Beiträge von Tanya Carpenter

    Franklin wusste, dass er den Vater seiner Gefährtin töten läßt. Aber da war Joanna auch schon tot. Es ist die skrupellose Seite an Franklin, weil er der Vater des Mutterhauses werden wollte.


    Armand war das ohnehin egal. Carl hatte ja mit seiner Blutlinie nichts zu tun, da Joanna mütterlicherseits seine Nachfahrin war. Ein Mord ist für einen Vampir kein Problem. Und wenn man damit seine Ziele erreichen kann...

    Ja, das Format wurde gewählt, um Seiten zu sparen. Sonst wäre es zu teuer geworden. Normalerweise machen Kleinverlage ca. 450.000 Zeichen. Die Tochter hatte aber über 750.000 in der Endfassung. Und auch Engelstränen ist wieder über die 600.000 Marke gekommen. Daher die Formate. Aber es sticht so auch raus. ;-)


    Mel ist als Hexe sehr instinktiv. Das bin ich selbst im wahren Leben übrigens auch. Sensitive Menschen haben das wohl so an sich. ;-)


    Margret wiegt sich einfach zu sehr in Sicherheit. Wie heißt es so schön: Hochmut kommt vor dem Fall...


    LG
    Tanya

    JA, es gibt auch andere Krafttiere. Siehe Joannas Falken. Und Camille hat eine Krähe. Das kommt aber erst in Band 2. Franklins Krafttier wird in Band 3 offenbart.


    Armand trinkt immer nur sehr wenig. Er nährt sich ja nicht von Mel. Wenn er von ihr trinkt, ist immer auch Lust mit im Spiel. Und er läßt sie ja auch von sich trinken. Vampirisches Blut regeneriert den Körper ja ziemlich schnell. ;-)


    Camilles Alter schätzt Mel aufgrund ihres Standes in der Ashera und was sie schon über sie gehört hat. Sie weiß es aber nicht und findet, dass sie viel jünger aussieht (als sie sonst denken würde...)


    LG
    Tanya

    @ suzann: Klar! :grin
    Ich beiße gerne...


    @ nini: Also Carl ist nicht mit denen blutsverwandt. Von dieser Seite kommt die Verwandschaft von Joannas Mutter. :-] Keine Sorge, wird alles noch aufgedröselt. So nach und nach.
    Und das Mädel hieß Andrea, nicht Angela. *lol*
    Ja, die Schriftrolle wird nochmal entstaubt. Aber das dauert noch ein bißerl. Und ganz aufmerksame Leser sollten den ersten Hinweis für die Verbindung mit der Schriftrolle sogar schon im ersten Teil entdeckt haben...
    Oder ich war sooooo gut mit dem Verstecken *lach*


    LG
    Tanya

    Gerade als ich mir eine Scheibe dick mit Butter bestrichen hatte und herzhaft hineinbeißen wollte, streifte mein Blick ein vertrautes Gesicht in einer Nische am anderen Ende des Raumes. Ich verschluckte mich und der Hustenreiz trieb mir die Tränen in die Augen.
    „Melissa, oh meine Göttin, was ist denn? Himmel, du erstickst ja.“ Großmutter kam eilig um den Tisch herum und klopfte mir ein paar Mal energisch auf den Rücken.
    „Ist....schon.....gut“, sagte ich und versuchte, wieder durchzuatmen.
    „Sicher?“ Sie blickte mich immer noch besorgt an.
    „Ja, ja, ist schon gut.“
    Ich senkte den Kopf in meine Serviette und schielte noch einmal zu dem Tisch hinüber. Äußerst darauf bedacht, dass Großmutter meinen Blick nicht bemerkte. Armand hob grüßend sein Glas in meine Richtung und lächelte. Ein dunkles, verheißungsvolles Lächeln. Und ich schaute schnell weg. Wie lange war er wohl schon hier? Suchte er hier nach einem Opfer oder hatte er auf mich gewartet?“
    „Ich bin hier, um zu speisen. Genau wie Sie, meine Verehrteste.“ Ich fing seine Gedanken mühelos auf und ein Beben lief durch meinen Körper. „Sicher kann ich meinen Besuch auf morgen Nacht verschieben. Sie werden wohl länger ausbleiben, nicht wahr?“ Fragend hob er eine Braue, als ich wieder zu ihm hinübersah.
    „Ja, vermutlich“, dachte ich und er bestätigte mit einem Nicken, dass er meine Antwort vernommen hatte. Dann verlor ich seine Aufmerksamkeit, denn eine junge Blondine kam an seinen Tisch. Ich hatte das zweite Gedeck zuvor gar nicht bemerkt. Er lächelte sie liebevoll an, aber ich sah das Glitzern in seinen Augen, das seinen Jagdtrieb verriet. Die Blonde schien davon nichts zu bemerken. Sah sie denn nicht, dass sein Essen kaum berührt war? Offenbar war das wohl eines der Klischees, die nicht nur auf Aberglauben beruhten. Ich würde ihn danach fragen, wenn er mich das nächste Mal besuchte.
    Wie lange sich die beiden wohl schon kannten? Sie ging so vertraut mit ihm um. Ich hatte immer gedacht, dass er seine Opfer sofort töten würde. Weil er ja stets davon sprach, noch auf die Jagd zu gehen. Aber andererseits, warum eigentlich? Es war immer auch Lust mit im Spiel, wie er mir in einem der wenigen kostbaren Augenblicke, in denen er auch mal etwas von sich preisgab, erzählt hatte. Und nicht jeder war darauf aus, direkt am ersten Abend im Bett zu landen. Also konnte es gut sein, dass er seinen Opfern Zeit gab, um ihn besser kennenzulernen. Schließlich war er ja durch und durch ein Gentleman. Ob diese Überlegung wohl auch auf mich zutraf? Wollte er mir auch nur Zeit lassen, bis der Moment gekommen war, die Jagd mit dem Schlagen der Beute zu krönen? Mir wurde schwindlig bei dem Gedanken daran, dass er vielleicht doch viel gefährlicher war, als ich mir in den letzten Wochen hatte eingestehen wollen.
    „Melissa? Deine Suppe?“
    „Was?“
    Großmutter deutete mit ihrem Löffel auf den Teller, der vor mir stand.
    „Deine Suppe wird kalt.“
    „Oh!“
    Ich nahm mechanisch einen Löffel voll und steckte ihn in meinen Mund. Aus den Augenwinkeln sah ich gerade noch, wie Armand der blonden Frau in einen Swinger-Mantel half, ihr galant den Arm bot und dann mit ihr gemeinsam das Lokal verließ. Doch beim Hinausgehen warf er mir noch einen sehr tiefen, sinnlichen Blick zu, in dem ein dämonisches Feuer glühte, das ich bereits auf meiner Haut spüren konnte. Es schien ein Versprechen darin zu liegen schien, das ich gar nicht haben wollte. Und doch konnte ich meinen Blick nicht abwenden, bis sich schließlich die Glastür hinter ihm und seiner Begleiterin geschlossen hatte.
    Nachdem Armand gegangen war, konnte ich mich kaum noch auf mein Essen konzentrieren. Irgendwie schmeckte alles gleich. Das Brot, die Suppe, der Fisch, ja sogar das Mousse au chocolate, das wir uns als Nachtisch gönnten. Von dem Theaterstück, in das Grandma mich einlud, bekam ich nichts mit. Ich war froh, als wir wieder zuhause waren und fiel, kaum dass ich mich unter die Bettdecke gelegt hatte, in einen unruhigen Schlummer, der bis zum Morgen anhielt.


