Teil II
Gern nimmt sich Boyd auch Nabokovs despektierlicher Formulierungen an, wie man oben sehen kann oder zum Beispiel, als Boyd Rezensenten, die Nabokov nicht feierten, als „Schreiberlinge“ verunglimpft.
Gegenteilige Meinungen zu N.s Ansichten, Arbeiten, Wahrnehmungen etc. klassifiziert Boyd in schöner Regelmäßigkeit als Attacke (wenn auch nur einmal mit genau diesem Wort.)
N.s außerordentliche Fähigkeit zur genauen Beobachtung und dessen präzises Gedächtnis setzt Boyd immer in das Licht einer Leistung, die zu bewundern und eben auch als Leistung anzuerkennen wäre.
Da will er für seinen N. wohl zu viel des Guten. Der hätte es sicherlich nicht gemocht, dass eine Fähigkeit bereits als Leistung zu Markte getragen wird. Dass er diese Fähigkeiten zu nutzen wusste, um seine Kunst zu vollbringen, stellt einen anderen Sachverhalt dar.
Es hat eine geraume Weile gebraucht. Auf Seite 777 war es dann soweit, dass es mich leicht angeödet hat. Und nicht nur das, auch Boyds lobpreisende Tendenzen erregten zunehmend meinen Widerwillen.
Exkurs - Nabokov und sein Dostojewski
Ein Wort, das ich mag: ambivalent.
Vielleicht ist es daneben die treffendste Entsprechung für N.s Verhältnis zu Dostojewski. In Folge sind einige gesammelte und von mir kommentierte Fragmente aufgeführt, die einen solchen Schluss nahelegen könnten.
Das Interessanteste erscheint mir jedoch, in was diese Ambivalenz begründet ist.
„Nabokov hielt (…) wenig von Dostojewskij, und er bestand darauf, dass er zu wenig Akademiker sei, um Bücher zu behandeln, die er nicht mochte.“ S. 486
Er tat es indessen dennoch. Weshalb?
„Wenn ein Autor seine belanglose und willkürliche philosophische Phantasie einer wehrlosen Person aufbürdet, die er eigens zu diesem Zweck erschaffen hat, bedürfte es einer Menge Talent, damit das Kunststück gelingt.“ S. 214
So hat Dostojewski natürlich schlechte Karten, da all seine Personen personifizierte Ideen gewesen sind. Damit übertraf Dostojewski in gewisser Weiser sogar Belinskis Auffassung von der Aufgabe der Literatur.
Will man manchen Einschätzungen folgen, die D.s „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ als
Replik auf Tschernyschewskis „Was tun“ zu begreifen, kommt natürlich einiges von Nabokovs Vorwürfen zum Tragen. In N.s Ausschließlichkeit sollte man jedoch über solch ein Stück Literatur nicht den künstlerischen Bann aussprechen!
In Anmerkungen zu einem Lenskij-Gedicht spricht N. von „Journalisten des Belinski-Dostojewski-Sidorow-Typs“.
Von Dostojewski nimmt sich sowieso jeder als das was er mag.
N. nahm ihn sich als Künstler vor. Und von dem was Kunst ist, hatte N. bekanntermaßen
seine eigenen engen Maßstäbe, die er eben „Ordnung der Dinge“ betitelte:
Dostojewski ist für N. bestenfalls “schlechte Kunst“ und die hat bei N. „keinen Platz in der
Ordnung der Dinge.“ S. 172 Konkreter formuliert in Nabokovs Ordnung.
N. spricht bereits von zweitklassigen Schriftstellern. Als Steigerung formuliert er in einer
Vorlesung „und im Hintergrund schimmert auch noch der ärgste Dostojewski hindurch.“ S. 214
Er nutzt Dostojewski als Pseudonym, für alles, was keinesfalls Kunst sein kann.
Vielleicht liegt in Nabokovs egozentrischem Kunstbegriff die Ursache für meine unterstellte Ambivalenz: Als Künstler ist Dostojewski nicht von Belang. Als schriftstellerischen Handwerker achtet er ihn und erkennt Dostojewskis kompositorische Fähigkeiten hoch an.
Den Missbrauch von Kunst / Literatur verabscheut N. geradezu. Moralische Wirkung von Kunst wolle Nabokov keinesfalls bestreiten. Bis zum „letzten Tintentropfen“ wolle er hingegen das „absichtsvolle Moralisieren“ bekämpfen, da es „jede Spur von Kunst abtötet“.
S.90 „Die Kunst wurde zu oft in ein Werkzeug zur Verbreitung von Theorien – politischen wie moralischen – verkehrt, …“ S. 172
Moralisch könnte N. jedoch vom Grundsatz her das ein oder andere von Dostojewskis
Intentionen unterschreiben.Wenn es sich derart verhalten sollte, bliebe immerhin festzuhalten, dass Dostojewski N. durchaus erreicht hat, denn N. hat es nicht vermocht, Dostojewski mit Ignoranz zu strafen.
Und dass er so etwas konnte, ist unbestritten.
Neid als Triebfeder für die auszumachende Ambivalenz halte ich für ausgeschlossen.
In seinen Vorlesungen zum Überblick über russische Literatur, wurde Dostojewski vonNabokov überhaupt nicht erwähnt. (Vgl. S. 469)
Ein Mit-Professor der Slawischen Abteilung an Harvard nannte N.s Ansichten über D.schrullig. S. 461 Dostojewski war demnach öfters Gegenstand N.s, als man aufgrund seinerVorlesung meinen sollte.
