Beiträge von Buecherturm

    Türen, die sich öffnen und schließen, sich drehen und wenden, neue Perspektiven eröffnen.


    Unglaublich stimmungsvoller Roman. Ob im kolonialen Südostasien der 20er Jahre oder in Südafrika Mitte des 20. Jahrhundert, Tan Twan Eng fängt die Atmosphäre wunderbar filigran ein, zeigt uns eine längst untergegangene Welt voller Exotik und Schönheit.

    Es ist auch eine Welt voller Schmerz und Tränen. Persönlicher Schmerz, Menschen die von den Konventionen der Zeit gezwungen, in lieblosen Ehen gefangen sind. “Schweigend saßen wir da und verbargen unsere wahren Gedanken. Das, was eine Ehe aufrecht erhielt, was sie Jahr für Jahr weiter bestehen ließ, waren die Dinge, die unausgesprochen blieben, die Wahrheiten, die wir so gern offenbart hätten, aber hinunterschluckten, zurückdrängten in die tiefsten, dunkelsten Winkel unserer Herzen.” (S. 296)

    Aber auch der soziale Schmerz der Kolonialzeit kommt zur Sprache. Die Briten fühlen und führen sich wie die Herren auf, alles muss ihnen unterstehen. Und die Sultanate Malaysias, die nicht von Briten besetzt sind, müssen britische Berater dulden.

    Eine historische Person ist Ethel Proudlock, deren Geschichte damals, 1910 die Politik bewegte: Eine weiße Frau erschießt ihren Liebhaber, wird von einem englischen Gericht in Kuala Lumpur zum Tode verurteilt, doch der Sultan begnadigt sie, mit der Bedingung, das Land sofort zu verlassen. Die Kolonialzeit hat seltsame Blüten getrieben. Der Sultan darf die Frau zwar begnadigen, aber nicht über sie richten. Die Geschichte ist vielleicht auch deshalb von Bedeutung, weil ein berühmter englischer Schriftsteller sie literarisch verarbeitete.

    Wir erfahren etwas aus dem Leben des britischen Schriftstellers William Somerset Maugham, der auf seinen ausgedehnten Reisen in Südostasien auch in Malaysien einige Zeit verbracht hat. Mit ihm beginnt auch der Roman, genauer gesagt, mit einem Ausspruch von ihm: “Eine Geschichte kann einen Namen über die Wolken, ja über die Zeit hinaustragen wie ein Vogel der Berge”.

    Eine andere verbriefte historische Persönlichkeit im Roman ist Dr. Sun Yat Sen, der sich nichts geringeres als Lebensziel gesetzt hatte, als den chinesischen Kaiser zu stürzen und wurde erster provisorischer Präsident Chinas. Während seiner Zeit als Revolutionär und von den chinesischen Machthabern verfolgt, hielt Sun Yat Sen vor den in Malaysia ansässigen Chinesen etliche Vorträge, getarnt als Vorlesungen über chinesische Literatur, hauptsächlich über “Geschichten über Rebellionen und Verschwörungen zum Sturz von Kaisern” (S. 135). sozusagen ein Wink mit dem Zaunpfahl, gegen den jedoch die chinesische Botschaft nichts einwenden konnte.

    Das Buch ist in Ich-Form geschrieben. Leslie Hamlyn erzählt von ihrem Leben in Penang, im Kasuar Haus, von ihrer zunehmend lieblosen Ehe mit dem Rechtsanwalt Robert Hamlyn, von ihrer Liebe zu dem Chinesen Dr. Arthur Loh, einem Freund und Unterstützer von Sun Yat Sen.

    Die Häuser spielen im Roman eine große Rolle. einmal das Kasuar Haus in dem Leslie mit ihrer Familie wohnt, umgeben von einem großen Garten, eine Veranda, die zum Verweilen einlädt, Gästezimmer für Somerset Maugham und seinem Sekretär und Liebhaber, die Kinderzimmer, Wohnzimmer, Frühstückszimmer, kurz, allen Annehmlichkeiten eines englischen Landhauses in Fernost. Oder, mein Favorit, das Haus der Türen von Arthur Loh. An den Wänden und in den großen Räumen hängen alte Holztüren von Tempeln oder alten Häusern. “Langsam drehten sich die Türen in der Luft wie im leichten Wind um sich selbst trudelnde Blätter, endlos fallend, nie die Erde berührend.” (S. 211)

    Unglaublich schöne Sprachbilder (gekonnt übersetzt von Michaela Grabinger) nehmen die Leser gefangen, lassen sie innehalten und das Gesagte visualisieren: “Libellen mit Buntglasflügeln steppten unsichtbare Nähte in die Luft.” (S. 290). Eines der schönsten Bilder ist die Szene im Meer: “Das Wasser war warm wie Blut…Als ich mich umdrehte, waren das Haus und der Strand in einer Falte der Nacht verschwunden… Plötzlich schwammen wir im kobaltblauem Feuer, und jeder Beinschlag, jede Armbewegung entzündete die ringsum wirbelnden Planktonstürme. Mein Lachen zerriss die lautlose, windstille Nacht, und Willie stimmte ein. Wir tauchten die Köpfe in das flackernde Meer, und wenn wir sie wieder nach oben brachten, spritzte Feuer von unseren Lippen… Ich schöpfte das Meer mit den Händen und staunte über die Feuerschlangen, die sich an meinen Armen hinunterwanden. Wir grinsten uns voller alberner, kindlicher Freude an. Unsere nackten Körper waren im Wasser zu sehen, doch wofür hätten wir uns schämen sollen? Wir waren ja nur zwei in Bernstein eingeschlossene Insekten.” (s. 307-308).