    Wer mit dem Feuer spielt


    Am nächsten Tag war Großmutter nachsichtiger mit mir. Sie war wieder ganz die Alte. Scherzte, neckte mich bei Fehlern, statt zu tadeln, redete wieder von den altbekannten Idealen, die ich seit jeher von ihr kannte. Die Übungen waren abwechslungsreich, wir probierten von allem möglichen etwas aus. Levitation, Telepathie, Kartenlegen, Pendeln, Kräuterkunde, Heilsteine, Ritualgesänge. Mein Geist wurde im Laufe des Tages wieder wacher und ich kam recht gut mit. Aber als es dunkel wurde, wurde ich wieder unruhig. Ich wollte wissen, was mit der Blonden passiert war. Ob Armand es mir erzählen würde.
    „Müde, mein Schatz?“ ich hatte wieder nicht aufgepasst.
    „Ja, Großmutter, ich glaube schon.“ Zur Unterstreichung gähnte ich herzhaft.
    „Dann machen wir Schluss für heute. Nimm ein heißes Bad mit Melisse und Baldrian, dann schläfst du gut.“
    Ich beherzigte den Rat und spürte, kaum dass ich mich in die warmen Fluten gleiten ließ, wie das heiße Wasser meine Muskeln, die ätherischen Öle meine Seele entspannten. Atmen, tief Atmen. Zur Ruhe kommen. Die Gedanken sortieren, die.....
    „Sie sind sehr freizügig, ma chere.“
    Ich schoss aus der Wanne hoch, dass das Wasser nur so spritzte. Nur um im nächsten Moment wieder bis zum Kinn darin zu versinken. Ein tiefes Dunkelrot überzog meine gesamte Haut.
    „Hat Ihre Mutter Ihnen denn gar keinen Anstand beigebracht? Drehen Sie sich gefälligst um.“
    Er tat es lächelnd und meinte nur, seine Mutter hätte es redlich versucht und es wäre ganz sicher nicht ihre Schuld, wenn sie so kläglich versagt hätte. Ich angelte nach meinem Handtuch und ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Sobald ich mich damit einigermaßen züchtig bedeckt hatte, schritt ich hocherhobenen Hauptes an ihm vorbei in mein Schlafzimmer. Er folgte mir gelassen und immer noch amüsiert grinsend.
    „Wie war der Fisch?“ erkundigte er sich.
    „Ich weiß es nicht“, antwortete ich bissig.
    „Sie wissen es nicht? Haben Sie ihn nicht gegessen?“
    „Gegessen schon, aber nach Ihrem Auftauchen dort.....“
    „Oh Melissa, Sie schmeicheln mir ja schon wieder. Ich hätte gar nicht gedacht, dass ich Sie so aus der Fassung bringen kann.“
    Ich blieb abrupt stehen, immer noch den Rücken ihm zugewandt. Einen Augenblick presste ich die Lippen zusammen, um meinen aufwallenden Zorn zu dämpfen. Wie konnte man nur so arrogant sein.
    „Ach halten Sie doch den Mund“, entfuhr es mir.
    Ich ließ das Handtuch fallen – sollte er doch sehen, was er wollte – und zog mein Nachthemd über.
    „Wie geht es Ihrer Begleiterin?“ meine Stimme triefte förmlich vor Zynismus.
    „Oh, ich denke, ihr geht es ausgezeichnet, da wo sie jetzt ist. Sofern sie in ihrem Leben nicht allzu schwer gesündigt hat.“
    Ich fuhr zu ihm herum und blickte in glitzerndes Grau, kaum eine Handbreit von meinem Gesicht entfernt. Seine Augen waren wie Eis.
    „Aber, aber Melissa. Sie wissen doch, was ich bin. Da werden Sie doch wohl nicht böse auf mich sein, wenn ich tue, was ich tun muss.“
    Seine Stimme war Rauch. Er machte mich benommen.
    „Sie hat Ihnen vertraut“, kam es kläglich von mir.
    „Natürlich“, hauchte er und sein Atem streichelte meine Wange. Ich spürte, wie sich meine Härchen im Nacken aufstellten – durchaus nicht unangenehm. Aber ich kämpfte das Gefühl nieder. Denn ich war wütend; und ich hatte Angst.
