, denn 'unterwegs' gibt es Vergleiche und Weisheiten zu entdecken, über die man staunt - und auch gelegentlich schmunzelt:

    Giacomo Botura, aus Kalabrien stammend, sehnt sich nach seiner Heimat (besonders wenn er Orangen aus dem nahegelegenen Hofladen riecht) und braucht dringend Verstärkung: Als Aushilfe verdingt sich die seit Kurzem arbeitslose frühere Tänzerin Sofie, die nach Meinung Giacomo's Rhythmus hat (was der Teig mag) und so beginnt Sofie ihren nächtlichen Dienst in der Backstube, wobei sie denkt, dass sie wohl nach drei Tagen wieder kündigen wird - doch es sollte anders kommen.


    Florian, Choreograf und Ehemann von Sofie, merkt, wie sich seine Frau von ihm entfernt und hat Angst, sie zu verlieren: Er hatte sich nicht in ihren Tanz verliebt (sie war die Beste), sondern in ihre dunkelbraunen Augen. Marie, Nachbarin der beiden und seit Langem in Florian verliebt, nutzt die Gunst der Stunde und versucht, Florian für sich zu gewinnen. Sehr nahe steht Sofie Franziska, ihre Schwester und deren kleine Tochter Anouk, die nicht nur ihre Tante davon überzeugt, dass sie Maria ist und daher alles 'segnen' muss, was ihr begegnet (Menschen, Pflanzen und Tiere). Eines Tages benötigt Franziska eine Kinderfrau und Sofie nimmt sie kurzerhand mit in die kleine Bäckerei, wo sie der griesgrämigen Elsa im Verkauf helfen darf - unter der Voraussetzung, dass sie nicht alle Kunden segnen sollte.... Wie durch ein Wunder (Freude war schon lange nicht mehr im Leben von Elsa) bringt das kleine Mädchen Elsa zum Lachen...


    So geschieht Wundersames und im Vordergrund stehen immer Giacomo, sein liebevoll gebackenes Brot (incl. Geheimzutat, die Sofie dann doch unbedingt herausfinden möchte), Sofie und ihr Scheitern sowie ihr Wieder-Aufstehen: Sie schafft es in einem gelungen beschriebenen Prozess, ihr altes Leben abzulegen und sich in ihrem neuen Leben wohlzufühlen! Dies ist auch das Hauptthema des Buches: Veränderungen anzunehmen; Altem nicht hinterherzuhängen und Neues positiv aufzunehmen, denn das ganze Leben ist Veränderung und Menschen sollten sich nicht alleine durch ihren Beruf definieren: Genial fand ich die Vergleiche zwischen dem Zubereiten des Teiges und Menschen in ihrer Entwicklung:


    Für gutes Brot und auch für eine positive Entwicklung eines Menschen benötigt man (fast) das Gleiche: Gutes Mehl und Zeit und Liebe!


    Fazit:


    Eine wunderschön choreografierte "Wohlfühlgeschichte" mit Tiefgang; die Wandlungen, Entwicklungen, Veränderungen (im Leben und auch in Beziehungen) zum Thema hat; aber auch andere menschliche Themen nicht ausspart; für Toleranz wirbt und das Annehmen der eigenen Persönlichkeit. Denn nicht nur Katzen haben 7 Leben, wie es heißt, sondern auch wir Menschen; wenn wir es erkennen - und es annehmen! Eine absolute Empfehlung dieses warmherzigen und gefühlvoll, sensibel geschriebenen Romans nicht nur für TänzerInnen und BäckerInnen. 4,5 *


    ASIN/ISBN: 3492071341

    Von Verlusten und dem (sich) Wiederfinden


    "Das Fundbüro der verlorenen Träume" von Helen Frances Paris erschien (Paperback, 2022) im dtv-Verlag und umfasst 366 Seiten.

    Dot, eigentlich Dorothea, ist die Hauptfigur in diesem warmherzig und wirklich sehr menschlich, zeitweise auch poetisch geschriebenen Roman, der in einem Londoner Fundbüro verortet ist, in dem Dot arbeitet.

    Nachdem der geliebte Vater von Dot gestorben ist, begräbt sie erst einmal ihre Pläne und ihr Vorhaben, nach ihrem Auslandssemester in Paris Sprachen zu studieren, Dolmetscherin zu werden (und am liebsten für die UN zu arbeiten), was sie mit ihrer Liebe zu Reisen verknüpft. Stattdessen nimmt sie eine Stelle im Fundbüro in London an, wo sie ihrer Arbeit, mit Akribie und Gewissenhaftigkeit dafür zu sorgen, dass verlorene Dinge, die abgegeben werden, ihren urtümlichen Besitzern wieder ausgehändigt werden können. Unterstützt wird sie dabei von Anita und einer weiteren Kollegin sowie Big Jim, der im Untergeschoss für die Sachen zuständig ist, die zum Auktionshaus Snagby's gehen, da sie nach Ablauf der Abholfrist nicht abgeholt wurden. Dot erscheint stets in Uniform und ist für einen akkuraten Ablauf des Tagesgeschäfts. Ihre größte Freude besteht darin, Sache und EigentümerIn wieder zusammenzubringen, Verlorenes zurückgeben zu können.

    Eines Tages erscheint ein älterer, sympathischer Herr im Fundbüro, um sich nach der honigfarbenen Tasche zu erkundigen, die er im 73er Bus hat liegen lassen: Eigentlich geht es ihm um das fliederfarbene Portemonnaie seiner verstorbenen Frau. Dot recherchiert, muss aber leider feststellen, dass die Tasche bisher nicht im Fundbüro abgegeben wurde. Sehr viel später kommt Mr. Appleby nochmals vorbei und vernimmt, dass die Tasche noch immer nicht aufgetaucht ist: Sicherheitshalber hinterlässt er seine neue Adresse an der Küste, da er Sohn und Familie dort besuchen will.... An diesem Tag gibt es einen Chefwechsel und zu Anita's und Dot's großer Bestürzung wird Neil Burrows "NB" genannt, der neue Chef: Die Formalitäten der neuen Adresse Mr. Applebys nimmt daher die Kollegin auf, deren Farbe ihrer Fingernägel ihr wichtiger sind als die Dinge möglichst exakt aufzunehmen, die Menschen im Fundbüro abgeben. Wird es Dot, der viel daran gelegen ist, dem alten Herrn zu helfen, gelingen, ihm die verlorene Tasche wiederzugeben?


    Meine Meinung:


    Dot ist mir von Anfang an sympathisch: Sie ist sensibel, verrichtet ihre Arbeit mit großer Sorgfalt und hilft gerne Menschen, ihr Eigentum zurückzuerlangen: Sie hat einen Blick fürs Detail und ist sehr freundlich zu ihren Kunden. Dennoch ist sie nach dem Verlust des Vaters sehr introvertiert, ihr Leben verläuft nicht so, wie sich das ihre Schwester Philippa für sie ausgedacht hat: Diese ist gänzlich anders geartet, liebt Sauberkeit über alles und beginnt heftig, mit ihren Armen zu wedeln, wenn sie eine Situation überfordert. Sie versucht, Dot einen Mann (am besten mit großem Haus, gutem Einkommen und großem Ego) zu "vermitteln", wovon Dot jedoch nichts wissen will: Nach und nach erfährt man mehr aus dem Leben der Familie; die Mutter lebt im Pflegeheim "Schattige Pinie", wo wir auch Dr. Chang, der heilende Hände hat, kennenlernen und von ihren Töchtern besucht wird. Während Philippa mehr zur Mutter tendierte, war Dot in ihrer Kindheit ein richtiges "Vater-Kind": Wir lernen ihren Vater als abenteuerlustigen, erzählenden, Krimis erfindenden und wirklich guten Vater kennen, der jedoch offensichtlich nicht sehr glücklich ist mit seinem Leben. Einzig mit Dot hat er an den Wochenenden Freude, wenn beide Platten hören, Spiele erfinden und Abenteuer bestehen. Dies ändert sich, als Dot zum Auslandsstudium nach Paris zieht. Dort lernen wir Louise kennen, mit der sich Dot gut versteht und Émile, der Dot liebt. Manche Sätze, die die Autorin in den wirklich warmherzigen Roman einflicht, sind in meinen Augen wie Perlen; manche Sätze poetisch und doch klar und voller Weisheit. Einiges jedoch ist sehr ausufernd beschrieben, plätschernd und etwas nebensächlich. Dot ganz besonders und ihre Familie sind sehr authentisch und gut vorstellbar beschrieben; bei anderen Nebenfiguren hätte ich mir mehr "Tiefgang" gewünscht; so z.B. bei Big Jim, der durch seine Empathie Dot gegenüber zu einer meiner Lieblingsfiguren wurde. Die Autorin versteht es, Emotionen sehr nahegehend und warmherzig zu beschreiben, ebenso die Schuldgefühle von Dot, die man erst später begreifen kann.