    “In dieser Nacht glitten wir Seite an Seite zwischen den Seesterngalaxien dahin, während hoch über uns die Asterisken aus Licht die Fußnoten auf der Seite der Ewigkeit kennzeichneten.” (S. 309).

    Es sind diese Bilder, die zusammen mit den behandelten Themen das Buch unvergesslich für mich machen.


    ASIN/ISBN:
    ISBN 978375580018-7 [buch]

    Geballtes und kompaktes Wissen in einem Comic

    Zugegeben, es war riskant, solch ein in die Tiefe gehendes Sachbuch in einen Comic zu pressen. Aber mir scheint, die Autoren haben die Aufgabe bravourös bewältigt.

    Der Aufbau ist ein gelungener Mix aus gegenwärtiger Forschung, dargestellt von dem Autorenpaar Cline und Fawkes, beginnend mit den Archäologen und Geschichtswissenschaftlern, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis heute im ganzen vorderen Orient an der Thematik arbeiten einerseits und andererseits die zwei jungen Zeitgenossen der Bronzezeit Pel und Schescha, die uns, die Leser, aufmerksam und voller Fakten durch die Jahrhunderte begleiten. Im ganzen Buch werden keine Behauptungen aufgestellt, die nicht durch Ausgrabungen oder Tontafeln oder andere Belege untermauert werden. Was in ägyptischen Inschriften dargestellt wird, wird mit hethitischen, sumerischen, ugaritischen, mykenischen, hebräischen,usw. Texten verglichen und “ins Kreuzverhör" genommen.

    Ich kannte die Problematik der exakten Kartierung und Datierung des Troja des Priamos schon und fand es hier im Comic wieder bestätigt. Die Wissenschaft ist sich bis heute nicht einig, welche der vielen Schichten des antiken Troja die Schicht des großen Krieges war.

    Die weit verzweigten und intensiven Handelsbeziehungen rings um das Mittelmeer der Bronzezeit waren für unser heutiges Verständnis unglaublich. Ohne Kompass, ohne Sextanten, ja, sogar ohne GPS (!) wurden alle Häfen rings ums Mittelmeer und darüber hinaus angesteuert und reger Handel getrieben.

    Etwas anderes fiel mir auf:die alten Griechen nannten alle, die nicht in einer griechischen Polis geboren waren, “Barbaren”, unzivilisierte Fremde. Und genau das sind aber die griechischen Stämme, alle “Seevölker von den Inseln” für die Ägypter.

    Ein Verzeichnis der im Buch genannten Herrscher und Herrscherinnen mit kurzen Angaben zur Regierungszeit und Land sowie zweier Zeittafeln ergänzen das Buch. Die eine Zeittafel widmet sich dem Altertum, die andere zeigt chronologisch die Abfolge der archäologischen Entdeckungen. Wobei ich bei der zweiten Tafel vielleicht mit Champollion und dem Stein von Rosetta begonnen hätte.

    Ein neuer Blick auf eine bewegte Geschichte der Menschheit rund ums Mittelmeer


    ASIN/ISBN: 3534610547

    Edit: ISBN korrekt eingesetzt, damit das Cover angezeigt wird. Gruß Herr Palomar

    Ein Augen öffnendes Buch


    Tuberkulose ist seit Anbeginn der Menschheit eine Krankheit mit tödlichem Verlauf. Im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts dachte man, nur Weiße können daran erkranken, alle anderen Menschen, ob Schwarze, Asiaten oder Indigene können gar nicht daran erkranken,w eil sie zu dumm und ungebildet dafür seien. Tuberkulose wird nur durchgeistigte Menschen befallen, wie z.B. Frederic Chopin oder John Keats und Percy Shelley. Die Krankheit wurde romantisiert, “das Bild der geläuterten Erscheinung, des blühenden Geistes, während der Körper welkt” (S. 66).

    Doch dann, mit der einsetzenden industriellen Revolution, als die Städte rasant anstiegen und die Tuberkulose in den Armenvierteln der Städte grassierte, war die Krankheit auf einmal nicht mehr so edel.

    Leider sterben auch heute noch jährlich 1,5 Millionen Menschen daran. Tuberkulose ist seit gut 70 Jahren behandelbar und komplett heilbar. Aber, wie Green so treffend sagt: das Heilmittel ist da, “wo die Krankheit nicht ist und die Krankheit da ist, wo das Heilmittel nicht ist” (S.11). Sprich, in Westeuropa, Canada, Japan, Australien und USA ist die Krankheit rückläufig, in Osteuropa, Südostasien, Südamerika und vor allem Afrika ist TB auf dem Vormarsch.

    In Deutschland, genauer, in Bad Schönborn nahe Heidelberg wurde bei einem Schüler Tuberkulose diagnostiziert. untersuchungen ergaben, der Schüler hatte seinen gesamten Jahrgang unwissentlich infiziert und insgesamt 109 Schüler und Lehrer angesteckt. Die Krankheit wurde schnell und effizient behandelt, heute sind alle geheilt. Aber das war jetzt, im 21. Jahrhundert in Deutschland. Der gleiche Fall in einer Schule in Afrika wäre komplett anders verlaufen.

    John Green deckt diese versteckten Zusammenhänge auf, die zwischen der Krankheit, den Patienten, dem sozialen und nationalen Milieu, in denen die Menschen leben, vorherrschen.

    Was dem Buch etwas von dem schrecklichen Aura nimmt, sind Anekdoten über die Tuberkulose: ob es das Attentat von Sarajevo ist, oder der 47. Bundesstaat der USA, New Mexico, die Entstehungsgeschichte des Stetson Hutes. Robert Koch und Louis Pasteur haben in diesem Buch auch Ehrenplätze, genau wie der Arzt und Schriftsteller Dr. Arthur Conan Doyle.