    „Sie alle vertrauen mir, wenn der Todesbiss kommt. Und sie alle schwelgen in seliger Lust, während ich von ihnen trinke. Halten Sie mich jetzt für ein Monster, Melissa?“
    „Ich halte Sie für einen Mörder.“
    Sein Ausdruck wurde eisig.
    „Das bin ich nicht. Ich bin ein Raubtier, kein Mörder. Jeder Löwe tötet das Zebra, damit er zu fressen hat und nicht verhungert. Deshalb ist er noch lange kein Mörder.“
    „Das ist was anderes.“
    „Nein, Melissa, ist es nicht. Auch ich töte nur, um zu überleben.“
    „Aber Sie töten Menschen.“
    „Ach, darum geht es.“ Zynisch zog er eine Augenbraue hoch. „Ich dachte, der Glaube der Großen Mutter lehrt, dass alle Geschöpfe gleich sind. Und jetzt sagen Sie mir, dass der Mensch etwas besseres ist?“
    „Ja....nein....ach hören Sie doch auf.“
    Ich wendete mich ab und Armand hielt mich auch nicht fest. Aber er verwirrte mich und das war äußert ärgerlich.
    „Seien Sie nicht so selbstherrlich“, belehrte er mich. „Mensch oder Tier. Was macht das schon für einen Unterschied? Blut ist Blut. Aber von Blut allein leben wir nicht. Und die Lust können wir nur mit einem Menschen teilen.“
    Ich schwieg. Darüber wollte ich nicht reden. Die Blonde war also tot. Mehr hatte ich nicht wissen wollen. Eigentlich nicht mal das.
    „Sie war glücklich. Und sie spürte kaum einen Schmerz“, sagte er mit gleichmäßiger Stimme, die keine Gefühlsregung erkennen ließ.
    Das sollte mich wohl trösten. Aber wofür eigentlich? Ich hatte sie ja nicht einmal gekannt.
    „Wie lange waren Sie beide....zusammen?“ meine Stimme zitterte.
    „Etwa einen Monat“, antwortete er ganz offen.
    „So lange? Und sie hat nicht gewusst.....ich meine nie gemerkt, dass Sie.....“
    „Was? Ein Vampir bin? Melissa, ich pflege meine Opfer nur sehr selten davon in Kenntnis zu setzen, dass ich die Absicht habe, sie zu verspeisen.“
    Das brachte mich zum Schweigen. Ich hatte kein Interesse an irgendwelchen Details. Allein seine Wortwahl ekelte mich. Und doch ging mir die Frau nicht aus dem Kopf. Weil ich sie gesehen hatte. Weil sie nicht gesichtslos geblieben war, wie alle anderen, die Armand so offen zugab, getötet zu haben. Es hatte mich vorher nicht gestört, wenn er davon sprach, weil ich es mir nicht bildlich vorgestellt hatte. Jetzt tat ich das sehr wohl.
    „Was hat Ihre Großmutter denn zu Isis und Osiris gesagt?“ Damit war seine tote Gespielin für ihn erledigt. Und ich wagte nicht, auf dem Thema zu beharren.
    „Sie war nicht begeistert.“
    „Das dachte ich mir.“
    „Haben Sie mir deshalb die Geschichte erzählt.“
    Wieder lächelte er nachsichtig. Das Glitzern war aus seinen Augen verschwunden und seine Stimme war wieder klar und warm.
    „Nein, Melissa, wirklich nicht. Aber ich dachte mir, dass Ihre Großmutter keine Fremdeinflüsse in Ihrem Geist haben will. Er lässt sich dann nämlich nicht mehr so leicht formen.“
    „Warum sollte sie ihn formen wollen?“
    „Weil sie ganz bestimmte Ziele hat, die sie in Bezug auf Sie verfolgt. Aber das werden Sie ja noch merken. Und es sollte nichts mit unserer Freundschaft zu tun haben. Vorläufig jedenfalls nicht. Ich habe Ihnen übrigens etwas mitgebracht.“
    Er legte einen sauber gefalteten Bogen Papier vor mir hin. Ich nahm ihn auf und faltete ihn auseinander. Mein französisch war etwas eingerostet, aber ich konnte die Zeilen dennoch übersetzen, wenn auch etwas frei.