    Eine Kostprobe so einiger sprachlicher "Perlen" ist z.B. der Satz:

    "Verlust (....) ist der Preis, den wir für die Liebe zahlen" (Zitat S. 259)

    Der Roman ist in der Ich-Form geschrieben und als LeserIn bekommt man die allmähliche Wandlung Dots dadurch sehr gut mit, wie sie langsam aber stetig aus ihrem Schneckenhaus, in das sie sich lange zurückgezogen hatte, befreit; auch die Orte der Handlungen sind gut vorstellbar beschrieben und am Ende reist man mit Dot an einen Ort, der sie zu ihrer eigentlichen Bestimmung im Leben führen sollte. Schön fand ich auch, dass ich meine eher negative Meinung ihrer Schwester gegenüber am Ende in einigen Punkten revidieren musste und dass es eine Aussprache des "ungesagten Wissens" in der Familie gab, das die beiden Schwestern einander näher brachten. Dots Vorlieben (Sprachen und Reisen) teile ich absolut und die Hauptprotagonistin war aufgrund ihres Charakters und auch ihrer Handlungen eine große Sympathieträgerin, die am Ende noch eine sehr schöne Idee parat hatte, die "Schattige Pinie" betreffend.


    Fazit:


    Warmherzige und authentische Charaktere bevölkern diesen lesenswerten Roman, der viele Themen in sich birgt: Im Vordergrund stehen Verluste, die zu jedem Leben gehören, aber auch des sich Wiederfindens; die eigentlichen Lebenspläne wieder angehen zu können und sich nicht entmutigen zu lassen; ja auch loslassen zu können. Weitere Themen sind Trauer, Familienbeziehungen und -konflikte, Demenz, Übergriffigkeit. aber auch Liebe und Respekt - gegenüber Menschen und auch Dingen. Trotz einiger Längen, die das letzte Drittel des Romans dann auch wieder wettmachen konnten, gebe ich sehr gerne eine Leseempfehlung bei 4* und dem Eindruck, dass Helen Frances Paris noch "Potential nach oben" hat.


    ASIN/ISBN: 3423263172

    Absolut Lesenswertes über sichtbare, unsichtbare - und auch sonderbare Grenzen!


    Der "Atlas der Unordnung" (UT: 60 Karten über sichtbare, unsichtbare und sonderbare Grenzen) von Delphine Papin/Bruno Tertrais erschien (HC, geb.) im wbg-Theiss Verlag, Darmstadt. Auf 175 Seiten entführt dieses "Füllhorn an Informationen auf einer faszinierenden Reise durch die Welt" (Zitat Le Figaro).


    Dieses Buch hat mich aufgrund seiner Aktualität und meiner eigenen Biografie, - 50 m vor der deutsch-französischen Grenze aufgewachsen zu sein - die anders als in meiner Kindheit nun als EU-Grenze 'durchlässig' ist; Grenzkontrollen wegfallen, sehr interessiert. Über Grenzen zu schauen, andere Sprachräume zu entdecken, kann den eigenen Blick (auch in kultureller Hinsicht) sehr erweitern, bisher "Fremdes", Unbekanntes erleb- und verstehbar machen. Doch sie können auch trennen, abriegeln und isolieren (siehe Nordkorea, Grenze USA-Mexiko, frühere Grenzziehung BRD-DDR usw.) und das Zusammenkommen verschiedener Menschen und Völker erschweren.


    Die beiden französischen Autoren unterscheiden hier zwischen geographischen, kulturellen und ideologischen Grenzen; greifen auch Historisches auf, was sehr interessant und spannend aus den Karten zu ersehen ist. Von Kap. I bis C ist eines interessanter als das andere, faszinierend und sehr informativ:


    - Grenzen als Vermächtnisse

    - Meere und Grenzen

    - Mauern und Migration

    - Spezielle Grenzen

    - umstrittene Grenzen


    sind die Hauptkapitel, die sich in zahlreiche Unterkapitel gliedern, welche sich über den gesamten Globus erstrecken. Es wird auch der Frage nachgegangen, "wann ist ein Staat ein Staat": In Zeiten von Unruhen und Kriegen stehen Grenzen gerade jetzt - mitten im Ukrainekrieg und einigen anderen Kriegsgebieten auf der Welt - im Mittelpunkt der Geopolitik.


    In diesem Zusammenhang fand ich (Kap. umstrittene Grenzen) "Russlands Comeback" (Wiedereroberung der alten Einflusssphäre) und "Ukraine gegen Moskau" äußerst interessant und politisch aufschlussreich. Auch das "Spinnennetz Chinas" ist sehr gut dargestellt und lässt einen (zumindest mich) aus guten Gründen erschaudern.

    "Eine Welt voller Mauern" stellt graphisch die Barrieren dar, die überall auf der Welt vorhanden sind. Die europäischen Grenzen ("Todesfalle Mittelmeer") sind auch aktuell sehr verbesserungswürdig in Sachen Menschlichkeit.


    Geschichtlich widmen sich die Autoren auch der wachsenden Zahl der Grenzen und der Verschiebungen im Laufe der Geschichte; auch den kulturellen Kulturkreisen weltweit, die sowohl mit der Geographie als oftmals auch mit Religionen verbunden sind. Auch das Kapitel "Pässe aus aller Welt" - unser aller 'Daseinsberechtigungsschein' - als Türöffner oder auch nicht - gibt zu denken. Der einzigartige, unglaubliche Bild- und Graphikenband endet mit dem Kapitel zur Zukunft Europas, umfasst auch die "50 Linien" (Verteidigungslinien) und zahlreiche weiterführende Literaturangaben.


    Fazit:


    Ein sehr empfehlenswerter, einzigartiger Bildband mit informativen, prägnant recherchierten, geopolitisch interessanten Inhalten zu Grenzen der Welt, die - menschengemacht - auch absurd sein können. Das Buch macht tatsächliche und auch absurde Grenzen auf faszinierende (und teils auch beklemmende) Weise sichtbar. Chapeau dem Autorenpaar und von mir 5*!


    ASIN/ISBN: 3806244278

    Wann erscheint der nächste "Fall für Jackson Lamb?" ;)


    "Spook Street" (gemeint ist die Straße der Spione) von Mick Herron ist der 4. ins Deutsche von Stefanie Schäfer übersetzte "Fall für Jackson Lamb". Der wie immer schwarzhumorige, kritische und einfach köstlich zu lesende Spionagekrimi erschien im Diogenes-Verlag, (tb, brosch.) 2021.


    Dieses Mal sind die Hauptprotagonisten sowohl das Slow House selbst, in dem der Chef der Abservierten, Jackson Lamb, in einem heruntergekommenen Bürogebäude residiert als auch der Großvater eines Slow Horses: David Cartwright, einst eine Legende im britischen Geheimdienst MI5, nun aber bereits 84 und etwas vergesslich, aber wie sich herausstellt, nicht vollkommen hilflos: Als eines Tages ein Mann vor seiner Tür steht und sich für seinen Enkel (River Cartwright, bestens bekannt aus den Vorgängerbänden) ausgibt, fackelt der O.B. (Old Bastard, larmoyant von River genannt, der sich seit einiger Zeit Sorgen um seinen Großvater macht) nicht lange - und erschießt den jungen Mann. Der "echte" Enkel findet in den Taschen des Toten eine Fahrkarte nach Frankreich - genau in den Ort, in dem sein Großvater früher immer "Urlaub" machte....


    Der Spionagekrimi mit hochbrisanten Themen besticht wie seine Vorgänger durch geniale Wendungen und einem äußerst trockenen Humor, der besonders Jackson Lamb zu eigen ist: Dieser muss sich nach Kent begeben und den Toten im Badezimmer von David Cartwright identifizieren. Später sollte er das Geschehen wie folgt seinen Slow Horses gegenüber zusammenfassen:


    "Ein ehemals hochrangiger Spion (der mehr Geheimnisse hat als die Queen Hüte) pustet seinem Enkel das Gesicht weg und verschwindet anschließend mit seiner Waffe in die Nacht - und ja, er tickt nicht mehr richtig" - so Lamb.


    River begibt sich auf die Reise nach Frankreich und überlegt während der Zugfahrt, ob es dem Regent's Park (Zentrale des MI5) zuzutrauen wäre, dass dieser einen Vorhang über den O.B. senken wollte, weil dieser anfang, "undicht" zu werden. Wer und welche Motive stecken hinter diesem Anschlag auf David Cartwright? Und wieso wurde auch auf den damaligen Co-Spion Sam Chapman ein geplanter Mordversuch verübt?


    Diesen Fragen geht Jackson Lamb in gewohnt lässiger Manier nach: Er fordert seine Crew auf, nachzudenken, um herauszufinden, "was an der Sache mit den Cartwrights dran ist" - ein Spion seiner Truppe der Abservierten ist in Aktion (River). Da die Slow Horses allesamt eins gemeinsam haben: Sie sind in Ungnade gefallen und wurden ins Slow House suspendiert, jedoch auch allesamt klug und ehrgeizig sind, nehmen sie die Spurensuche auf - und der Leser begleitet sie wohlgelaunt und zuweilen staunend hierbei, über die schrägen Dialoge und der eher unsozialen Eigenschaften Jackson Lambs schmunzelnd, der dennoch das Herz am rechten Fleck hat und hinter seiner Truppe steht; ja sogar hofft, dass seine rechte Hand, Catherine Standish, wieder zu den Slow Horses zurückkehren wird (ich hoffe es mit ihm).