    Am meisten hat mich die Geschichte von Henry Reider, dem jungen Tuberkulose-Patient aus Sierra Leone. John Green beginnt das Buch mit ihm, im Laufe des Buches kommt er immer wieder vor, mal lebt er auf, mal geht es ihm so schlecht, dass wir um sein Leben bangen. Zum Schluss erfahren wir, Henry ist vollständig genesen, er hat den Schulabschluss gemacht, hat studiert und bestreitet heute mit seinen Videos auf YouTube und TicToc den Lebensunterhalt für sich und seine Mutter. Henrys Geschichte macht Mut, den Kampf gegen die Tuberkulose aufzunehmen.


    Vor neuen, unbekannten Krankheiten können wir uns innerhalb eines Jahres schützen. Aber was ist mit Krankheiten, die seit Jahrtausenden die Menschheit bedrohen?


    ASIN/ISBN: 3446284435

    Edit: ISBN angepasst Gruß Herr Palomar

    Eine Kathedrale mal anders

    Habe schon etliche Kathedralen und Dome besichtigt und war jedes Mal überwältigt. Den Brand von Notre Dame in Paris habe ich im Fernsehen gesehen und geweint, weil ich sie vorher ein paar Mal besucht hatte. Darum war die Vorfreude auf dieses Buch besonders groß, es wird mir einen neuen, zusätzlichen Blick auf diese Art der sakralen Bauten verschaffen. Und ich wurde nicht enttäuscht.

    Von einem Sonntag sieben Uhr morgens im Frühjahr 1481 bis Dienstag, 20. August 1566 werden Geschichten und Anekdoten rings um die Kathedrale von Antwerpen, der Liebfrauenkirche, aber auch von anderen großen Kirchen Europas erzählt, vom Leben der Herrschenden, der armen Stadtbevölkerung, von Händlern und Reisenden, von Kirchgängern, Prälaten, Predigern, Wanderpredigern, von Katholiken, Reformatoren und Täufern, sie sind alle in diesem Buch vertretern. Wir erfahren vom makabren Beruf der Hundetotschläger, von Huren und Dieben. Volksfeste und Prozessionen, Tage des Trubels, Karneval und Feierlichkeiten im Wechsel mit den Fastenzeiten, Könige und Kaiser rissen sich um die damaligen Länder von Burgund und Flandern, um die reichen Städte, von denen Antwerpen eine der reichsten war.

    Der gleiche Schmutz der auf den Straßen herrschte, es gab ja keinen Mülltransport, keine Kanalisation, Schweine und Gänse undHühner suchten sich in den Gassen das Futter, Nachttöpfe wurden ohne viel Federlesens aus dem Fenster auf die Straße gekippt, Menschen verrichteten ihre Notdurft ungeniert an allen Ecken auf den Gassen. Nun, diese Misere wurde an den Schuhen in die Kirchen reingetragen. In den Kirchen kam noch der Brauch hinzu, die Toten innerhalb der Kirchen zu begraben. Täglich wurden Steinplatten beiseite geschoben, die Toten ins Grab gelegt, über andere Leichen, dann kamen viele streunende Hunde in die Kirchen, hinterließen Kot und Urin an allen Ecken, Säulen, vor allen Altären. Ungewaschene Bettler, ungewaschene Bürger, ungewaschene Adlige kamen in die Kirche. Ein wahrer Christenmensch brauchte sich nicht waschen, solange sein Gewissen rein war. Sauberkeit war der Kirche suspekt. Allein die Juden wuschen sich regelmäßig. Wer sich also wusch, war verdächtig, ein Jude zu sein. Kein Wunder also, dass Seuchen an der Tagesordnung waren. Alle paar Jahre wütete die Pest, dazwischen Cholera, Ruhr, Typhus. Die wurden mit Teilnahme an Prozessionen bekämpft. Der Erfolg blieb aus.

    Wendy Wauters Buch ist reich an all diesen Fakten und Begebenheiten. Sie lässt das Mittelalter vor unseren Augen lebendig werden. Zahlreiche Abbildungen, die in der Mitte des Buches gesammelt sind, belegen Wauters Texte.

    Das Buch ist kein Pageturner, will es auch nicht sein. Es bietet fundiertes und dokumentiertes Wissen über das Leben im Mittelalter und über die Liebfrauenkirche in Antwerpen. So stelle ich mir ein Sachbuch vor.


    ASIN/ISBN: 3534610644

    Edit: ISBN korrekt eingesetzt, zwecks Verlinkung Gruß Herr Palomar

    Wann habt Ihr zum letzten Mal gedingst?

    Marc Uwe Klings Humor ist unwiderstehlich. Ob ein verliebten Roboter in Quality Land oder hier Jugendliche beim Dingsen ertappt werden, ich musste schallend lachen. Schön auch, dieses Buch scheint ein gemeinsames Familienprojekt zu sein.

    Und nun, was ist das für ein Buch? Als ordentlicher Mensch muss das Buch in eine Schublade passen. ISt es ein Fantasy? Sprich ein modernes Kunstmärchen? Oh ja, auf jeden Fall. Ist es ein Thriller? Und noch was für einer! Allererste Sahne. Macht die Lektüre des Buches Spaß? Und wie! Die witzigen Dialoge, die Art wie sich Elos und die Zwillinge verständigen, ohne viel Worte, jeder weiß, was der andere denkt, ist unnachahmlich.