    Über eine Tote


    Sie war schön – wenn auch die Nacht
    In düsterer Kapelle schlummernd
    Gleich wo Michelangelo sein Lager aufgeschlagen
    So unbeweglich schön sein kann


    Sie war gut – wenn es genug
    Dass im Vorbeigehn nur die Hand sich öffnet
    Dass Gott dies nicht gesehen
    Und Gold auch ohne Mitleid Almosen ist


    Sie hat gedacht – wenn der vergeblich Laut
    Von einer sanften taktvoll Stimme
    Dem Klagen eines Baches gleich
    Aus dem Gedachten Glauben macht


    Sie hat gebetet – wenn man zwei schöne Augen
    Die mal dem Boden
    Mal dem Himmel nah
    Ein Gebet nun nennen mag


    Sie hat gelächelt – wenn die Blume
    Sich zaghaft nur entfaltet
    Dem frischen Morgenwinde der vorüberweht
    Und sie alsbald vergisst


    Sie hätt geweint – wenn ihre Hand
    Auf mein kaltes Herz gepresst
    Jemals in der menschlich irdenen Hülle
    Die Himmelsröte hätt gefühlt


    Sie hätt geliebt – wenn nicht ihr Stolz
    Gleich einer nutzlosen Kerze
    So nah am Sarge aufgeleuchtet
    Ihr taubes Herz hätt altern lassen


    Jetzt ist sie tot – und hat doch nichts gesehen
    Sie schien zu leben nur
    Aus ihren Händen fiel das Buch
    In dem sie nicht gelesen hat


    Die blutrote Schrift erschien mir ebenso grotesk, wie das Gedicht an sich, in Anbetracht der schönen Blonden von letzter Nacht.
    „Alles ist vergänglich, mein Herz. Musset wusste das.“
    „Musset?“
    „Alfred de Musset. Sie hatten mich doch nach französischen Dichtern gefragt. Ich liebe dieses Gedicht von ihm. Es kommt meinen Wesen so nahe.“
    Seine Stimme war schon wieder dunkel und rau und ich schluckte hart.
    „Aber Sie können doch unmöglich das, was sie tun, mit der poetischen Denkweise von jemandem wie Musset vergleichen.“
    „Warum nicht?“
    „Musset hat solch ein Gedicht sicher aus anderen Beweggründen verfasst.“
    Er lächelte nachsichtig.
    „So sicher, meine Liebe? Denken Sie nicht, dass er womöglich um meinesgleichen wusste und sich davon inspirieren ließ?“
    „Oh hören Sie doch auf“, brauste ich auf, aber mehr, um meine Angst zu verbergen, als aus wirklicher Entrüstung. „Sie berufen sich immer wieder auf die natürlichen Kreisläufe von Leben und Tod, denen sich jeder einmal ergeben muss. Nur um sich und Ihr Tun zu rechtfertigen. Dabei ist das hier doch etwas ganz anderes.“
    „Und was genau ist daran anders?“ Er lauerte. Auf einen Fehler, auf einen falschen Schritt von mir. Um mir dann vor Augen führen zu können, wie falsch ich lag.

    Und nun noch die letzte Leseprobe aus der Urfassung. Der Anfang des Dialoges am Ende dieser Probe sollte euch bekannt vorkommen, denn der nachfolgende Wortewechsel zwischen Mel und Armand ist in einer anderen Szene später verwendet worden.
    Aber der Disput über die Mythologie verschiedener Kulturen und vor allem der Besuch im Restaurant und das nachfolgende Gedicht von Mussett fielen dem Lektoratsstift zum Opfer. Sehr zu meinem Bedauern, weil ich das Gedicht und seine Bedeutung in Bezug auf Armand sehr mochte (außerdem wär's mal ein französischer Dichter gewesen. *seufz*).
    Das Urscript war übrigens ein Drittel länger, aber etliche Sachen sind erst nach dem Lektorat dazu gekommen, so dass ich gut und gerne die Hälfte des Urscriptes streichen musste. Unter anderem auch eine sehr romantische Szene auf einer Insel im Meer, die ich in den nächsten Tagen nochmal raussuchen und posten werde.
    Viel Spaß!