    Die Spannung wird von der ersten bis zur letzten Seite gehalten - wobei sie im letzten Romandrittel sehr anzieht: Wir verfolgen die jeweiligen Missionen zur Aufklärung von Marcus und Shirley, Roderick Ho, der wie immer als IT-Fachmann glänzt (und nun sogar auch äußerlich, da er seit Kurzem eine Freundin hat) lernen Moira Tregorian kurz kennen, die Nachfolgerin von Catherine, ebenso wie den Neuling an Bord J.K. Coe alias "Mr. Luftklavier", der, zuvor in der psychologischen Abteilung des MI5, auch hier beweist, dass er ein Gehirn hat und natürlich die von David Cartwright, der durchaus sehr lichte Momente hat wie die seines Enkels River, dessen Mission wie so oft nicht ungefährlich ist. Wir begleiten ihn zu "Les Arbres" in Frankreich, in dem einst Spione aus aller Welt zusammen wohnten, lernen auch den neuen Chef des MI5 kennen; Whelan, der schnell begreifen muss, wie dieser Geheimapparat tickt, um nicht selbst Opfer zu werden (ist Lady Di wirklich eine Rettungsboje für ihn? Finden Sie es heraus!) und einige obskure Gestalten, die mit dem Plot des Spionagekrimis in Zusammenhang stehen, sowohl ein perfektes Englisch wie auch ein ebenso perfektes Französisch sprechen.


    Es geht um "Cold Boys", echte Identitäten, die auf "ihren" Besitzer warten; um alte Schulden, alte "Projekte" und Druckmittel unter Geheimdienstmitarbeitern und - um Geheimnisse, die lange zurückliegen und nun an die Oberfläche drängen: Wird der O.B. im "Safe House" wirklich sicher sein?


    Herron lässt am Ende ein Showdown nach dem anderen heraufziehen; so dass man den Krimi nicht aus der Hand legen kann und fiebert mit den Slow Horses und Lamb sowohl auf Londons Straßen als auch in einer Autowerkstatt einem möglichst positiven Ausgang entgegen; nur um sich zuletzt mit der ganzen Crew (oder fast der ganzen) im Slough House wiederzufinden, wo die Situation zu eskalieren droht....


    Fazit:


    Mick Herron gelingt es auch in diesem vorliegenden Band, die Spannung hochzuhalten und den Leser mit heiklen Hintergründen des Geheimdienstwesens zu "versorgen". Die schrägen, witzigen und intelligenten Dialoge zwischen den Akteuren - ganz besonders hier Jackson Lamb selbst - bilden das Sahnehäubchen dieses interessanten und spannenden Spionagekrimis, den ich bestens weiterempfehlen kann. Jeder "Fall" ist in sich abgeschlossen und kann unabhängig von anderen gelesen werden (besser gesagt: Ein Einstieg ist jederzeit möglich ;) Ich würde jedoch chronologisch lesen, da die Figuren sich weiterentwickeln und der Leser nichts verpasst. Von mir erhält (mit Vorfreude auf den 5. Fall versehen!) "Spook Street" 5 Sterne und 97° auf der "Krimi-Couch" und eine absolute Leseempfehlung!


    ASIN/ISBN: 3257300840

    "Back dich um die Welt" von Christian Hümbs (UT 90 süße Rezepte gegen Fernweh) erschien (HC, geb.) 2021 im DK-Verlag, München.


    Vielen backfreudigen Genießern dürfte der Autor bestens als Juror (Sat1) in "Das große Backen" bekannt sein. Hümbs zählt zu den besten Patissiers Deutschlands, dessen Kreativität kaum Grenzen zu kennen scheint. So hat er sich im vorliegenden Buch, das im Untertitel nicht ohne Grund "90 süße Rezepte gegen das Fernweh" trägt, von landestypischen Klassikern inspirieren lassen - und dennoch jedem Backwerk, ob Gebäck, Kuchen oder Torte, seine persönliche Note verliehen. Das geniale Backbuch ist das Ergebnis der süßen kulinarischen Reise des Autors, der seine Profession mit Leidenschaft ausübt und hier in den besten und leckersten Rezepten einfließen lässt; das "Sahnehäubchen" bilden seine zusätzlichen Tipps und Kniffe, die Hümbs hinzufügt.


    Das Backbuch ist sehr übersichtlich gegliedert, vermittelt auch Hintergrundwissen zu den kreativen Rezepten, die von einfach bis raffiniert/anspruchsvoll sowohl Anfänger als auch Fortgeschrittenen ein erfolgreiches Nachbacken garantieren. Nach der Einleitung begibt man sich mit Hümbs auf 5 kulinarische Reiserouten, die viele Länder abdecken - von Europa, über die USA, Südamerika bis nach Japan, Australien und Indien. (Einzig Nordafrika und arabische Länder sind nicht auf der "Reiseroute", ich hoffe, im nächsten Band kann man dann tunesische, marokkanische oder auch syrische Leckereien nachbacken, die ich teils kenne und ebenfalls sehr schätze).


    Los geht es mit derzeit beliebten Zimtsternen, Aachener Printen über Klassiker wie den Hefezopf und den Frankfurter Kranz; in der Schweiz und Österreich locken Strietzel, Linzer Torte u.a.; in den Niederlanden backen wir Bollen und die "Ollie-Bollen" (S. 75) versetzen mich zurück in meine Schulabschlussfahrt mit den "Vaarende Vakantievloot" durch viele Grachten und Städte Hollands. Auch Scones-Fans kommen auf ihre Kosten (ich gehöre dazu) und sowohl die Rosinen- als auch die Zimtscones sorgen dafür, dass man sich gedanklich in England oder Schottland befindet...

    Hier fehlt auch nicht die "Harry Potter Tarte" ((Treacle Tarte, S. 88) und Dänemark und Schweden warten mit "Lussekatter" und Zimtschnecken auf; im Winter ebenfalls ein Genuss (aber nicht nur dann). Exotisch geht es in den amerikanischen Rezepten weiter: Cheesecake, Cookies und besonders die Cranberry-Pekan-Brownies (S. 114/115) stehen noch auf dem Backprogramm! Selbst Pancakes und Pumpkin Pie dürften mit Hilfe der step-by-step Anleitung leicht gelingen.


    Besonders gefallen haben mir die Übersichtlichkeit und auch die Angabe des jeweiligen Schwierigkeitsgrades sowie die wundervollen, appetitanregenden Fotos der jeweiligen Backwerke! Vom französischen Nachbarn (ein Katzensprung von mir entfernt) gibt es den Klassiker Croissants, Brioche und eine Tarte au Citron, die den Gaumen kitzeln dürfte. Besonders angetan hat es mir jedoch das Rezept für "Pastel de Nata" (Portugal), das ich noch ausprobieren möchte und das Fernweh nach Sagres, Lissabon und der wunderschönen Algarve etwas stillen könnte. Sehr lecker fand ich auch das Rezept "Banana Bread", das ich schon in anderer Variation gebacken hatte. Ein Register, ein Dank des Autors und einige Notizseiten beenden dieses fantastische Backbuch.


    Fazit:


    Eine sehr geniale klassische Sammlung von Backrezepten aus aller Welt, denen Christian Hümbs seine persönliche Note verliehen hat. Sehr gut nachzuarbeiten; sehr gut gegliedert und mit tollen Fotos versehen. Eine step-by-step-Backreise zu den süßen Hotspots dieser Welt, die das (momentane) Fernweh stillen hilft! Im Kochbuchregal wird es bei mir einen Ehrenplatz einnehmen und zur sprichwörtlichen "Crème de la Crème gehören! Ich vergebe 5 Sterne und eine absolute Empfehlung am Patisserie-Himmel.


    5*****+


    ASIN/ISBN: 3831043485

    "Grace" von Paul Lynch erschien (HC, gebunden) 2021 im Verlag Freies Geistesleben/Oktaven und umfasst 550 Seiten.


    Irland, 1845 zur Zeit der großén Hungersnot


    Grace, die Hauptprotagonistin dieses Romans, wird von Sarah, ihrer Mutter, die ihr 5. Kind erwartet, aber längst nicht mehr weiß, wie sie ihre Kinder sattbekommen soll, in Jungenkleidung als 14jähriges Mädchen weggeschickt, um selbst für ihr Essen und ihren Unterhalt zu sorgen.


    Die Ernte wurde vernichtet durch sehr viel Regen und die Zeit der Hungersnot, die viele Iren z.B. nach Amerika auswandern ließ und auch eine Million an Hunger starben zwischen 1845 und 1849. Dies ist der zeitliche Rahmen, in der dieser Roman spielt, der sehr lesenswert, aber auch keine leichte Kost ist:


    Colly, der 2 Jahre jüngere Bruder von Grace, wollte sich ihr unbedingt anschließen und später sollte Grace immer wieder Zwiegespräche mit ihrem Bruder halten. Der Leser beginnt also mit Grace seine Reise von Blackmountain an, wo Grace im Norden Irlands aufwuchs, um Richtung Süden zu wandern. Wir begegnen vielen Menschen, die sich hungernd durch die Straßen schleppen und versuchen, woanders ein Auskommen zu finden. Zerlumpte und ausgemergelte Gestalten, die oftmals nichts Gutes im Schilde führen, um zu überleben.