    Wie in einem echten Thriller gibt es auch im Buch eine, nein, gleich zwei hollywoodreife Szenen, in denen sich die guten (unsere Helden) und die Bösen (die Nachtmagier und Anhänger des alten Kaiserreichs) offen gegenüberstehen und sich bekämpfen. Aber die Auflösungsszenen danach fand ich unübertroffen. Elos erscheint mit seinem Sohn Naru und mit seinem Freund Silas vor dem König und klärt den Fall des gestohlenen Szepters restlos auf, muss dabei lügen, denn dem König soll man nicht unbedingt alles verraten. Parallel dazu erzählt ebenfalls mit vielen Lügen, Minna ihre Variante der Geschichte den beiden Mädchen. Aber Elos verwendet Notlügen während Minna aus Spaß fabuliert und übertreibt. Die beiden Narrative, von Elos und Minna ergeben dann letztendlich das ganze Bild.

    Das Schönste an diesem Buch? Familie Kling bringt die Geschichte schön zu Ende und legt aber auch gleich die Spuren für ein zukünftiges Buch, so denn sie mal die Lust am Geschichten weiterspinnen packt. Nur zu!

    Fabulieren und fantasieren auf aller höchstem Niveau


    ASIN/ISBN: 3550203071
    Edit: ISBN korrekt eingesezt, zwecks Verlinkung. Gruß Herr Palomar

    Der Titan der deutschen Literatur im amerikanischen Exil

    Auf der Flucht vor den Nazis treffen sich in Kalifornien die renommiertesten und größten Literaten, Musiker, Künstler, Kunstmäzene und Schauspieler, die Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert geistig geprägt haben. Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Alfred Döblin, Vicki Baum, Theodor W. Adorno, Bertolt Brecht und Thomas Mann, der einzige Literaturnobelpreisträger unter ihnen. Einigen wenigen gelingt es, finanziell gut dastehen. Thomas Mann unternimmt Vortragsreisen, Lion Feuchtwangers Bücher sind auch in den USA ein Erfolg. Aber Brecht, Döblin oder Heinrich Mann und vielen anderen geht es finanziell nicht gut. Viele schreiben Drehbücher für die Filmindustrie und kommen so über die Runden.

    Zu den Vorträgen, die Thomas Mann hält, quer durch die USA, kommen noch Radiosendungen hinzu, für die Radiohörer in Deutschland.. Diese Vortragsreisen und die Radiosendungen, aber auch die Gespräche, die er mit jungen Amerikanern führt, so sie sich trauen, zu ihm zu kommen, all dies hält ihn vom Schreiben ab. Mit ungeheurem Fleiß und Disziplin hat er im Exil seine Josef-Romane zu Ende gebracht, er hat Lotte in Weimar geschrieben, er hat Doktor Faustus geschrieben. Aber er hat auch Essays verfasst, über Goethe, Richard Wagner, Sigmund Freud, “Bruder Hitler”, Friedrich Nietzsche. und Arthur Schopenhauer. Seine Radiosendungen zwischen 1941 und 1945 sind gleichzeitig auch Essays, die er sehr sorgfältig geschrieben hat und an seine deutschen Hörer gerichtet hat. Er unterscheidet sehr genau zwischen den Schergen des Naziregimes und dem deutschen Volk. Für einen selbst deklarierten unpolitischen Menschen setzt er sich sehr aktiv politisch ein. Einerseits um anderen Exil Deutschen in den USA zu helfen, andererseits durch seine Radiosendungen an das deutsche Volk.

    1946, der Krieg ist zu Ende, steht Thomas Mann vor neuen Herausforderungen: “Die Realität ist schneller als Thomas Mann. Manches Mal hatte ihn die Furcht geplagt, er müsse noch einen weiteren Roman schreiben, bis die NS-Herrschaft vorüber ist. Aber am Ende ist deren Untergang erfolgt, bevor Manns Erzähler [Der Zauberberg] Serenus Zeitblom es mitschrend miterlebt. Mann schreibt nun gleichsam der Realität hinterher, in der die Nürnberger Prozesse bereits kurz vor dem Abschluss stehen.” (S. 131)

    Ein paar Worte zum Stil Martin Mittermeiers: einigen mag er umständlich erscheinen, schräg, nicht leicht zu durchdringen. Ich finde ihn ehrlich, dem schwierigen Thema eines so großen Autors voll angepasst. Charmant, spritzig ironisch, aber auch sehr ernst und gleichzeitig knapp: “Später am Abend nehmen die Manns die Nachricht von der Versenkung eines Passagierdampfers durch ein deutsches U-Boot zur Kenntnis, auf dem sich viele Kinder zur Evakuierung von England nach Kanada befanden. Zwei Tage später erfahren sie, dass ihre Tochter Monika mit ihrem Mann auf dem Schiff war. Monika wurde nach zwanzig Stunden in einem Rettungsboot geborgen, ihr Mann starb, mit ihm 246 weitere Menschen, darunter 73 Kinder. Nicht leicht zu hassen, in diesen Zeiten” (S. 33) Dieser knappe letzte Satz geht zu Herzen.

    Literaturgeschichte und spannende Auseinandersetzung mit den deutschen Schriftstellern im amerikanischen Exil während des unsäglichen Dritten Reichs.


    ASIN/ISBN: 3755800330

    Wer sagt denn, dass nur druckfrische Krimis spannend sind? Margery Allinghams Buch, erstmals 1931 erschienen, ist genauso spannend. Ein junger Mann merkt, dass er entführt wird, verliert aber nicht den Kopf, sondern befreit sich geschwind und originell aus seiner misslichen Lage. Dabei folgt er geheimnisvollen Hinweisen, die ihn zu Albert Campion führen, einem berühmten Privatdetektiv.