    „Tut mir leid, Großmutter, aber ich habe nie behauptet, ein Naturtalent zu sein.“
    „Nein, natürlich nicht. Aber etwas mehr hätte ich schon erwartet.“
    Ich spürte ihre Enttäuschung und es tat mir leid. Aber was sollte ich denn machen? Ich war nicht zur Heilerin geboren, auch wenn mich die Heilkraft der Pflanzen und Edelsteine sehr interessierte. Aber ich hatte andere Pläne für mich. Auch wenn diese nicht gerade in Großmutters Konzept passen würden. Ich wollte nach Ägypten und an Ausgrabungen teilnehmen. Nur wie sollte ich ihr das sagen? Darüber dachte ich schon die ganze Zeit nach. Es zog mich hinaus in die Welt. Und zwar in die Welt der Vergangenheit. Ich wollte sie erkunden, ihr nahe sein, mich ihr anvertrauen. Das war mir während meines Studiums klar geworden. Alte Tempel, verschollene Zivilisationen, geheimnisvolle Höhlen, unentdeckte Welten. Die alten Ägypter faszinierten mich besonders. Aber auch die Azteken oder Inkas. Und wer wusste schon, wie viele hochentwickelte Kulturen vielleicht bisher noch unentdeckt geblieben waren. Auch der Legende von Atlantis wäre ich nur allzu gern etwas mehr auf den Grund gegangen. Ich hatte viel darüber gelesen und es kribbelte überall in mir, wenn ich an die Möglichkeiten dachte und an all die Geheimnisse, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden. Aber Grandma kannte nur ein Ziel für mich. Ich sollte eine Hexe werden, wie sie. Sie würde enttäuscht sein, wenn ich ihr die Wahrheit über meine Zukunftspläne eröffnete. Deshalb schob ich es noch immer vor mir her.
    „Vielleicht gefallen dir ja Geschichten besser“, sagte Grandma über die Schulter. Klar, ich liebe Geschichten. „Hast du schon von Persephones Ausflug in die Unterwelt gehört?“
    Vage erinnerte ich mich an die Geschichte über die Entführung von Persephone durch Hades, den Gott der Unterwelt, und wie ihre Mutter Demeter sie verzweifelt gesucht hatte. Ich nickte zögernd. Und besiegelte damit mein Schicksal für den Rest des Tages. Großmutter hatte mindestens drei Dutzend Bücher, in denen verschiedene Abhandlungen zu diesem Mythos standen. Ich wurde dazu verdonnert, sie alle zu lesen und einen gemeinsamen Sinn zu finden, den ich ins reale Leben übertragen könnte. Das einzige, was mir den Nachmittag versüßte, war der Eistee mit Honig und Zitrone und ein paar Sandwichs. Als die Sonne unterging und ich meinen Platz auf der Veranda aufgab, hatte ich immer noch keine Verbindung zum weltlichen Leben gefunden. Egal, welche der Abhandlungen ich in Betracht zog.
    „Großmutter ich kann das nicht. Wozu soll das überhaupt gut sein?“
    „Red keinen Unsinn. Natürlich kannst du das. Du solltest alle Mythen ins reale Leben übertragen können. Dafür sind sie da. Um reale Abläufe für das Volk zu erklären, ohne wissenschaftliche Abhandlungen zu benutzen, die ohnehin niemand versteht. Sie sollen uns das näher bringen, was wir sonst nicht begreifen könnten.“
    Aber ich begriff gar nichts. Großmutter blieb unnachgiebig und so nahm ich die Bücher mit auf mein Zimmer und suchte weiter nach einem gemeinsamen Sinn, während Großmutter sich in ihre Hexenküche zurückzog.
    Zum X-tenmal blätterte ich nun die alten verstaubten Wälzer durch.
    „Das ist doch zum Verrücktwerden. Es sind Legenden“, tobte ich und schlug den Buchdeckel wütend zu.
    „Sie sollten nicht nur stur auswendig lernen. Das macht keinen Sinn. Sie sollten vielmehr die Mythologie verschiedener Kulturen studieren und sie miteinander vergleichen.“
    Ich erschrak fürchterlich, als Armands Stimme hinter meinem Rücken erklang.
    „Großmutter meint aber....“, begann ich zögernd nachdem ich wieder ruhiger wurde.
    „Was kümmert es mich, was Ihre Großmutter sagt?“ fragte er ironisch und antwortete selbst, bevor ich es konnte. „Richtig, meine Liebe, es kümmert mich nichts. Und Sie sollte es auch nicht kümmern. Sie haben doch ägyptische Mythologie studiert, nicht wahr?“
    „Ja richtig.“
    Er nahm im Schneidersitz neben mir Platz. Das sah seltsam aus, in dem schwarzen Umhang, aber es schien ihn nicht zu kümmern. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und legte die Fingerspitzen aneinander. Seine Miene war geduldig – fast wie die eines großen Lehrmeisters, wenn er einem jungen Novizen gegenübersitzt.
    „Nun, dann dürfte Ihnen die Ähnlichkeiten zwischen dem Kult von Demeter, Persephone und Hades und jenem von Isis, Osiris und Seth doch nicht entgangen sein“, sagte er.
    „Was für Ähnlichkeiten. Im einen Kult geht es um Mutter und Tochter und den Raub einer Jungfrau. In dem anderen um Mann und Frau und einen eifersüchtigen Liebhaber. Ich sehe da keine Gemeinsamkeit.“
    Außer vielleicht, dass es jeweils um Liebe geht, dachte ich noch bei mir.