    So lernt man an Grace's Seite einen Mr. Soundpost und Clackton sowie andere kennen, die durch eine Verwechslung Grace für Tim halten. Ein Glück für sie, da sie nun für Mr. Soundpost vierzig Kühe zu einem Ort bringen soll und abends Milch und Mehlfladen für ihre Arbeit bekommt. In Gedanken ist ihr Bruder Colly immer dabei; er ist oftmals ihre innere Stimme und die Zwiegespräche sind wie die zweier Kinder oder Halbwüchsiger zu lesen. Der Autor verzichtet komplett auf die direkte Rede, was das Lesen jedoch zuweilen etwas mühsam macht.

    Allerdings ist der Schreibstil von Paul Lynch auch poetisch, bildhaft und sehr atmosphärisch: Immer wieder werden irische Landschaften wunderschön beschrieben, so dass man sich einem gewissen Sog, mit Grace auf Wanderschaft zu sein - mitsamt ihren Gefahren, aber auch ihren Beschützern und Weggefährten - nicht entziehen kann.


    Grace selbst ist ein kluges, intelligentes Mädchen, das während ihrer Wanderschaft zur Frau reift und ein John Bart, der später ihr Beschützer sein sollte, gerade zur rechten Zeit kommt: Er ist an ihrer Seite, zeigt ihr, wie man mit dem Messer richtig umgeht und auch ein alter Mr. Blister, mit dem sie sich eine Scheune teilt, erteilt ihr wertvolle Ratschläge und Tipps zum Überleben.


    Grace fühlt sich wie jemand, der "aus seinem alten Leben rausgerutscht ist - und die, die sie einmal war, verloren hat" (Zitat S. 104). Als Leser ist die Begleitung von Grace auf ihrer Wanderschaft durch das verarmte, hungernde Irland eine Herausforderung; einzig ihr Überlebenswille und auch Hoffnung sowie ihre Klugheit bewahren sie davor, zugrunde zu gehen wie so viele andere Menschen um sie herum. Lynch entwirft eine gespenstisch anmutende Landkarte dieser Hungersnot mit all ihren Schrecken, die man sich (so man Hunger noch nicht erleben musste) heute schwerlich vorstellen kann. Er beschreibt die Folgen der Ernteausfälle und die schrecklichen Auswirkungen auf die Menschen in unbeschönigenden Bildern bis hin zu Andeutungen des Kannibalismus, der vom Überlebenswillen des Menschen gefördert wird.


    Geister der Toten stehlen sich immer wieder in Grace's Leben, z.B. Mary Bresher, die beim Überfall auf ihre Kutsche gemeinsam mit ihrem Mann umkam. Das tägliche Sterben wird fast schon ironisch folgendermaßen beschrieben:


    "Der Teufel hat hier rumgetrödelt auf den Straßen, die nach Westen führen, und hat in jeder Ortschaft seinen Hut gelüpft". (Zitat S. 379)


    Gegen Ende des Romans gibt es ein sehr forderndes, verstörendes Kapitel, in der die Realität im Hungerwahn verschwimmt, es endet mit zwei schwarzen Seiten - vor dem Licht. Wieder bekommt Grace einen anderen Namen und durchschaut trotz aller Schwäche, sie ist dem Tod gerade nochmal von der Schippe gesprungen bzw. wurde von einem Father gerettet, dessen Hintergründe. Menschlichkeit taucht auch hier und da in helfender Form auf, über die man sich mit Grace sehr freut: Dr. John Allender meint es gut mit ihr und versorgt sie mit Münzen, Stiefeln und einem Cape, da über weite Strecken im Buch die Kälte ein Geselle des ständigen Hungers ist.


    Ihr Weg führt Grace zurück zu ihrem Heimatort, den sie anders vorfindet, als sie es sich mit Sicherheit erträumte; sie ist inzwischen fast 19 Jahre alt und ein sanfter Mann taucht auf, der einer verstummten jungen Frau ein Haus am Fluss baut, die mit ihrer Vergangenheit ringt, bei der sich Traum und Wirklichkeit noch immer verwischen bis sie loslässt - um im Hier und Jetzt mit Mann und Kind zu leben, dem Licht entgegen.


    Fazit:


    Ein verstörender, aber auch sehr poetischer Roman über eine junge Frau während der großen irischen Hungersnot (1845-1849), die viele Menschenleben forderte. Lynch beschreibt diese Zeit durch die Augen von Grace mit großer Sensibilität, sprachlicher Versiertheit und Klugheit, die aus vielen Sätzen spricht. Elend, Armut und Hunger bekommen ein grausiges Bild, das vor dem Auge des Lesers entsteht; die Handlung bezieht sich (ohne direkte Rede) immer auf die Perspektive der Hauptprotagonistin Grace. Einerseits gefiel mir der Roman gut, andererseits war er mir persönlich zuweilen zu langatmig und ausschweifend. Meine Bewertung liegt daher bei 3,5 Sternen.

    Jane Austen - "Von ganzem Herzen" (Die Briefe mit Illustrationen ihrer Zeit); ausgewählt und eingeleitet von Penelope Hughes-Hallett, erschien (HC, gebunden) 2021 im Verlag wbg Theiss, Darmstadt.


    Bereits das Cover mit Titel und Untertitel weist darauf hin, dass dies ein ganz besonderes Buch ist: Ein Briefroman mit vielen Briefauszügen von Jane Austen (1775-1817), einer sehr bekannten britischen Schriftstellerin aus der Zeit des Regency, deren Hauptwerke (Stolz und Vorurteil, Emma) zu den Klassikern der englischen Literatur zählen und sich bereits direkt nach Erscheinen einer großen Beliebtheit erfreuten: Die Autorin, zeitlebens unverheiratet, was für diese Zeit ungewöhnlich war und für eine Frau oftmals bzw. meist in bitterer Armut endete, war durch ihre schriftstellerischen Fähigkeiten (in denen sie als Frau ihrer Zeit oft voraus war) dazu in der Lage, ein selbständiges Leben zu führen. Bereits dies verdient meinen großen Respekt.


    Die Auswahl und Einleitung (Hughes-Hallett) sowie die wundervollen Illustrationen und beschaulichen Impressionen in Form von Tuschezeichnungen, Aquarellen, Aquatinta, Drucken und Stichen der damaligen Zeit entführen den Leser in die Welt von Jane Austen. Passende Romanausschnitte wurden den ausgewählten Briefen von Jane Austen hinzugefügt, wobei die meisten erhaltenen Briefe und ihre Korrespondenz an ihre Schwester Cassandra gerichtet waren, mit der Jane zeitlebens ein inniges Verhältnis verband und der sie sich sehr verbunden fühlte. Dem Vater war Jane Austen sehr zugewandt; sie war pflichtbewusst und eine liebevolle Schwester für ihre Brüder und besonders für Cassandra. Die Briefe verstärkten die familiäre Nähe; später sollte Jane Austen eine vergnügte und interessierte Tante werden und regen Briefkontakt mit ihrer Lieblingsnichte pflegen (sie selbst ist kinderlos geblieben). Auch davon zeugt dieser Briefroman, der in außergewöhnlicher Aufmachung und durch die wunderschönen Illustrationen die Bandbreite von Jane Austen betont und ihre Erfahrungen an den Orten, wo sie sich aufhielt. Auch die Reifung der Autorin zeichnen die Briefe und auch ihre Romane ab. So ist z.B. auch zu erfahren, dass Jane Austen als excellente Vorleserin galt.


    Das Buch gliedert sich in diverse Schaffensperioden und Wohnorte von Jane Austen:


    - Steventon (1796-1801) - stellen die frühen schöpferischen Jahre dar

    - Bath (1801-1805) - erzählt von Abschieden und Ungewissheiten

    - Southampton (1807-1809) - eröffnet neue Perspektiven

    - Chawton (1809-1813) - schafft Jane Austen ein neues und geordnetes Zuhause

    - Chawton (1813-1816) - bringen erfüllte Jahre mit sich

    - Chawton und Winchester (1816-1817) behandeln die letzten Tage von Jane Austen.


    Penelope Hughes-Hallett begibt sich nach der Brieflektüre (und dem Betrachten der Illustrationen, die schon außergewöhnlich sind und das Buch sehr aufwerten) mit dem geneigten Leser auf die Spuren von Jane Austen und es gibt sehr aufschlussreiche Anmerkungen zum Aufbewahrungsort der jeweiligen Briefe, die erhalten und handschriftlich verfasst wurden. Diese Anmerkungen haben mich ebenso fasziniert wie die Briefe und man wünscht sich, an die jeweiligen Orte zu reisen, wo sie heute aufbewahrt werden (u.a. in der British Library), um sie selbst in Augenschein nehmen zu können.

    Ein Register und Bildnachweise runden das Buch ab, das man auszugsweise immer wieder mal zur Hand nehmen kann.