    Margery Allingham, gehört mit Agatha Christie mit zu den Queens of British Crime des 20. Jahrhunderts. Und sie macht ihrem Titel alle Ehre. Mit Albert Campion hat sie einen intelligenten Ermittler geschaffen, der mittels logischen Denkens und Kombinieren die kniffligsten Fälle lösen kann. In diesem Fall handelt es sich um einen über 1000 Jahre alten Kelch im Besitz der Familie Gyrth und den nun Diebe in ihren Besitz bringen wollen. Familie Gyrth hat etwas dagegen und natürlich auch Albert Campion. Der Plot ist gut aufgebaut, mit überraschenden Wendungen und Theaterschlägen. Der Spannungsbogen wird von der ersten Seite an gehalten, bis zum Finale. Der manchmal humorvolle Stil, das Verhältnis Campions zu seinem Faktotum, Assistenten und Diener Lugg ist immer ein Lesegenuss.

    Wie in jedem respektablen Krimi kommen auch hier Menschen zu Tode, aber nicht so blutrünstig wie in zeitgenössischer Kriminalliteratur.

    Ein Must-Read für Fans klassischer britischer Kriminalliteratur aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts


    ASIN/ISBN:
    9783608966756

    In allen Lebenslagen Contenance bewahren!

    Was tut man, wenn das Dach löchrig ist, wie ein schweizer Käse, aber kein Geld zum Renovieren da ist? Man stellt überall im Haus Eimer, Töpfe, Tassen, Gläser und Schüsseln auf und hofft auf lange Dürrezeiten. Es ist aber auch kein Geld für den Schüleraustausch nach Frankreich, kein Geld für einen Konfirmationsanzug, kein Geld um Schulden zu bezahlen, gar kein Geld. Wenn mal etwas Geld zufällig da ist, wird stilvoll auswärts diniert oder im Delikatessenladen eingekauft. Der Gerichtsvollzieher steht vor der Tür, aber da nur die Kinder daheim sind, darf er nicht das Haus betreten. Die Familie versteht es, zu repräsentieren, der Welt und den Verwandten eine heile Welt und gesunde Finanzen vorzuspielen.

    Die Eltern sind so aufgewachsen, Siegfried von seiner Mutter Henriette gedrillt und geschlagen und Marlene von ihrer Mutter Lydia herumkommandiert und fremdbestimmt.

    Aber Großmutter Henriette hatte ihrerseits und zu ihrer Zeit das NS Regime unterstützt, lag ihrem Mann, der Polizist war, in den Ohren, er solle endlich in die NSDAP Partei eintreten, um Karriere zu machen. Nach dem Krieg darf er nicht zurück zur Polizei, er macht einen Friseursalon auf. Später, im Alter, als er krank wird, verbannt ihn Oma Henriette in einem Anbau neben dem Haus, mit einem separaten Eingang für die Pflegerin. Henriette ist von sich selbst überzeugt und auch überzeugt, alles richtig gemacht zu haben. #Die Einwände ihres Sohnes Siegfried, dass sie nach dem Krieg kein Familienleben hatten und Vater als Wrack aus dem Internierungslager zurückkam, fegt sie achtlos beiseite: “Du warst von allen der Sensibelste… Und hast so schöne Gedichte geschrieben”. Henriette stößt mit unumstößlicher Gewissheit aus: “Ich habe alles richtig gemacht!..."Und er da oben, der Herrgott, weiß, dass ich recht habe…” (S. 92 - 93). Dabei war sie eine “Rabenmutter”, hat ihre Kinder vernachlässigt und nur ihre eigenen Interessen verfolgt. Interessant ist, der Vater trat in die Partei erst spät ein, als der Krieg schon ausgebrochen war, er wurde unter Zwang in die SS gesteckt, hat nie mitgemacht, hat aber trotzdem die Tötungen und Transporte gesehen. Seine Frau hat das nie sehen wollen. Und Hans-Hermann, Freund und vielleicht Liebhaber der Mutter, “...in der NS-Zeit leitende Positionen bekleidete und als Laienrichter am Volksgerichtshof Todesurteile unterzeichnete, wir din einem Spruchkammerverfahren als minderbelastet eingestuft und von allen Vorwürfen freigesprochen.” (S. 124). Es tut richtig weh, mit anzusehen, wie Vater und Hans-Hermann ihr Leben meistern oder eben nicht.

    Henriette, die von sich behauptet, immer alles richtig getan zu haben und nur das Beste für alle wollte, richtet sich daheim ein eigenes Zimmer ein, in dem sie Feinkost zu sich nimmt, während ihre Kinder und ihr Mann in der Küche Steckrüben essen.

    Marlene hätte ihrerseits gerne Abitur gemacht und studiert, das Zeug dazu hätte sie ja gehabt, aber Lydia zwang sie eine kaufmännische Lehre zu machen und so schnell wie möglich Geld zu verdienen. Ihre ältere Schwester heiratet nach Amerika. Von dort wird sie Marlene ständig unterstützen, Pakete und Geld schicken. Denn Siegfried und Marlene verdienen zwar Geld und nicht schlecht, aber sie können damit nicht haushalten. Es zerrinnt ihnen unter den Fingern, sie treffen falsche Entscheidungen und versuchen mit allen Mitteln, die Contenance zu verwahren. Anfangs hielt ich sie für Verschwender (sind sie ja auch), aber sie sind Opfer der Umstände, in denen sie aufgewachsen sind. Sie lassen zwar die Kinder vor dem Gerichtsvollzieher alleine, lassen sie aber nie wirklich im Stich. Und das macht diese Generation besser, als die beiden Großmütter es getan haben. Wie Großmutter HEnriette wohl auf das große Konkursverfahren ihres Sohnes reagiert hat?

