Hi Babyjane,
ich hoffe, Du erlaubst, dass ich Dich stellvertretend als meine größte Kritikerin in diesem Thread persönlich anspreche. Ich befürchte nämlich, dass Deine Vorwürfe zumindest teilweise auf einem Missverständnis beruhen. Vermutlich sagt Dir der Begriff „Alternate Reality Game“, kurz ARG, ebenso wenig wie mir bis noch vor wenigen Monaten. Vielleicht hast Du ja Lust den neutralen Wikipedia Artikel zu lesen, aus dem auch hervorgeht, dass es sich hierbei nicht nur um eine von Dir verdammte Werbe- oder PR-Maßnahme handelt, sondern ein neues Medium ist, dass auf der ganzen Welt immer mehr Anhänger findet. (http://de.wikipedia.org/wiki/Alternate_Reality_Game)
Am ehesten ist ein ARG mit einer interaktiven Schnitzel- und Rätseljagd vergleichbar, bei dem die ARGONAUTEN (so nennen sich die Spieler in Deutschland) wie bei einem Rollenspiel mehrere Rätsel gemeinsam lösen müssen, denen sie sowohl im Netz (mysteriöse Webseiten, Emails, Chats, etc.) aber auch in der Realität (Tatorte, Treffen mit Schauspielern, Zeitungsanzeigen, etc.) begegnen.
Oberste Regel eines solchen ARG ist: „This is not a game“. Aufgabe der Spielemacher (Puppet Masters) ist es dafür zu sorgen, so stark wie möglich die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwinden zu lassen. Daher ist - anders als z.B. bei „Mensch Ärgere Dich Nicht“ - eine lockere Verabredung zum Spieleabend ausdrücklich nicht gewünscht. Bereits die Einladung zum Spiel sollte ein spannendes Rätsel sein.
Bei dem von mir und dem Verlag erstmalig zu einem Buch inszeniertem ARG (www.push11.com) wurden Blumensträuße mit einer gruseligen Videobotschaft verschickt. Ich glaube, hierin liegt Dein Hauptvorwurf, dass wir dadurch Unbeteiligte hätten zu Tode ängstigen können. Da hast Du Recht, das darf nicht passieren. Aus diesem Grund wurden die (11) Blumensträuße in erster Linie an internet – und krimiaffine Blog- oder Forenbetreiber gesendet, die sich bereits an einem ARG zuvor beteiligt hatten. Da das in Deutschland aber nicht so viele sind (es fanden meines Wissens erst zwei ARG zuvor statt) und die Mitspieler auch keine Lust haben immer nur in der gleichen Runde zu spielen, wurde der Kreis um handverlesene Personen erweitert, bei denen man davon ausgehen konnte, dass sie durch ihre Beschäftigung mit den Medien Buch und Internet, Interesse an einer Einladung zum Spiel haben könnten. Aus diesem Grund habe ich ausdrücklich Wolke vorgeschlagen, die übrigens dank der Hilfe der Eulen sehr schnell hinter den Spielcharakter gekommen ist und auch aktiv mit großem Vergnügen daran teilgenommen hat.
Du, Babyjane, (und natürlich alle anderen kritischen Eulen hier) hätten genau aus den von Dir beschriebenen, möglichen negativen, Folgen für die Psyche niemals einen Strauss an ihre Privatadresse erhalten.
Ich muss allerdings zugeben, dass uns auch Fehler unterlaufen sind, die ich sehr bedauere. So haben wir einen Strauß zu einer Spielerin geschickt, die (was wir natürlich nicht wussten) schon seit vielen Jahren gestalked wird. Sie stand nur auf der Einladungsliste, weil sie zuvor schon an einem ARG teilgenommen hatte. Natürlich habe ich mich bereits persönlich bei ihr entschuldigt. Ich will an dieser Stelle ihre öffentliche Reaktion im Chat nicht breit treten, aber ich erkenne anhand Deiner Kommentare zu dieser Entschuldigung, dass Du das Chatprotokoll selbst nicht gelesen hast. Solltest Du Lust haben, es nachzuholen, findest Du es hier:
http://www.zetagrid.de/~chris/arg2.txt)
Ich glaube, danach relativieren sich einige Deiner Vorwürfe.