    Fazit:


    Eine außergewöhnliche Sammlung ausgewählter Briefe von Jane Austen, die das Herz jeden Fans der berühmten Autorin, deren Hauptwerke (Stolz und Vorurteil, Emma, Northanger Abbey, Mansfield Park) auch verfilmt wurden, höher schlagen lassen: Es ist ein intimer Einblick in ihre Welt und die neue Auswahl an Briefauszügen und passenden Romanausschnitten, zusammen mit wundervollen und sehr reichhaltigen Illustrationen, lassen Jane Austen als Frau und als Autorin des frühen 19. Jahrhunderts greifbarer werden. Ich kann dieses schmuckvolle und sehr interessante Buch in Briefauszügen zum Leben der Jane Austen mehr als empfehlen und vergebe 5* sowie eine Leseempfehlung an alle Jane-Austen Fans und solche, die es noch werden wollen! Es eignet sich auch hervorragend als ein außergewöhnliches Buchgeschenk!


    ASIN/ISBN: 3806243360

    "Die Übersetzerin" von Jenny Lecoat, von Anke Kreutzer aus dem Englischen übersetzt, im Original "Hedy's War", erschien (HC, 2021) im Lübbe-Verlag.


    Jersey, Sommer 1940:


    Die Jüdin Hedwig Bercu (genannt Hedy) floh kurz vor dem Anschlüss Österreichs an Nazideutschland nach Jersey, um sich bald darauf auf der von den Deutschen 1940 besetzten Insel wiederzufinden... Nach Jersey ist sie mit Anton, einem Freund geflohen und beide versuchen, auf der Insel zu überleben.

    Im Falle von Hedy ist dies ein gefährliches Unterfangen: Sie ist als Jüdin nicht vor den Progromen der Nazis sicher und bekommt auf legalem Wege keine Arbeit mehr. Anton entdeckt eines Tages eine Anzeige, die auf eine Stelle im deutschen Lager als Übersetzerin hinweist und fragt Hedy, ob sie sich nicht für die Stelle bewerben will: Hedy bekommt die Stelle, da sie fließend Englisch und Deutsch spricht, aber zu einem hohen Preis, denn ihre Seele verabscheut den Krieg und die Nationalsozialisten....


    Durch ihre neue Arbeit lernt sie den Offizier Kurt Neumann kennen, der ihr anders erscheint als die verhassten Deutschen. Auch Kurt findet die junge Frau sehr sympathisch und sollte sich später in sie verlieben: Wird diese Liebe zwischen einer Jüdin und einem Soldaten der deutschen Wehrmacht durch die Zeit des 2. Weltkriegs bestehen bleiben können oder reißt es die beiden Liebenden auseinander?


    Jenny Lecoat, selbst auf Jersey aufgewachsen, stellt das Kennenlernen und die Anfänge der Beziehung zwischen Hedy und Kurt in den Mittelpunkt des Romans, der auf einer wahren Begebenheit beruht. Sie fängt die Atmosphäre in dieser schweren Zeit bei den Insulanern und den wenigen Juden, die sich dort zuvor sicher wähnten, sehr gut ein und mit dem weiteren Kriegsverlauf auch die Veränderungen auf der Insel: Spielten früher lachende Kinder am Strand, so werden nun (von Zwangsarbeitern) Befestigungsanlagen gebaut. Es gibt kaum Nahrung und die Bevölkerung leidet Hunger; viele sind auch zuvor von der Insel zu Verwandten oder Freunden nach England gegangen, da klar war, dass die Nahrung knapp wird und das Überleben schwer.


    Bevor der Freund Hedys eingezogen wird, lernt man noch Dorothea kennen; die er kurz vor dem Abschied heiratet: Dorothea scheint anfangs recht naiv und plappert drauflos, ohne nachzudenken, wobei später eine mutige und entschlossene Frau zu erkennen ist, die Hedy hilft, in dem sie sie bei sich aufnimmt. (Dorothea Weber, geb. Le Brocq, ist eine authentische Figur in Jenny Lecoat's Roman, die den "Status einer Gerechten unter den Völkern" in der Gedenkstätte Jad Vashem, Israel innehat). Auch Hedy ist auf ihre Weise sehr mutig und zweigt auf der Arbeit Coupons ab, die sie einem Arzt gibt, um zu helfen. Diese Taten sind für sie ein kleiner Ausgleich der Gerechtigkeit, von den Coupons kann auch sie sich Essen auf dem Schwarzmarkt kaufen und so einen kleinen Sieg über die Nazis erringen. Der Stil der Autorin ist flüssig zu lesen; atmosphärisch und emotional; auch die Bedrohung und die Furcht vor Entdeckung ist authentisch dargestellt; die sympathischen Figuren werden gut ausgeleuchtet.


    Das Hauptthema des Romans ist jedoch die schwierige Liebesbeziehung zwischen Hedy und Kurt, die breiten Raum einnimmt. Die Gefühle beider werden sehr authentisch und bewegend beschrieben. Auch Zeitgeschichtliches wie der Eintritt der USA in den 2. Weltkrieg oder die Rede Churchills werden genannt; wie überall werden auch auf Jersey die Radiogeräte von den Nazis konfisziert, um sicherzustellen, dass die Bevölkerung keine "Feindsender" hört (wobei sie jedoch nicht wussten, dass so manches dennoch gottlob auf einem zweiten Gerät durchaus gehört werden konnte).


    Die Angst vor Entdeckung versteckt sich unter der gesamten Handlung; besonders durch den Gestapo-Mann Wildgrube, der Kurt im Visier hat: Die beiden Liebenden müssen immer einen Schritt schneller sein und Verstecke finden, wo man Hedy unmöglich finden kann. So atmet man mit Hedy auf, als das Kriegsgeschehen sich wendet und die Kanalinseln befreit werden, die Deutschen abziehen müssen bzw. in Kriegsgefangenenlager überstellt werden.

    Der Epilog ist ein Hoffnungsschimmer, der die Zukunft von Hedy und Kurt begleitet; "sie würden es schaffen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, zu neuen Ufern aufzubrechen und Abenteuer zu erleben" (Zitat S. 316).


    Fazit:


    Historisches Zeitgeschehen und eine unmöglich erscheinende Liebesgeschichte in der Zeit der Besatzung von Nazideutschland im 2. Weltkrieg mit einer authentischen Figur auf der Kanalinsel Jersey, der für LeserInnen sehr empfehlenswert ist, die Historisches bevorzugen und auch darin verwobene Liebesgeschichten mögen, die hier im Vordergrund steht. Ich vergebe 4 Sterne und eine klare Leseempfehlung.


    ASIN/ISBN: 3785727569

    ansonsten.... mich freuen, dass wir am Samstag einen Tagestrip an die schöne Mosel gemacht haben (Bernkastel-Kues) - wobei mir Kues besser gefiel (lecker Eis, lecker Espresso)... als Bernkastel (ausser natürlich die wahnsinnig tollen alten Häuser), aber nicht die vielen Touris.... :wow

    Es war wohl der letzte sommerlich-warme Tag, heute herbstelt es hier im SW doch schon sehr....

    Und ich hab endlich meine Rezilinks zu Benjamin Myers "Der perfekte Kreis" bei vorab verlinkt...

    Nun freu ich mich auf's Weitergucken diese Woche von "Poldark" Staffel 4 (leider schon die vorletzte Staffel... ;()

    War ich bereits von "Offene See" des schottischen Autors Benjamin Myers sehr begeistert; steht "Der perfekte Kreis" dem vorigen Roman in nichts nach: Hier entführt uns Myers in die Welt der sagenumwobenen Kornkreise in England und zu zwei sehr interessanten jungen Männern, die unterschiedlicher nicht sein könnten, aber eines gemeinsam haben: Den Mythos um die Kornkreise zu nähren und nach Schönheit zu streben (dabei jedoch nie die Wahrheit zu offenbaren). So lassen uns die beiden, die eine tiefe Freundschaft verbindet, an ihren Kornkreis-Projekten teilhaben:


    Südengland im Sommer 1989


    Redbone und Calvert, jene beiden Freunde, um die es im Roman geht (und um so vieles mehr, dass eine Rezension nicht ausreicht), die sich schon länger kennen, begeben sich wieder im Verlauf des Sommers '89 auf ihre "nächtlichen Missionen", um Großes zu erschaffen, um Kornkreise in die vollreifen (und später dürregeplagten) Felder Südenglands zu arbeiten, die sich immer auf eine Nacht erstreckt.


    Redbone, ein früherer Punker und als Relikt aus dieser Zeit momentan in seinem VW-Bus lebend, ist oft in Erinnerungen versunken, etwas "versponnen", vom Mond gebannt, geht gemächlichen Schrittes durchs Leben und ersinnt (oftmals in bewusstseinserweitertem Zustand) die unglaublich komplexen, sich steigernden, ideenreichen Muster, die in seinem Kopf entstehen, die er in Plänen entwirft (die später als potentielle Beweismittel stets entsorgt werden) und die er seinem Freund Calvert kurz vor ihrer jeweiligen nächtlichen Mission als Skizze zeigt, die er stets freihändig und ohne Hilfsmittel entwirft. Er lehnt (aus seiner Vergangenheit resultierend) Obrigkeiten stets ab und das Anlegen und Schaffen der Kornkreise ist für ihn ein Akt der Befreiung, gegen die Ordnung zu verstoßen.