    Eine Familie mit drei Kindern, finanziell ruiniert und ein Dach wie ein Sieb, und trotzdem Haltung bewahrt, Chapeau! Wenn sie heute das Auto vom Titelbild verkaufen würden, wären sie den Gerichtsvollzieher schon mal los.

    Von manchen Verlagen wurde ich schon enttäuscht, die Bücher in ihrem Programm waren nicht immer die Besten (zumindest meiner Meinung nach), aber bei Diogenes werden meine Erwartungen erfüllt und übertroffen. Wählt der Autor den Verlag? Dann hat Schünemann gut gewählt.


    ASIN/ISBN: 3257073313

    Traurige Geschichte    

    Zwillinge haben eine besondere Bindung, die Eltern oder andere Geschwister nur ahnen können. Und wenn einer der Zwillinge nun stirbt, bricht die Welt für den Überlebenden zusammen. Genau solch eine Situation haben wir in dieser GEschichte. Arialla, die Überlebende, fliegt nach dem Tod ihres Zwillingsbruders Sam, nach England, wo ihr Vater lebt. Und wie alle neuen Schüler an einer neuen Schule, hat sie mit Anfangsschwierigkeiten zu kämpfen, die sich aber dann legen. Ihre Stiefbrüder, die auch an dieser Schule sind, ihr Vater, ihre Stiefmutter, die Lehrer an der Schule und einige Mitschüler unterstützen sie dabei. Ihre Schwierigkeiten rühren auch daher, dass sie sich in sich zurückzieht, keinen Kontakt zu niemanden haben will und deswegen auf Außenstehende abweisend und arrogant wirkt. Doch dem ist nicht so. Ganz filigran zeichnet Steinert das Gefühlsleben Ariallas, ihren Schmerz und ihre Trauer. Und wie tapfer sie versucht, in der neuen Familie und Schule zurechtzukommen. Auch wieso Arialla zunächst keine Nähe und Zuneigung zu ihrer neuen Familie oder Freunden entwickeln will, wird einfühlsam in Ariallas Worten und Taten erklärt. .

    Weil dies ein echtes Teenie-Buch ist, entwickelt sich zwischen den beiden Haupthelden eine schöne Liebesgeschichte. Natürlich gibt es auch eine eifersüchtige Dritte, die aber schon vor Ariallas Ankunft in England nie eine Chance hatte, Trotzdem versucht sie dazwischen zu funken und zwischen den Liebenden Zwietracht zu säen. Das misslingt ihr gründlich und bringt ungewollt die beiden Liebenden noch fester zusammen.

    Der lineare Erzählstil macht es leicht, der Geschichte zu folgen. Die Handlung wird abwechselnd aus Ariallas und aus Justins Sicht erzählt, beide kommen zu Wort und ihre Worte und Handlungen sind dadurch für uns leichter nachzuvollziehen.

    Das Titelbild ist purer Kitsch, aber man kann nicht alles haben. Wenigstens ist das Buch nett und durchaus Couch tauglich für uns Mädels.


    Netter Zeitvertreib mit Herz-Schmerz in erträglicher Dosis und Happy End


    ASIN/ISBN:
    978-3-98760-014-2

    Armer reicher junger Mann

    Ein 846 Seiten langer Wälzer, spannend und voller Theaterschläge. Der Leser wird von der ersten Sekunde an in Atem gehalten, Zunächst ist da ein Siebzehnjähriger, der allein am Grab seiner Eltern in Zürich steht. Die nächsten vier Jahre vergehen still, unaufgeregt, Max schließt in Eton die Schule ab, bereitet sich auf Oxford vor. An seinem 21. Geburtstag beginnt sein Leben sich zu ändern. Zunächst nur ein wenig, dann immer mehr, bis er in einen wilden, rasanter Strudel sich überschlagender Ereignisse fällt. Atemlos lesen wir mit, verfolgen die Abenteuer, die Max bestehen - überleben muss.

    Plötzlich ist da ein Anverwandter, von dem Max nichts wusste, sie lieben und sie hassen sich, Max erduldet und erträgt alle Schikanen von Jasper Field, die harmlosen und die kriminellen, und doch wehrt sich Max nicht dagegen. Manchmal hätte ich Max geschüttelt, ihm zugerufen, Mensch, lass Dir von Jasper nicht immer alles gefallen. Aber Max hätte nicht auf mich gehört… Überhaupt, legt Max eine Reife und Umsicht an den Tag, die für einen Einundzwanzigjährigen erstaunlich oder fast unglaubhaft ist. Er ist ein Prinz Siegfried ohne Fehl und Tadel. Für meinen Geschmack fast zu perfekt.

    Die Handlung wechselt zwischen Oxford, London, Zürich, Genf, den Cayman Inseln, New York, Vermont, Südafrika. Eine rasante Achterbahnfahrt, hollywoodreife Countdowns und Szenen lösen einander ab. Nach jeder denkt man, so, schlimmer, aufregender kann es nicht kommen, aber Simon Jarr fällt immer noch eine atemlose Überraschung ein. Irgendwann wird es mühsam, alles zu verdauen und sich auf den nächsten spannungsgeladenen Moment zu verlassen. Die gierenden Personen rücken der Reihe nach mal in den Vordergrund, wirken verdächtig, doch dann gleiten sie zurück, ein anderer Verdächtiger nimmt den Platz temporär ein.

    Wie in jedem guten Thriller werden dann auf den letzten Seiten alle Fragen restlos beantwortet, alle Rätsel zur großen Zufriedenheit der Leser gelöst, Hintergründe beleuchtet und erklärt..