Da das ganze ein sehr komplexes Thema ist, habe ich folgenden, einfachen Vorschlag, Babyjane: Wie wäre es, wenn ich Dich zu meiner Premiere am 10. Januar nach Berlin einlade? Nicht, um Dir mein neues Buch schmackhaft zu machen, sondern um Dich mit den Organisatoren und vor allen Dingen mit den Mitspielern zusammen zu bringen, die (anders als Du selbst) direkt betroffen waren weil sie einen Strauß erhalten haben.
Hier kannst du die Menschen persönlich und kritisch zu dem neuen Medium befragen, was meiner Meinung nach in Zukunft immer populärer werden wird. Hinter ARGs stecken nämlich Hunderte von begeisterten, enthusiastischen Menschen, die mit unglaublicher Hingabe wochenlang rund um die Uhr Spielzüge vorbereitet, Rätsel entwickelt bzw. gelöst haben und die es meiner Meinung nach nicht verdient haben, als profane Werbefuzzis abgestempelt zu werden.
Übrigens: Sinn des Spiels war es nicht herauszufinden, dass ich bzw. „Das Kind“ dahinter stehe - das haben wir ganz bewusst bereits in der Mitte des Spiels offen gelegt, damit die Mitspieler entscheiden sollten, ob sie sich mit dem Produkt indentifizieren können, das dieses Spiel finanziert. (Denn das ist auch den Argonauten klar - ein drei-Wochen-rund-um-die-Uhr-Spiel ist nicht billig.)
Bei push.11.com ging es um viel mehr: Zum ersten Mal konnten die aktiven und passiven Mitspieler den ungeschriebenen Prolog eines Romans selbst aktiv gestalten und in der Realität erleben. Tausende von Usern konnten „live“ mit Figuren aus meinem unveröffentlichten Roman chatten, emailen, das Tagebuch von Simon (dem Kind) lesen, seinen Psychiater Dr. Tiefensee kennen lernen (www.wer-war-ich.org), mit dem Killer telefonieren und „fast“-reale Tatorte in Berlin aufstöbern. Alleine beim Abschlussevent haben sich 20 Spieler aus ganz Deutschland am Teufelssee in Berlin eingefunden, wo sie ein Satellitentelefon fanden, das am Strand klingelte. Am Telefon war ich mit verzerrter Stimme, die den Spielern befahl, zu einem Mülleimer zu gehen. Dort war ein Päckchen mit Augenbinden, die sich die Argonauten (freiwillig) anlegten, obwohl ich sie in der Rolle des Killers mit dem Tode bedrohte. Sie wurden dann „verschleppt“ und fanden sich 20 Minuten später in dem Aufzug wieder, den man in dem Einladungsvideo sah. Hier mussten sie auf „11“ drücken (push 11) und fuhren dann zu der Etage, wo ich (und eine Party) auf sie wartete. Eine Fotodokumentation findet sich hier:
http://www.iphpbb.com/board/ftopic-53892909nx106152-115.html
Sooo, nun habe ich Dich/Euch hier zugeposted, entschuldige bitte die lange Ausführung. Ich wollte auch nicht der Leserunde vorgreifen, in der ich natürlich jederzeit auch nochmals dazu Rede und Antwort stehe.
Aber wie gesagt, meine Einladung (Anreise und Unterkunft) nach Berlin zum Argonautentreffen steht. Vielleicht bist Du ja daran interessiert aus erster Hand von den Eindrücken und Erfahrungen der Mitspieler und Macher zu erfahren.
In jedem Falle muss ich Dich vorwarnen – ich bin fest überzeugt, dass ARGs eine große Zukunft besitzen und sich gerade beim Buch zu so etwas wie den Bonus-Tracks auf DVDs entwickeln werden – also kostenloses Zusatzmaterial (wie hier der ungeschriebene, interaktive Prolog), das es nicht im Buch sondern nur in der „virtuellen“ Realität gibt. Aus diesem Grund habe ich die Frage der Mitspieler im Chat und in den Foren, ob ich denn auch ein weiteres ARG zu meinen nächsten Büchern plane, ausdrücklich mit „Ja“ beantwortet.
Ganz liebe Grüße und einen schönen, dritten Advent
Sebastian