    Calvert ist im Gegensatz zu Redbone eher introvertiert. Versteckt aus eigenen Gründen sein Gesicht stets hinter einer Sonnenbrille und einem Rauschebart und sucht für ihr Vorhaben stets mit militärischer Präzision (er war bei einer Spezialeinheit des SAS und wurde viele Jahre militärisch gedrillt) die geeigneten "Leinwände" (Felder) aus, die möglichst abgelegen platziert sind, so dass mit keinen unvorhergesehenen Störungen von außen zu rechnen ist.

    Er lebt in einem winzigen Haus, ist im Winter eher depressiv und teilt die Vorfreude des Freundes auf den Sommer, besonders auf ihre nächtlichen Missionen, in denen sie immer besser werden.


    Wir erleben nun die beiden in den Nächten, in denen das jeweilige Kornkreisprojekt praktisch umgesetzt wird - vom Alton-Kenneth-Pfad über ein Sonnenpendel, ein Wal und eine Schnecke bis hin zu dem Throstle-Henge-Asteroidencollier und dem opus magnum: Dem Honigwabe-Doppelhelix-Projekt; allen ist jeweils ein Kapitel gewidmet. Amüsiert liest man die Zeitungsberichte am nächsten Tag, die ein Teil des Vergnügens von Redbone und Calvert darstellen und sozusagen ein Teil des Lohns ihrer schweißtreibenden Arbeit. Wobei sie stets darauf achten, keinen Halm zu knicken und so das Korn nicht beschädigen (was ein Farmer sehr zu schätzen weiß).

    Eine gewisse Spannung ist bei jedem Projekt vorhanden, da immer die Gefahr derEntdeckung lauert und beide Freunde (einem unverhandelbaren Ehrenkodex folgend) sich dessen immer bewusst sind.


    "Der nächste Kornkreis ist immer ein Leuchtturm, ein Licht der Hoffnung inder seltsamen Geisterlandschaft ihrer einsamen Existenz". (S. 166)


    So wird auch die englische Landschaft von Myers sehr wertschätzend beschrieben; bildhaft und poetisch, wie es seine Art ist und sein unverwechselbarer Schreibstil darstellt. Sprachlich ist dieser Roman ein Lesegenuss, der jedoch sehr anspruchsvoll ist und die Konzentration des Lesers erfordert.


    Die Themen sind vielfältig: Vor allem geht es um Freundschaft zwischen zwei sehr unterschiedlichen Menschen, die es dennoch schaffen, völlig symbiotisch Kornkreise anzulegen, die äußerst komplizierte Muster aufweisen und dennoch ohne viel Worte (aber in weiter Entfernung) zur Perfektion gebracht werden. Es geht um Lebenssinn, Traumata (für Calvert ist die nächtliche Mission, in der man ihn auch mitunter durchaus militärisch erleben kann ;), eine Form der Therapie; darum, etwas Sinnvolles, Magisches zu erschaffen, das die Menschen in den Bann schlägt und zum Überlegen bringt.


    Myers versteht es auf sehr berührende, sensible Weise, jeden Satz sehr bildhaft und kraftvoll sowie ausdrucksstark auf unsere "Leinwand" des Buches zu projizieren, so dass man immer wieder über das Gelesene nachsinnen und die Poesie und Schönheit des Textes, die den ersonnenen Mustern von Redbone ziemlich gleichkommt, einfach genießen kann.


    Es gibt auch literarische "Seitenhiebe" auf den Motorsport, die Aristokratie in England, die noch heute eine gewisse Macht ausübt (Grundbesitz).Die detaillierten und wunderschönen Beschreibungen der Natur auf dem Lande bei Nacht, die szenarisch kaum übertroffen werden kann, zeugt von der Liebe des Autors zur Natur. Gegen Ende des Sommers bedauert man das trockene, ausgedörrte England - das symbolisch stehen könnte für die heutige Zeit der Klimakatastrophe mit Dürreperioden und Starkregen, Unwettern, die bereits begonnen hat. Mit Redbone zweifelt man daran, "dass dieser große kreisende, verschmutzte Planet es schafft, die Kolonialisierung derMenschheit zu überstehen" (Zitat S. 61).


    Man könnte diesen Roman durchaus als denkwürdigen Weck- oder Aufruf dazu verstehen, den Planeten Erde zu schützen, statt ihn weiterhin zu plündern und zu konterminieren. Demut gegenüber der Natur, Achtung und Respekt zu haben - und danach zu handeln! Im weitesten Sinne geht es somit auch um die Zukunft derMenschheit, die ohne diese Achtung vor der Natur, vor der Erde, die uns Nahrung gibt und überhaupt erst leben lässt, ihrem eigenen Untergang geweiht ist. Denn "die Zukunft hat schon begonnen"!

    Von mir eine absolute Leseempfehlung und 5* an Redbone's nächtlichem Betrachterhimmel ....

    Dieses ganz besondere und auch sehr persönliche Kochbuch von Rainer Klutsch (vielen bekannt auch aus dem TV) stellt Rezepte seiner Familie vor; insbesondere seiner Oma Edith, die in hohem Alter 2019 verstarb. Erschienen ist es (HC, gebunden) 2021 im Verlag arsvivendi.


    Das Buch enthält ausser vielen einfachen, aber sehr leckeren Rezepten von Oma Edith einige stimmungsvolle und wunderbare Fotos der Region Siebenbürgen, des heutigen Rumäniens und auch Familienfotos des Autors. Für die fotografische Arbeit zeichnet Stephanie Trenz und gibt diesem Kochbuch damit nochmals eine Aufwertung fürs Auge.


    In den 70er Jahren flüchtete Oma Edith mit ihrer Familie wie viele andere, da das Leben für deutsche Siedler im kommunistischen Rumänien nicht sehr einfach war. Rainer Klutsch war jedoch mit seinen Brüdern in den Ferien oft in Siebenbürgen und entwickelte so bereits früh eine Liebe "für das einfache und doch besondere Essen", das geprägt war von Lebensmitteln, die im Laufe des Jahreszyklus eben zur Verfügung standen (incl. Eingemachtes im Winter), da es Supermärkte nicht gab.


    So kochte Oma Edith mit Liebe und viel Zeit einfache, aber sehr leckere Gerichte und es ist ein Herzensanliegen des Autors, dass die Rezepte seiner Großmutter (die ebenso wie einige Traditionen und Brauchtümer dieser Region im Buch persönlich vorgestellt wird) weitergegeben werden. Dies ist ihm mit Bravour gelungen, wie ich finde.

    Ich habe zwar selbst keine Vorfahren, die aus Siebenbürgen stammen, aber auch mag die einfache, einfallsreiche und besondere Küche sehr, die exotische Gewürze oder Zutaten, die man nicht eben um die Ecke beim Händler bekommt, verlangen. Daher erhält dieses wirklich tolle Kochbuch einen Ehrenplatz in meinem Kochbuchregal.


    Die Gliederung des Buches ist ebenfalls überzeugend; auf Vorwort und einen Einblick in die siebenbürgisch-sächsische Speisekammer (Hauptzutaten) folgen tolle und wirklich leicht nachzukochende Rezepte der 4 Jahreszeiten:


    Einige unserer bisherigen Favoriten sind z.B.

    - Gefüllte Paprika

    - Hähnchenpaprikasch

    - Kümmelsuppe

    - Eiersalat und Bratkartoffeln

    - Hanklich (Aprikosenkuchen)


    Herzhaftes wie auch Süßes (z.B. Palukes, ein Maisbrei, der mit Milch gegessen wird) sind in diesem wundervollen Kochbuch gleichermaßen zu finden und ich freue mich besonders auf die Umsetzung des "Krautwickel" Rezepts auf Siebenbürger Art und die Buchteln - typische Herbstgerichte, die wir sehr mögen!


    Ein Register am Buchende sorgt für ein schnelles Finden des jeweils gesuchten Rezepts und ein letztes Familienfoto schließt dieses sehr persönliche - und für mich ganz besondere - Kochbuch von Oma Ediths Rezepten ab. Ich bin sicher, sie hätte sich über dieses Buch sehr gefreut und gebe eine absolute Lese- und Nachkoch- bzw. backempfehlung mit Bestwertung! 5*


    ASIN/ISBN: 3747202470

    "Wildtriebe" von Ute Mank erschien (HC, geb.,2021) im dtv-Verlag und entführt den Leser auf den "Bethches-Hof" in Hessen, den die im Roman alt gewordene Großbäuerin Lisbeth Ende des 2. Weltkrieges erbte, da ihre Brüder gefallen waren. In die Rolle der Bauersfrau hineingewachsen, arbeitet sie an der Seite ihres Mannes Karl zeitlebens auf dem Milchbauernhof und übernimmt alle traditionellen Rollen klaglos, die auf einem Hof für sie anfallen.


    Als Sohn Konrad Marlies heiratet, kommt damit eine neue Frau auf den Hof, die von nun an "Bethches-Marlies" ist. Beide Frauen spüren, dass es nicht leicht sein wird, miteinander auszukommen: Während Lisbeth so aufgewachsen ist, sich alles von den älteren Frauen (und der Mutter) abzugucken, macht Marlies trotz aller Bemühungen vieles anders, was zuweilen für Zündstoff sorgt. Marlies möchte mehr vom Leben als eine Bäuerin sein; diese Rolle liegt ihr nicht wirklich: Während Lisbeth ganz selbstverständlich in diese Rolle und ihre Aufgaben hineinwuchs, hat Marlies das Bedürfnis, einen Ausgleich zu haben: So macht sie den Jagdschein und später lernt sie, Traktor zu fahren. Sie hilft mit, wo sie kann, unterstützt ihren Mann Konrad, aber möchte auch ins Modehaus zurückkehren, wo sie vor ihrer Heirat gearbeitet hat.