    Die Fabulierkunst Simon Jarrs ist grenzenlos. Er bringt das alles so lebendig rüber und spannend, daß man das Buch nur dann aus den Händen legt, wenn es für die Gelenke zu schwer wird, es zu halten. Meinem Lesekissen sei Dank, konnte ich das Buch zu Ende lesen.

    Wer Angst vor dicken Wälzern hat, dieses Werk ist dazu geeignet, diese Furcht zu besiegen!


    Spannend, mit Elementen der Spionagethriller des 20. und der Mantel- und Degen Romane des 19. Jahrhunderts


    ASIN/ISBN:
    ISBN 9783000807091

    Big Brother is always watching

    Sehr spannendes Buch, das viele Fragen aufwirft und, wie es sich für einen guten Thriller gehört, im Laufe der Handlung beantwortet werden. Alle handelnden Personen werden aus dem Schatten heraus beobachtet, jeder Schritt wird dokumentiert, keine Begegnung ist zufällig, alles ist inszeniert, wie von einer geheimen Macht.

    Zuallererst, wer ist in diesem Thriller Schaf und wer ist Wolf? Adam Rycart, der fiktive ehemalige und zukünftige Präsident der USA, zählt eindeutig zu den Wölfen. Seine Entourage ebenso. Anthony Zara, Mitglied der Maddox-Corporation und Rycarts Wahlkampfmanager, ist ein kaltblütiger Mörder, desgleichen wie Brandon Lee, Auftragskiller. Aber wie steht es auf deutscher Seite? Helen Christensen, die Verlegerin? Ist sie ein Wolf oder ein Schaf? Oder ein Schaf im Wolfsmantel? Eigentlich will sie ja ihren Verlag aus einer finanziellen Notlage retten, tritt aber dadurch ihre Prinzipien in die Tonne. Wie steht es mit dem BND? Tilda Hansson, Wolf nach außen hin und für die Deutschen Lamm? Oder Max Goldberg? Betrügerischer Wolf oder Schaf? Die Mittel, derer sie sich bedienen, sind nicht immer gesetzeskonform und sauber, aber letzten Endes heiligt der Zweck die Mittel.

    Andererseits, wer sind die Schafe? Zuerst einmal alle Mordopfer, Irina Semková, ihr Sohn Vincent, Lennart Forsberg, ehemaliger Journalist, Bobby Meyer, der Amerika-Korrespondent der DAZ, Dr. Jacoby, einstiger persönlicher Arzt des Präsidenten, Jacob Wood, teils Wolf aus dem Team von Anthony Zara, aber da er selber auch ermordet wird, ist er auch ein klein bisschen ein Schaf, oder? Ebenfalls zur Schafherde zähle ich Emma Bricks, David Jacubowicz, Vater und Tochter, beide Vollblutjournalisten, beide totale Sympathieträger im Buch. Genauso wie ihre Kollegen, allen voran Alex Khan.

    Die klare direkte Sprache schlägt einen in den Bann. Gleichzeitig verwendet Zons aber auch rhetorische Stilmittel, zum Beispiel die Rede von Anthony Zara, die von leeren Worthülsen trieft: “Wir dürfen den Regierenden nicht durchgehen lassen, wenn sie lügen, nur um bei der nächsten Wahl wiedergewählt zu werden. Wir müssen die Kontrollinstanz der Mächtigen überall in der Welt sein, auch wenn wir deswegen unsere geschäftlichen Ziele verfehlen sollten. …Und wir müssen es hinbekommen, unsere Leser zu Komplizen zu machen in unserem Kampf für das Gute, Richtige und Wahre. Dafür, vor allem dafür will ich mich einsetzen mit allem, was ich bin und habe.” (S.314) Er lügt wie gedruckt, oder, wie meine Oma zu sagen pflegte: Er lügt wie eine amerikanische Gazette!


    Spannender Thriller über Menschen, die glauben, absolute Macht zu besitzen und über alle und alles verfügen zu können. Doch manchmal werden sie zu Fall gebracht, durch einen kleinen Videoclip oder einen rostigen Nagel.


    ASIN/ISBN:
    9783406829796

    Die pucklige Verwandtschaft

    Ja, Familie und Nachbarn kann man sich nicht auswählen, die sind Gott gegeben. Aber Clementine Calder, meine Liebe, Dir hat das Schicksal eine besonders fiese Mutter ausgeteilt. Wenigstens hast Du gute Freunde, die zu Dir halten.

    Das Buch ist ganz spannend geschrieben. Nach jedem Aufatmen und Moment der Ruhe kommt es noch schlimmer, noch böser um die Ecke. Bösartige magische Kreaturen im Keller der Schule, ein Junge, Jude Albernathy Lee, der Clementine das Herz gebrochen hat, obwohl, oder gerade, weil er sie liebt. Jude verfügt über unheimliche magische Fähigkeiten. Überhaupt, alle an dieser Internatsschule auf der kleinen Insel scheinen Magie zu besitzen, dürfen aber nicht über sie verfügen. Nur Clementine scheint keinerlei magische Fähigkeiten zu besitzen, doch dann erwacht die Magie auch in ihr. Ihre Mutter ist die Schulleiterin, meistens sehr streng und ungerecht Clementine gegenüber, doch manchmal besinnt sie sich auf ihre Rolle als Mutter und verwandelt sich in eine Bilderbuchmutter.

    Das Ende des Buches ist leider ein totaler, böser Cliffhanger, wofür ich Tracy Wolff einen Punkt abziehe.