    „Sie dürfen ja auch nicht die Geschichten direkt vergleichen“, tadelte mich Armand mit einem nachsichtigen Lächeln. „Was Sie vergleichen müssen, ist die Bedeutung, die diese Mythen und deren Kulte haben. Die sie für die Menschen jener Zeit hatten.“
    Ich blickte ihn immer noch verständnislos aber äußerst interessiert an.
    „Nun beide Kulte stehen für das Rad des Jahres“, erläuterte er mir.
    Er rückte näher zu mir und schob die Bücher energisch beiseite, die Großmutter mir über Demeter und Persephone gegeben hatte. Kleine Staubwölkchen stiegen dabei auf.
    „Sehen Sie, Persephone wird von Hades in die Unterwelt entführt, weil er sie haben will. Demeter sucht verzweifelt ihre Tochter. Als sie erfährt, das Hades sie geraubt hat, verlangt sie von Zeus, dass er Hades befiehlt, Persephone freizugeben. Doch Zeus hilft ihr nicht. Darüber ist sie ist so außer sich, dass sie, die Göttin über das Getreide, ihre Pflichten vergisst und so kein Korn wächst. Da nun das Volk Hunger leiden muss, greift Zeus doch ein. Er befielt Hades, Persephone freizugeben. Doch die hat sich inzwischen in den Herrn der Unterwelt verliebt und will bei ihm bleiben. Um allen Beteiligten – und Betroffenen – zu helfen, bestimmt Zeus nun, dass Persephone zwei Drittel des Jahres, nämlich die Zeit des Grünens, Blühens und Reifens, bei ihrer Mutter Demeter sein soll. Damit diese die Früchte des Feldes wachsen und reifen lässt. In der dunkeln Jahreszeit des Todes, also das letzte Drittel des vollen Jahres, soll Persephone bei ihrem Geliebten in der Unterwelt verweilen. Das beschreibt den Kreis des Jahres.“
    „Aha“, sagte ich unsicher. „So was ähnliches steht auch in Großmutters Büchern. Aber ich verstehe immer noch nicht, was das mit Osiris zu tun haben soll.“
    „Dann hören Sie gut zu. Isis und Osiris sind ein Paar. Und sie stehen für die Fruchtbarkeit, sowohl der Menschen und des Viehs, als auch der Früchte der Erde – sprich dem Getreide zum Beispiel. Seth, Osiris Bruder, missgönnt den beiden ihre Liebe. Er ist eifersüchtig und so verleitet er Osiris mit Hilfe einer List dazu, sich in eine Lade zu legen, die gerade eben Osiris Körpermaßen entspricht. Als Osiris sich hineinlegt, verschließt Seth die Lade und zerreißt sie in Tausend Stücke. Der Gott der Fruchtbarkeit ist tot, also ruht auch die Fruchtbarkeit der Erde, da Isis, die fruchtbare Erde, ohne den Samen ihres Liebsten, keine Frucht tragen kann. So wie auch die Erde selbst, ohne Samen keine Frucht bringt. Isis nun, sammelt alle Stücke ihres Geliebten wieder ein und fügt sie neu zusammen. Dann haucht sie ihm mit Hilfe von Amun-Re, der Sonne, die bekanntlich in der fruchtbaren Jahreszeit ebenfalls am stärksten ist, wieder neues Leben ein und so erwacht auch die Fruchtbarkeit der Erde zu neuem Leben. Und dieser Kreis wiederholt sich ebenfalls wieder und wieder. Die unfruchtbare Zeit des Jahres, ist jene, in denen Seth den Körper seines Bruders in Stücke schlägt und ihn so tötet. Die fruchtbare Zeit entspricht der, in welcher Isis den Körper des Liebsten wieder zu neuem Leben erweckt und mit ihm zusammen die Fruchtbarkeit sichert.“
    Ich war beeindruckt. Und ich vergaß für einen Moment Großmutters Lehren und ließ mich zu anderen Überlegungen hinreißen, die ich schon während meines Studiums öfter gehegt hatte. Nämlich, dass alle Religionen einen gemeinsamen Ursprung hatten, weshalb sie sich häufig ähnelten.
    „Das ist ja unglaublich. Das ist ein eindeutiger Hinweis darauf, dass die ursprünglichen Kulte alle miteinander verwandt sein könnten.“
    „Sie könnten nicht nur, Mel. Sie sind es“, versicherte mir Armand. Ich war fasziniert, verblüfft und erfreut zugleich. So machte es mir gleich viel mehr Spaß, diese alten Legenden zu studieren. Wenn ich eigene, neue Überlegungen mit einbringen konnte. Etwas, das ich mich bei Grandma seit Tagen nicht traute.
    „Woher wissen Sie das alles?“ fragte ich Armand.
    „Oh, ich hatte einen ausgezeichneten Lehrmeister“, meinte er leichthin.
    „Ihren Schöpfer?“ fragte ich und bereute beim Blick in seine Augen meine Frage sofort. Sein Blick wurde augenblicklich düster und verschlossen.
    „Nein. Von dem habe ich solche Dinge wahrlich nicht gelernt“, sagte er kühl. „Ich denke, für heute haben wir genug gelernt. Sie brauchen Ihren Schlaf. Und ich noch eine Mahlzeit.“
    Ich neigte beschämt den Kopf. Ich hatte ihn wirklich nicht verletzen wollen. Er wurde sofort wieder weich, als er sah, wie betroffen es mich machte etwas gesagt zu haben, was in ihm schmerzhafte Erinnerungen weckte.
    „Es ist nicht Ihre Schuld, mein Herz. Keine Sorge, ich komme morgen Nacht wieder.“
    Damit küsste er mich sanft auf den Mund bevor er ebenso schnell und lautlos verschwand, wie in jeder anderen Nacht zuvor.