    Nach einigen Jahren (auch wann sich Nachwuchs einstellt, mochte Marlies nicht dem Zufall überlassen, sondern dann, wann sie es für richtig hielt) kommt Tochter Joannaauf die Welt: Einige Zeit ist das Verhältnis von Marlies und Lisbeth ein wenig entspannter, doch Freundinnen werden sie nie. Joanna wächst heran und macht nach dem Abitur erst einmal ein soziales Jahr; sie fliegt nach Afrika und sollte später innerlich und äußerlich verändert zurückkommen: Sie wollte mit ihren Freunden die Realschule besuchen, während ihre Mutter sie zum Besuch des Gymnasiums drängte, da sie "ja immer nur ihr Bestes" wollte...


    In diesem Roman, der die HauptprotagonistInnen sehr sensibel ausleuchtet und für so manches Kopfschütteln beim Lesen sorgt, geht es um Traditionen, die von der älteren Lisbeth aufrecht erhalten werden wollen; um Selbstbestimmtheit und sich anpassen; um Erwartungshaltungen und tradierte Rollenvorstellungen, die sich nicht nur auf dem Land - aber eben auch dort - in den letzten 70 Jahren für Frauen sehr gewandelt haben:


    Während Lisbeth niemals eine andere Wahl hatte, als Bäuerin zu werden, den Hof weiterzuführen "so wie es immer war" und nach Jahren der Kinderlosigkeit doch noch hofft, Mutter zu werden, bestimmt Marlies diesen Zeitpunkt selbst: Setzt sich über die unausgesprochene Erwartungshaltung der Großeltern hinweg, um ihnen dann doch noch Joanna als Enkelkind zu präsentieren: Diese geht jedoch ihren ganz eigenen Weg, auf den Marlies schon längst keinen Einfluss mehr hat. Hier tat mir die Mutter etwas leid, da sich zwischen Joanna und ihrer Großmutter Lisbeth eine engere Bindung offenbarte als dies zwischen Marlies und Joanna der Fall war: Ihre Beziehung empfand ich als eher unterkühlt mit wenig Nähe und Offenheit. Gegen Ende des Romans stimmen diese "emotionalen Proportionen" jedoch wieder und vielleicht hat Joanna ihrer Mutter unbewusst geholfen, "den Weg frei zu machen, um sich selbst zu entfalten"?


    Die Dialoge fand ich sehr interessant wie auch den geradlinigen, schnörkellosen Schreibstil von Ute Mank, der mir gut gefallen hat: Ich bin sicher, dass sich hier viele Frauen in Lisbeth, in Marlies oder auch in Joanna wiederfinden, da auch ein Stück Zeitgeschichte transparent gemacht wird: Was für unsere Großmütter undenkbar schien, ist heute absolut möglich; z.B. ein Kind auch ohne einen Vater aufzuziehen.


    Etwas bedauert habe ich, dass die männlichen Protagonisten Karl, Konrad und auch der Knecht Alfred, der zeitlebens auf dem Hof gearbeitet hat, im Dunkeln blieben: Hier ging es mehr um die Sicht der Frauen, auch die Beziehungen betreffend: So wird z.B. klar, wie sehr sich Marlies und Konrad bereits auseinanderlebten, als sie zusammen den leeren Kuhstall ausfegen; es ist eher ein sich-aus-dem-Weg-gehen als ein "aufeinander zugehen". Hier litt ich eher mit Konrad, dessen Lebensinhalt der Bethches-Hof eben auch war und der fortan in der Fabrik arbeitete als die - dennoch verständliche - Reaktion von Marlies teilen zu können: Das Fehlen der Kühe bedeutete für sie auch eine Erleichterung, eine positive Veränderung...


    Das Leben auf einem Hof (damals ohnehin und heute sicher ebenso) unterliegt ganz eigenen Gesetzen, die naturbedingt von den Tieren und den Arbeiten "diktiert" werden. Nicht jeder ist für solch' ein Leben geschaffen, dem ich (als Enkelin eines Landwirts) sehr großen Respekt entgegenbringe und dessen "Aura" ich durch eine Freundin, deren Eltern einen 400 Jahre alten Hof in der Pfalz hatten, ich selbst kennenlernen durfte. Die Autorin hat auch Sozialkritik anklingen lassen: Viele Milchhöfe wurden durch die EU-Gesetze sanktioniert, wenn sie zu viel Milch produzierten und viele haben aufgrund der schlechten Bezahlung der Landwirte ihren Betrieb aufgeben müssen, da es sich einfach nicht mehr rentierte. Sehr traurig, wie ich finde.


    Ich fand besonders Lisbeth sehr authentisch und mochte sie; ebenso wie Marlies, die meiner Generation angehört und deren analytische Gedanken ich oft sehr klug und richtig fand


    "Aussuchen können musste man es sich, was man werden wollte. Frei darüber entscheiden" (S. 110)


    Ein schönes Abschlussbild "krönt" diesen sehr lesenswerten Roman um drei Frauen, die ihre typischen Generationskonflikte hier auf dem Bethches-Hof austragen: Großmutter und Enkelin sitzen einträchtig auf der Bank und Lisbeth sieht den Bethches-Hof, auf dem es nun keine Kühe mehr gibt, mit ganz anderen Augen, "so, als hätte sie ihn noch nie zuvor gesehen".

    Gerne empfehle ich "Wildtriebe" weiter; viele Frauen aller Generationen werden sich in ihm teilweise wiederfinden - und sich angesprochen fühlen. (Und ausser Generationskonflikten trägt der Roman eine Menge Potential in sich, aufzuzeigen, wo die verschiedenen Generationen auch durchaus voneinander lernen können - und es auch tun!).


    4,5 *

    Vorneweg muss ich sagen, dass Rafik Schami seit vielen Jahren bzw. Jahrzehnten zumeinen Lieblingsautoren gehört: Seit dem Lesen von "Erzähler der Nacht" durfte ich so manches Werk von ihm kennen- und schätzenlernen. Nicht anders erging es mir auch mit "Mein Sternzeichen ist der Regenbogen", dem neuen Roman des Autors. In dieser Anthologie versammeln sich viele Geschichten und Texte, die den Leser bewegen, zum Nachdenken anregen, betroffen machen - und ihn zum Schmunzeln bringen: Bei allem Ernst verlässt Rafik Schami nicht sein Humor, denn"das Lachen ist der beste Schmuggler für Gedanken".


    Die Themen sind sehr vielfältig wie das Leben selbst; doch viele Geschichten handeln von Träumen, von Trennung und Tod, natürlich auch von der Liebe, von Flüchtlingen und Exil, vom Reisen, vom Lachen, von Geheimnissen und von der Sehnsucht, die dersyrische Autor nach 50 Jahren Exil selbst gut kennt und immer wieder Geschichten über sie hört:

    Schami beschreibt den komplexen Kern der menschlichen Sehnsucht, die sich auf eine Person, eine Landschaft, eine Zeit (die Zeit der Kindheit z.B.) beziehen kann. Bis heute gibt es keine eindeutige Definition und dieses Gefühl ist oftmals mit Leid und Schmerz verbunden.


    In der Geschichte des "syrischen Klassentreffens" fragte ich mich wieder einmal, wie ein Mensch es aushält, seiner Heimat, seinem geliebten Geburtsort fernbleiben zu müssen, da er Gefahr läuft, bereits am Flughafen verhaftet zu werden; ich stelle mir dies sehr schwer vor.


    Doch ich bin auch sehr froh darüber, dass der junge Rafik Schami den Rat eines Freundes ernst genommen hat, der ihm zur Ausreise riet und ihm klar machte, dass erder geborene Geschichtenerzähler sei!


    "Meine" Lieblingsgeschichten sind "Geburtstag mit Nebenwirkungen", in dem man mit einem Verleger, Herrn Sander, dessen 60. Geburtstag feiert. Er sitzt über einer Grabrede für einen Freund nachsinnend bei seinem Lieblingsitaliener (alleine) und dieser Geburtstag verläuft vollkommen anders, als Herr Sander sich das wohl gewünscht hätte. Er muss sich dieses Mal seiner Vergangenheit (und sechs Frauen) stellen, es gibt dieses Mal kein Entkommen.


    "Wie Herr Moritz die Welt bereiste" gehört ebenfalls zu meinen Lieblingsgeschichten und der Autor gibt uns in seiner unnachahmlichen Erzählkunst so manche Lebensweisheit mit auf den Weg. Hier geht es um Dialekte, um Nationalismus, um das Aufbrechen in ein neues Leben nach dem plötzlichen Tod des Lebenspartners, ums "Dazugehören" und um das "sich Aufmachen", das Herr Moritz auf eine Bank führt, auf der er nicht alleine bleibt. Eine Freundschaft schließt und Reisen unternimmt. Humorvoll weist der Autor darauf hin, dass das uralte Kulturvolk Iran "sein Lachen sehr geübt auf alle 52 Wochen verteilt, während das Lachen in der Pfalz (wo der Autor selbst wohnt) in nur 2 Wochen aufgebraucht wird" (auf der Kirchweih, Kerwe, Fastnacht). Und "dass die Iraner leichter lachen als wir, obwohl sie es schwerer haben" (S. 132) Diese Geschichte fand ich wunderschön, menschlich und sehr zu Herzen gehend.