    ASIN/ISBN:
    978-3-423-76544-2

    Eine kleine Stadt in den Klauen der Reichspolitik


    Arno Franks Buch spielt in den Jahren 1935, 1940 und 1945 ab. Jedes dieser Jahre ist so bezeichnend, so wichtig, so unvergesslich und gleichzeitig nur Momentaufnahmen der agierenden Hauptpersonen, der Kleinstadt Ginsterburg und des Dritten Reichs.


    1935, da scheint die Welt noch in Ordnung, obwohl, auch da schon erste Schatten sichtbar werden. Wenn eine Pfarrers Gattin mit Disziplin und Pünktlichkeit einen Krieg gewinnen will, der noch 4 Jahre bis zum Ausbruch braucht, was sagt das über die Mentalität der Bewohner von Ginsterburg aus? Die HJ macht sich breit, manche Jungen nutzen das aus, um andere zu terrorisieren oder Krieg zu spielen. Der BDM mischt sich, genau wie die HJ, in die Erziehung der Kinder. "Selbstverständlich wies die Partei den jungen Menschen eine Richtung und ein Ziel. Selbstverständlich ging es darum, eine deutsche Jugend heranzuziehen. Und selbstverständlich war daran nichts falsch. An Gesine war zu beobachten, wie reich die Ernte völkischer Unterweisung einmal sein würde.” (S. 143)

    Der kleine Wanderzirkus, der in Ginsterburg kampieren will, darf nicht lange bleiben. Der biederen, grunddeutschen Bevölkerung sind die Fremden suspekt. Was wird mit Familie Zilversteyn geschehen? Noch führt sie den Laden in der Altstadt, aber wie lange noch? Weil zu wenige Juden in Ginsterburg leben, beschmiert der deutsche Volkszorn eben auch andere Läden, wo die arische Abstammung eigentlich nicht hinterfragt wird, so z.B. Merles Buchladen. Der Zeitungsverleger Landauer begeht Selbstmord, kommt dadurch den qualvollen Tod in Dachau oder Ausschwitz zuvor, seine Familei verlässt heimlich Ginsterburg. Wieviel Blut und Leid wird die nächsten zehn Jahre über dieses Städtchen hereinbrechen? Die schwere graue Wolke, die sich über die sonnige und liebliche Landschaft auf dem Titelbild ausbreitet, ist wie eine Vorankündigung auf nahendes Unheil.Genauso wie auch der Abdruck des Gesetzes “Zum Schutze des Deutschen Blutes und der Deutschen Ehre” unterschrieben vom Stellvertreter des Führers und Reichsminister. Rudolf Heß persölich (S.125-127). Beim Lesen dieses Gesetzes lief es mir kalt den Rücken runter. Die Gesetze, die im BGB stehen, sind dermaßen fachlich verklausuliert, dass man entweder ein Rechtsstudium oder einen Übersetzer braucht. Dieses Gesetz aber ist klar verständlich, konzis und tödlich.


    1940, noch ist Ginsterburg verschont, in ganz Deutschland werden die famosen Siege an allen Fronten gefeiert, fast täglich klingen Wagners Fanfaren aus dem Radio, um wieder einen grandiosen Sieg zu vermelden. Die Niederlande und Belgien wurden überrollt, Frankreich ist gefallen. Tschechien und Österreich wurden schon vorher heim ins Reich geholt, Polen ist auch von der Landkarte der unabhängigen Staaten gelöscht. Noch hält der Barbarossa Pakt und die USA warten auf ihr Pearl Harbor. Natürlich glauben die Deutschen, dass der Führer der sakrosankte Erlöser ist. Trotzdem werden in den Großstädten vorsorglich die Museen geleert und die Kulturschätze an sicheren Orten aufbewahrt. Genau wie in Paris übrigens, aber da, um die Exponate vor dem Zugriff der Deutschen zu schützen. Carinhall hat noch nicht genug gehortet.

    Ginsterburg hat aber nun auch einige Probleme: Trotz der Siegesmeldungen haben einige das eigenständige Denken nicht aufgegeben. Ginsterburg steht im “Dienst der nationalen Erhebung" (S.324), sprich, ist judenfrei, behinderte Menschen sterben an “Lungenentzündung” oder werden weggesperrt. Im Osten gibt es “ein Modelldorf für deutsche Wehrbauern, mit deutschen Linden und deutschen Eichen und deutschen Brunnen, an denen deutsche Lieder gesungen wurden, aus deutschen Kehlen unter deutschen Himmeln”. (S. 324 - 325). Und zwischen all diesen Großmachtfantasien und -hysterien, geht das Leben weiter. Söhne fallen im Krieg, auch schon 1940, Menschen leben sich auseinander, Menschen lieben sich, es kommen Kinder zur Welt, Geburtstage werden gefeiert, einfach das volle Leben. Na ja, ein paar Jahre später wird es wohl vorbei sein, mit üppigen Geburtstagsfeiern, Meister Schmalhans wird auch in Ginsterburg Einzug halten.


    1945. Der Krieg ist ein großer Gleichmacher. Er überrollt alle, Alt und Jung, Unschuldige und solche, die Schuld auf sich geladen haben, Kriegsgewinnler Kriegshelden auf sinnloser verlorener Mission, auf einem wahren Himmelfahrtskommando. Ganz Ginsterburg geht unter in einem Meer von Bomben: “... Ins Elementare, Monströse, Vulkanische, Feuersturm. Ginsterburg wellt sich und knistert. Faltet sich zusammen wie Papier im Ofen.” (S. 419).

    Der große Gleichmacher holt sich alle. Und das Buch wirkt wie ein Mene Tekel für uns. Wenn ich so um mich sehe, was in Deutschland und in der Welt passiert, kommt das Gefühl auf, am Krater eines Vulkans zu tanzen.


    ASIN/ISBN:
    978-3-608-96648-0