Eines Tages beschloss Kai Beisswenger, dass es an der Zeit wäre, ein neues Buch zu veröffentlichen. Er spürte wieder dieses Kribbeln in den Fingern und außerdem hatte sich seinem Geiste die eine oder andere in der Öffentlichkeit unbemerkte Lebensweisheit offenbart und das politische Tagesgeschehen konnte auch nicht unkommentiert bleiben. Also flugs ans Werk, irgendwie würde er schon 100 Seiten zusammenbekommen – die magische Grenze ab der man sein Werk „Roman“ nennen durfte.
Natürlich nahm er sich die Kritiken seiner Leser von Omega I und Omega II zu Herzen. Omega III sollte ein Knaller werden. Bessere Dialoge, mehr Gefühl eine nachvollziehbare, sich langsam entwickelnde Handlung mit klarem Spannungsbogen. Check. Check. Check. Am Ende von Kapitel 1 war er einigermaßen zufrieden, obwohl er zweifelte. Das Ganze mutete ein wenig an wie Cecilia Ahern oder Jojo Moyes.
Es war also Zeit für etwas mehr Beisswenger. Also gut, wir führen eine Metaebene ein, einen krassen Stilbruch um den Leser nicht zu unterfordern. So eine Betrachtung aus dem Jenseits könnte das bisherige Geschehen vielleicht ein wenig aufpeppen. Außerdem könnte man dann so ein wenig Philosophie und Science Fiction unterbringen und das ganze bekäme einen Mystik-Touch (nur für die Kategorisierung um präsenter zu sein). Plötzlich gefiel ihm der Handlungsstrang nicht mehr. Aber es war zu schade um das erste Kapitel. Na gut, wir haben ja als Autor die Freiheit, die Finger im Spiel quasi. Erfinden wir doch mal schnell ein Paralleluniversum, für die Leute im Jenseits ist das ein Kinderspiel.
Nachdem Kai sich den Schweiß abgewischt hatte, war es Zeit für das große Finale. Kapitel 3. Jetzt musste wirklich alles rein, was noch gefehlt hatte: Absurde Wendungen, Drama, Tote, ein sich überraschend wandelnder Charakter (der geläuterte Bösewicht ist immer ein Thema), Rückblick nach Jahrzehnten in verschieden konstruierten Ebenen. Das Puzzle war perfekt nur ein dem Autor ebenbürtiges Genie würde alles bis in letzte Detail entschlüsseln können, aber egal. Es gab genügend Zwischenebenen auf die sich der weniger bedarfte Leser zurückziehen konnte. Ooops aber eins fehlte noch, die Tagespolitik. Na ja so ein Kapitel lässt sich auch noch nachliefern, und voila, die 100 Seiten sind geschafft. Und alle Botschaften ans Volk sind untergebracht.
Eine Lehre aus der bisherigen Omega-Erfahrung war für Kai, dass man das ganze vielleicht auch mal dem einen oder anderen Testleser vorab zum Probieren geben solle und sich – wenn auch schweren Herzens – das Feedback zu Herzen nehmen. Dieses war dann überraschend einhellig. Kapitel I – Wow, Kai bist du das? Kapitel II – Hm, na ja, was soll der Quatsch mit dem Jenseits? – Kapitel III, willkommen in Absurdistan, ja Kai, du bist es.
Kai Beisswenger war ein wenig enttäuscht über diese Einschätzungen und er fragte sich, warum er das als einziger so anders sah. Trotzdem konsequent: Ab in die Tonne mit dem ganzen Zeug.
Aber immerhin hatte er noch sein Leon-Ich, welches in solchen Situationen völlig cool blieb und dem zweifelnden Geist erst einmal den gesunden, fitnessgestählten Körper als Vorbild präsentieren würde. Also nix wie ab ins Studio, ein paar Gewichte gestemmt und ein paar Kilometer auf der Rolle runtergestrampelt.
Plötzlich waren die Gedanken wieder frei. An der Theke lächelte ihn eine gepiercte Lady in Black mit ansehnlichem Hinterteil an. Natürlich verbot er sich als Beeinflusster der Genderbewegung jegliche Anzüglichkeit- außerdem wäre er dafür sowieso nicht der Typ – und außerdem war sie zu jung – und außerdem war er in festen Händen.
Dann auf dem Heimweg fuhren seine Ideen Karussell und plötzlich ergab alles wieder einen Sinn. Schnell schrieb er seine Stimmung auf und packte sie als Rahmenhandlung rund um den Roman. Aber Mist, plötzlich hatte das ganze nichts mehr mit der Omega-Verschwörung aus dem Paralleluniversum zu tun. Na ja, so ein Titel lässt sich ja ändern. Es war zwar etwas bitter, 20 Seiten rauszustreichen, aber was solls. Immerhin konnte durch diese neue Meta-Ebene eine ganz andere Sinnhaftigkeit transportiert werden. Ich, der Autor, der Gott, der Puppenspieler habe immer die Finger im Spiel. Und nun war auch der neue Titel da. „Omega III“ hatte sowieso eher nach Margarine geklungen.
Am nächsten Morgen war Kai immer noch begeistert. Aber - oh Schreck – es waren nur noch 90 Seiten. Was tun? Wie wäre es mit einem Prolog, der das Ganze im Rückblick von ein paar Jahren behandelt, Da ihm die sexuelle Komponente inzwischen etwas peinlich war, sollte er das im letzten Kapitel noch etwas abmildern auf seine Alterssituation beziehen und zusätzlich noch ein Statement zur aktuellen Diskussion im Literaturgeschäft und Verlagswesen unterbringen inklusive einer Tagträumerei Richtung Lottogewinn oder so.
Jetzt waren seine Kritiker entwaffnet, indem er ihre Argumente vorführte. Es reichte, zu zeigen, dass er das alles verstanden und sich auf seine Art zu Herzen genommen hatte. Und gegen diese dritte Metaebene konnte ja nun keiner mehr etwas sagen, oder?