„Da er noch sechsundfünfzig Aufsätze über Dostojewski zu zensieren hatte…“ S. 181
N. wollte von seinem Studenten auf keinen Fall Informationen nach dem Motto Was will uns der Dichter damit sagen. Alles, nur das nicht. So stellt sich die Frage, weshalb lässt er dann die Studenten einen Aufsatz über Dostojewski schreiben? Die Aufgabenstellung(en) würden mich mal interessieren.
Weshalb ist Dostojewski klar benannter Gegenstand seiner Vorlesung?! Wenn N. was für Schrott erklärt hatte, dann hatte es auch keinen Platz in seiner Ordnung. Insofern räumt er Dostojewski, sollten seine Abfälligkeiten ernst gemeint gewesen sein, eigentlich zu viel Raum ein.
N. soll Dostojewski, nach Boyd, „völlig abgetan“ haben. S. 720
Das bisweilen allerdings mit einer Menge Arbeit und Interesse und nicht nur in einer Lebens-
bzw. Schaffensphase. Seiten weiter gibt Boyd dann an, dass N. gleichfalls bezüglich Dostojewskis Werk gegenüberFreunden die Stärke der Bücher hervorgehoben haben soll. Diese Diskrepanz sehe ich in der Biographie nicht aufgelöst.
Es fällt auf, dass sich Dostojewski durch die gesamte Biographie zieht und D. bei N. oft und bei verschiedensten Gegebenheiten auftaucht. Selbst als Begrüßung von Kollegen bzw.Bekannten: „Glauben Sie, dass irgendein ernstzunehmender Schriftsteller heute noch immer meint, dass Dostojewski schreiben konnte?“ S. 443
N. kann / will Dostojewski nicht ausblenden:
1917 schrieb N. auf der Krim sogar ein kleines Poem über Dostojewski
1923 will N. Dostojewski mit Gleb Struve übersetzen
1930 Vortrag N.s „Dostojewski ohne Dostojewski-itis“
1932 im Werk Verzweiflung finden sich mehrere Bezüge zu Dostojewski
Selbst im Titel sollte es einen Bezug geben - wurde dann aber verworfen
1946 N. liest Dostojewski zum wiederholten Mal
1947 Dostojewski lässt seine Studenten Aufsätze über Dostojewski schreiben
1950 Im Rahmen seiner Lehrtätigkeit ist Dostojewski gleichberechtigter Teil neben Tolstoi, Puschkin, Turgenjew, Tschechow und Gogol (also Schriftstellern die er hoch schätzte)
1951 will N. Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Kellerloch in den Lehrplan aufnehmen nannte es dabei für sich despektierlich Aufzeichnungen aus einem Mauseloch
1953 ist Dostojewski wieder Teil des Lehrplans
1964 schreibt er an Wilson: „Letzterer (Dostojewski) ist ein Drittklassiger Schriftsteller, und sein Ruhm ist mir unbegreiflich.“
Fragen
Weshalb steht N. auf den ausgesprochen lehrmeisterhaften Tolstoi?
Er passt in N.s Vorstellung von Kunst. Und seine lehrmeisterhafte Umtriebigkeit durchzieht
vermutlich eher Tolstois Leben als dessen Werk. Das wär ein Unterschied zu Dostojewski.
Die Dostojewski-Vorlesung als Profilierungsmittel?
Hatte er zu diesem Zeitpunkt es noch nötig, zu solchen Mitteln zu greifen. Kann man sich an der Uni eine solche Vorlesung als aussichtsreiche Methode vorstellen?
War es N. vielleicht sogar ein tieferes inneres Bedürfnis, sich mal richtig über Dostojewski
„auszukotzen“, weil er nicht von ihm loskam?
Dostojewski-Exkurs Ende
Stückwerk
N. wies darauf hin, dass ein Leben im Hotel „von der Unannehmlichkeit privaten Besitztums enthebt“. Hier spricht er mir aus der Seele! Leider kann ich ihm nicht aus Erfahrung zustimmen. Aber könnte ich, täte ich es.
Amüsante Bemerkung eines „Konkurrenten“ Nabokovs auf die Fürsprache pro Nabokov für einen Lehrstuhl und dass Nabokov ja ein wichtiger Schriftsteller wäre: „Selbst wenn man berücksichtigt, dass er ein wichtiger Schriftsteller ist, stellt sich doch die Frage, ob wir als nächstes einen Elefanten bitten, die Professur für Zoologie zu übernehmen.“ S. 461
Das Polemisieren gegen Dostojewski in seinen Vorlesungen empfand ich recht erfrischend.
N. konnte freilich auch schlichter. Über „Catch 22“ von Joseph Heller lässt er sich wie folgt aus: „Dieses Buch überflutet einen mit Kitsch, dialogischer Diarrhö, dem automatischen Ausstoß eines weitschweifigen Schreibmaschinenschreibers.“
Da war ich kurz angeschlagen, da mich Catch 22 und alle weitere Bücher von Joseph Heller begeistern.
Es wäre wissenswert, was er den von Kurt Schwitters & Co. gehalten hätte. Hat N. in seiner
Herablassung diese Entwicklung etwa gar nicht wahr/ ernstgenommen?
Überdies irgendwie generell vernachlässigt: Entwicklung N.s und seiner Kunst im Kontext
gesellschaftlicher Verhältnisse und künstlerischer Strömungen und Entwicklungen.
Fazit
Im Klappentext des zweiten Bandes wird die Biographie eine „herausragende Biographie“ betitelt. Trotz meiner sinkenden Begeisterung beim Lesen (ab der zweiten Hälfte des zweiten Bands) und den obigen Nörgeleien kann ich diese Einschätzung in der Gesamtschau gelten lassen. Das Lesen war keine vertane Zeit.