    Nicht ohne Stolz erklärte ich Großmutter am nächsten Morgen, welche Verbindung ich zwischen dem Persephone-Mythos und dem Verlauf der Jahreszeiten sah. Sie war sehr zufrieden mit mir. Bis zu dem Punkt, an dem ich auf die Ähnlichkeit im Osiris-Kult hinwies.
    „Was soll der Unfug? Die Ägyptische Mythologie hat hiermit gar nichts zu tun. Wenn dir nicht reicht, was ich dich lehre, dann können wir das Lernpensum gerne noch erhöhen.“
    Mir blieb der Mund offen stehen. War es denn nicht gut, wenn man sein Wissen erweiterte? Das hatte sie doch immer gepredigt. Doch wenn das Wissen nicht von ihr stammte, war es offenbar nicht gut. Das widersprach völlig dem, was Großmutter mir früher einmal beigebracht hatte. Mit offenen Augen und Ohren durch die Welt gehen zu müssen, um überall zu lernen. Warum war es jetzt falsch?
    Sie blieb mir eine Antwort schuldig. Platzierte mich statt dessen wieder mit einem Haufen Bücher über magische Traditionen und magische Gesetze auf der Veranda. Ganz wichtig waren solche Gesetze wie ‚du sollst deinen magischen Lehrer ehren’, ‚du sollst einer älteren Hexe folgen’, ‚du sollst deinen magischen Führer nicht in Frage stellen’. Die einst so wichtigen Regeln, die besagen, dass man niemandem schaden soll und seine eigenen Wege der Göttin finden soll, wurden belanglos. Sie kam mir unheimlich vor, an diesem Tag, und so war ich dankbar, dass sie mich den größten Teil des Tages mir selbst überließ. Alles an ihr war so düster. Ihre Haltung, ihr Blick. Ihre Lippen waren verkniffen, wenn sie mich von drinnen beobachtete. Das fiel mir ein ums andere Mal auf. Doch gegen Abend machte sie das alles wieder wett und es war, als hätte ich mir die Verbitterung des Tages nur eingebildet.
    „So mein Schatz, ich glaube, du hast dir eine Pause verdient. Wie wäre es mit einem Abendessen in London?“
    Sie war bereits fertig angezogen als sie nach draußen kam. Perfekt für einen schicken Abend in der City. Gerade nahm sie den Autoschlüssel aus ihrer kleinen perlmuttbestickten Handtasche und schaute aufmunternd zu mir herüber.
    „Meinst du das ernst?“
    „Aber natürlich. Man kann doch nicht nur lernen. Wie willst du denn das alles in deinen Kopf kriegen, wenn du deinen grauen Zellen nicht auch mal eine Pause gönnst?“
    Sie lächelte mich an wie immer, und ich umarmte sie stürmisch, bevor ich an ihr vorbei schoss und mir in meinem Zimmer saubere Kleidung raussuchte. Als ich mir noch eben schnell durch die Haare fuhr, fiel mein Blick auf den kleinen Labradoritwürfel auf dem Frisiertisch. Ich steckte ihn kurzerhand in die Hosentasche. Gleich morgen würde ich mir einen kleinen Samtbeutel nähen, damit ich den Stein immer bei mir tragen konnte. Das hieß, wenn Grandma mir genug Zeit dafür ließ. Kaum zwanzig Minuten nachdem ich so ungestüm die Treppe hinaufgerannt war, saßen wir nebeneinander im Wagen und fuhren Richtung London.
    „Ich habe einen Tisch im Francine bestellt. Ein wundervolles französisches Restaurant.“
    Mhmmm. Französisch. Das hieß wundervollen Wein, köstliche Salate, wunderbare Fischgerichte und dieses sündhaft gute Brot mit gesalzener Butter, das vor jedem Essen gereicht wurde. Mir lief das Wasser im Mund zusammen.
    Wir brauchten lange, um einen Parkplatz in der Innenstadt zu bekommen. Es war Wochenende. Also war die Hölle los. Aber schließlich fand Grandma eine Parklücke, die groß genug für ihr kleines Auto war und zudem auch noch in erträglicher Entfernung vom Francine lag. Das Lokal war gut besucht. Aber wir hatte ja reserviert. Der Kellner brachte uns zu einem Tisch, etwas abseits. Wir hatten von dort einen guten Blick über das restliche Lokal, ohne uns selbst auf dem Präsentierteller zu fühlen. Es war ein kleines Restaurant, aber sehr exquisit eingerichtet. Mit vielen teuren Gemälden an den Wänden, verschnörkelten Tischen aus schwarzem Eisenguss mit Tischplatten aus Marmor. Und dazu die passenden Stühlen mit weichem roten Samtpolster. Außerdem ein sehr edler weicher Teppich in grau und beige unter unseren Füßen. Ich beneidete die Putzfrau nicht, die diesen Teppich jeden Tag wieder sauber machen musste, bevor die nächsten Gäste kamen. Das war vor allem in der kalten, nassen Jahreszeit sicher kein Zuckerschlecken. Alle Tische waren durch geschickt aufgestellte Pflanzen so abgeschirmt, dass man ein gewisses Maß an Intimsphäre hatte. Ich fühlte mich wohl und überließ es Grandma, für mich mitzubestellen. Sie kam öfter hierher. Ich dagegen war nur wenige Male hier gewesen und kannte mich auf der Speisekarte nicht so recht aus. Ein leichter Roséwein und eine Gemüsesuppe als Vorspeise. Danach Fisch nach Art des Hauses mit frischem Salat nach Jahreszeit. Der Kellner nahm die Bestellung auf und stellte uns ein Körbchen mit frischem Haselnussbrot und ein Tellerchen mit Butterflocken hin.