    Eine betroffen machende Geschichte ist "Zwei Reisen", in der so viel Wahrheit steckt und die auch zum Nachdenken anregt: Hier begleiten wir Frank Thalheimer, einem Professor für Geschichte aus München nach Udine. Dort will Thalheimer in einer Auszeit über sich und sein Leben nachdenken (und besonders darüber, weshalb ihn alle Frauen, die er je liebte, verlassen haben).

    Auch Nadine, die Berichte aus fernen Ländern an Rafik Schami schreibt und auf die ihr eigene Weise die Welt bereist, fand ich sehr berührend.


    In "Die alte Frau und der eigenwillige Geist" (die mich stark an eines meiner Lieblingsmärchen erinnerte, nämlich "Aladin und die Wunderlampe"), lernen wir Amarkennen. Diese verlor bereits in jungen Jahren ihren Ehemann und blieb allein, sich um ihren Garten und ihre Rosen kümmernd. Wir erfahren, dass "die Neugier die Geburtshelferin der Klugheit" ist und fragen uns mit dem Geist: "Was ist derMensch?"


    In vielen Geschichten, teils in Deutschland, aber auch in Damaskus und Syrien verortet, spielt der Tod oder eine Trennung eine wichtige Rolle, der das Leben derHinterbliebenen nachhaltig verändert. Missgunst, so Schami, entsteht oft aus Langeweile und Einsamkeit: Mit scharfem Blick, aber auch viel Humor schreibt er über Geheimnisse, Geheimsprachen, auch über das Verhalten und die Einstellung derMenschen zu den Mitgeschöpfen, dem Tier: Einerseits wird es (Haustiere) verhätschelt, andererseits gequält (Nutztiere, Massentierhaltung). Hier geht es um die Lebensgier des Menschen, der sich über seine Mitgeschöpfe stellt (und hierzu kein Recht besitzt).


    Rafik Schami liebt es, nach einer Lesung mit Freunden zusammenzusitzen. Hier bekommt er oft "Geschichten als Geschenke" wie z.B. "Das Protokoll" von dem 70jährigen Syrer Elias, die ebenfalls in den Roman eingeflossen ist und niemanden ob ihrer Aktualität kalt lassen kann. Auch gibt er einiges "Persönliches" preis: So wissen wir nun, dass er ein leidenschaftlicher Koch ist; Erich Kästner mag, Angst vor Hunden hat und eine unersättliche "Gier nach Geschichten". ;-)


    Die Kunst des Erzählens beherrscht Rafik Schami par excellence, ich hatte vor Jahren die Freude, ihn bei einer "Lesung" in Darmstadt live zu erleben: Er transportiert viele Inhalte in seinen Geschichten, die auch im Sinne eines Lernens oder Verbessern interkultureller Fähigkeiten zu verstehen sind: Ich denke, dass dies das Ansinnen des Autors ist, ob in Kinder- und Jugendbüchern, Märchen oder seinen Romanen: Das Eintauchen (und verstehen lernen) in seine Geschichten empfinde ich stets als eine Bereicherung der literarischen und kulturellen Vielfalt. Für das Jahreshighlight und seine Erzählkunst danke ich Rafik Schami und vergebe demzufolge 5* prachtvolle Sterne!


    ASIN/ISBN: 3446270876

    "Sturmvögel" von Manuela Golz erschien (2021, HC) im Dumont-Verlag und das Cover, das auf den Geburtsort einer kleinen Nordseeinsel von Emmy, der 86jährigen Hauptprotagonistin des Romans, hinweist, gefällt mir ausnehmend gut. Das gleiche gilt auch für die Zeilen, die sich zwischen den beiden Buchdeckeln verbergen:


    1907-1994


    Emmy wird als ältestes Kind von Janne und Andries Peterson auf einer kleinen, kargen Nordseeinsel geboren. Im Verlauf des Romans erfahren wir, wie hart und dennoch auch glücklich das Leben einer Familie vor über 100 Jahren dort gewesen sein muss: Andries gehört zu den letzten Walfängern und heiratet Janne, die recht mittellos ist, den Hof jedoch mittels (möglichst männlicher!) Nachkommen sichern hilft: Nach Emmy kommen jedoch noch zwei weitere Töchter auf die Welt und der einzige Sohn wird tot geboren. Für Janne eine Katastrophe, die sie völlig aus der Bahn wirft. Nach dem Tod der Mutter verliert Emmy auch ihren Vater und nach den Gepflogenheiten der Insel werden die Kinder in alle Himmelsrichtungen abgegeben: Die Jüngste wird adoptiert und Emmy, fast 14, muss nun für sich selber sorgen und ihre Kindheit endet mit der Fahrt nach Berlin, wo sie in den wilden 20er Jahren ihren Dienst als Hausmädchen einer gutbürgerlichen Familie antritt.

    Dort lernt sie Hauke kennen, der ihr das Schwimmen beibringt, sie ausführt und ihr "sein" Berlin zeigt, das auch den Besuch von Variétés nicht ausschließt. Die beiden heiraten, zum Entsetzen seiner Mutter Charlotte, die sich eine "gute Partie" (besonders in finanzieller Hinsicht) für ihren Sohn wünschte und bekommen 3 Kinder: Hilde, Otto und Tessa, die Jüngste wurde 1945 geboren....


    Eines Tages findet Hilde, die älteste Tochter von Emmy, alte Schriftstücke und Grundbucheinträge im Keller ihrer Mutter, um die sie sich vorwiegend kümmert und Otto, dessen Trödelladen mehr schlecht als recht läuft und der immer finanziell am Abgrund steht, nimmt sich der Sache gerne an: Tessa hingegen ist erst einmal nicht bereit, die Geschwister in dem Ansinnen zu unterstützen, was sich hinter den Akten verbergen mag...


    Zum einen lernen wir Emmy als junge Frau kennen; die couragiert ist, stets nach vorne blickt und voller Humor sowie Lebenslust steckt, zum anderen sehen wir die 86jährige, noch sehr rüstige und agile Emmy, die sich nun doch einigen Geheimnissen ihres Lebens stellen will und muss, denn sie hat nicht mehr allzuviel Zeit dazu...


    Der Roman spielt auf mehreren Zeitebenen und gibt Einblicke in die Welt von damals: In die Zeit der beiden Weltkriege; der Weltwirtschaftskrise und der Nachkriegszeit. Obgleich Emmy und Hauke sehr unterschiedlicher Natur sind, ist er doch zur Stelle, als sie seine Hilfe braucht. Auch Marianne, die Hebamme, die alle Kinder von Emmy half, zur Welt zu bringen, ist eine interessante Figur und sehr gute Freundin, die mit ihr durch dick und dünn geht. Am Romanende spielt auch sie eine Rolle, als es um das Eröffnen des Testaments und den Gang zum Notar geht: Wie wird Marianne entscheiden, was mit dem Brief ihrer Freundin zu tun ist?


    Eine weitere Figur ist Anni, die ebenso wie Emmy früh ihre Eltern verlor und von Emmy und Tessa großgezogen wird: Sie studiert Sozialarbeit und hier fand sich leider ein Klischee, das mir weniger gut gefiel; denn es ist unrichtig, dass "alle Kinder, die fremdplatziert werden und in einem Heim aufwachsen, nach und nach vor die Hunde gehen, aus der Bahn geworfen werden" (S. 150). Richtig aber ist eher, dass man "im Jugendamt als Mitarbeiter Kindern weniger helfen kann, als sie zu verwalten". Aus diesem Grunde habe ich selbst mich auch nie in einem Jugendamt bewerben wollen, sondern war lieber in der offenen Kinder- und Jugendarbeit beschäftigt.


    Inwiefern es wichtig ist, dass auch Anni bei der Notarsitzung eingeladen ist, muss der Leser selber erfahren. Auch gibt es noch andere "Geheimnisse" zu lüften, die mich persönlich nicht überraschten, jedoch in das Gesamtbild des Romans passten. Die Autorin schreibt sehr gefühlvoll und durch den atmosphärischen Sprachstil kann man sich das Leben Emmys in den verschiedenen Lebensphasen sehr gut vorstellen und sie gedanklich begleiten: Das grausamste Vorkommnis war für mich, als die Geschwister als Kinder getrennt wurden und ich habe es bedauert, dass die beiden anderen Mädchen mit keiner Silbe mehr erwähnt wurden. Inspiriert wurde diese Geschichte durch das Leben der Großmutter der Autorin, wodurch sehr vieles authentisch wirkt.


    Fazit:


    Ein warmherziges Portrait einer starken Frau, die ihren Humor und auch ihre Liebesfähigkeit selbst in schwierigsten Lebenssituationen nie verlor und zugleich auch das Portrait eines politisch bewegten 20. Jahrhunderts. Gerne empfehle ich "Sturmvögel" weiter und vergebe 4,5 Sterne.