    Mal davon abgesehen, dass sie betrunken, Vampirblutsüchtig und somit alles andere als zurechnungsfähig ist...
    Ich hab (ganz in echt) mal einen Vierjährigen im Karate gesehen, der drei erwachsene Kleiderschränke umgelegt hat. Seitdem weiß ich, Kampfkunst hat echt null mit Körperkraft zu tun, sondern nur mit Überraschungseffekt und Geschicklichkeit...
    Hat mich damals schwer beeindruckt. Dem Knirps wollte ich nicht bei Nacht begegnen, wenn ich ihm den Lutscher geklaut hätte...

    Und hier noch der Teil der Dracon-Szene der auch dem Lektorat zum Opfer fiel und der nochmal einen zusätzlichen Einblick in den "jungen" Mann gibt, wie ich finde... Ich dachte, in diesen Thread paßt sie gut rein. Viel Spaß.


    Dracon kannte die angesagtesten Clubs in der Stadt. Wir fuhren in eine der besten Discotheken und tanzten bis zur völligen Erschöpfung. Ich tanzte gerne mit ihm, er konnte sich wunderbar bewegen. Und es machte Spaß, ihm zuzusehen. Er provozierte mit seinen Bewegungen und mehr als einmal erwischte ich mich bei der Frage, ob er sich im Bett wohl auch so gut bewegen konnte. Möglicherweise lag das an dem Adrenalin, dass durch meine Adern pulste, seit ich Tizian gesehen hatte, und auch an den vielen Drinks, die wir zu uns nahmen. Um kurz nach halb zwei hatten wir uns bereits so verausgabt, dass wir beide unbedingt eine Pause brauchten. In einer Billardbar in der Nähe setzten wir uns an die Theke und bestellten Chartreuse, weil er das so gerne mochte. Das Zeug sieht nicht nur giftgrün aus, es schmeckt auch in etwa so. Aber wenn man sich erst mal dran gewöhnt hat, kann man davon süchtig werden. Ich hatte am Mardi Gras ja schon mehr als genug davon gekostet, aber damals war ich auch bei Armand gewesen. Hier war ich mit einem völlig Fremden zusammen. Noch dazu mit einem, bei dem ich mir im Moment gar nicht sicher war, wie weit das alles gehen würde und wann ich selbst die Notbremse ziehen würde. Falls ich sie überhaupt ziehen würde. Aber Dracon war nicht im Mindesten aufdringlich. Er streichelte zärtlich mein Gesicht, hielt meine Hand und schaute mich mit seinen braunen Augen so lieb und sehnsüchtig an, das mir heiß und kalt zugleich wurde. Aber er versuchte weder mich zu küssen, noch fing er an, mich zu begrapschen, wie es die meisten anderen sicher versucht hätten. Ich hätte ihm rein kräftemäßig wenig entgegenzusetzen gehabt. Und dass er keinen Vorteil daraus zu ziehen versuchte, rechnete ich ihm hoch an. Die Bar bestand aus zwei Räumen, der eigentlichen Bar und dem Billardzimmer. An den Wänden hingen Bilder von schweren Motorrädern, heißen Sportwagen und harten alkoholischen Getränken. Das Licht war trübe, viele bunte Neonröhren, immer wieder unterbrochen durch Schwarzlicht-Lampen. Nur das Billardzimmer war etwas heller, weil über jedem Tisch ein einzelner Strahler angebracht war.
    Im Barzimmer standen ein paar Tische verteilt, mit jeweils vier Stühlen drum herum. Aber die waren alle leer. Außer uns waren nur noch zwei andere Gäste hier im Raum und die saßen auch auf den Hockern an der Bar. Alle anderen waren im Billardraum. An vier von den acht Tischen wurde gespielt. Eine Gruppe von drei jungen Männern, wohl so Anfang zwanzig. Zwei Spieler, die – offenbar recht professionell – gegeneinander spielten. Drei Pärchen, die auch paarweise gegeneinander spielten. Und eine fünfköpfige Rockerclique.
    Eine Weile schon schaute Dracon immer wieder über meine Schulter nach drüben, in den Nebenraum, wo die Billardtische standen. Plötzlich beugte er sich vor und flüsterte mir ins Ohr: „Ich glaube, es gibt gleich Ärger.“
    Ich folgte seinem Blick und sah die fünf Rocker, die hitzig miteinander diskutierten und immer wieder zu uns rüberschauten. Widerliche Kerle mit tätowierten Armen, abgewetzten Lederklamotten und schweren Metallketten um Hals und Handgelenke.
    „Lass uns lieber fahren“, flüsterte ich, denn dass sie Ärger mit uns anfangen wollten, war unschwer zu erraten.
    „Mit denen werd ich schon fertig“, meinte er nur.
    „Blödsinn. Jeder von denen wiegt mindestens doppelt so viel wie du. Und die sind zu fünft.“
    Er schaute mich an und lächelte teuflisch.
    „Abwarten. Masse ist nicht immer gleich Klasse, oder?“
    Es dauerte keine fünf Minuten mehr und die Typen kamen, nach außen hin äußerst gelassen, zu uns rüber. Die Queues noch in der Hand.
    „Sag mal, was glotzt du eigentlich ständig zu uns rüber?“ fragten sie Dracon.
    „Ach, tue ich das?“
    Er war tatsächlich völlig ruhig. Während es bei den fünf schweren Jungs eher aufgesetzt war.
    „Ja, Mann. Bist du scharf auf einen von uns?“
    „Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich euch enttäuschen muss, aber da ich mich in Begleitung einer ganz reizenden Dame befinde, habe ich keinerlei Bedarf an euresgleichen.“
    Dracon wirkte herablassend, arrogant. Er fixierte den Sprecher der fünf mit halbgeschlossenen Lidern und einem zynischen Lächeln.
    „Werd bloß nicht vorlaut, du Arsch. Sonst passiert was“, sagte jetzt ein anderer der Rocker und trat einen Schritt auf Dracon zu. Mit einem geschmeidigen Sprung, den ich kaum hatte mit den Augen verfolgen können, weil mir der Alkohol die Sinne vernebelte, war Dracon von dem Barhocker runter und stand dem Typ direkt vor der Nase.
    „Ach, und was passiert dann?“
    Der Mann war so überrascht von dieser Reaktion, dass er erst mal gar nichts sagen konnte. Seine Kumpels waren da schon etwas weniger beeindruckt. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie der hinterste den Queue fester umfasste und plötzlich mit schnellen Schritten auf Dracon losging.
    „Dracon pass auf!“ schrie ich, da ging der Typ auch schon zu Boden und Dracon hatte den Queue in der Hand.
    Es war ein schneller Kick gewesen und er hatte ihm definitiv die Nase gebrochen. Blutend wand er sich am Boden und kroch auf allen vieren rückwärts. Dracon ließ den Queue in seiner Hand kreisen, wie einen Trommelschläger. So als wöge er nichts. Sehr eindrucksvoll.
    „Du Dreckskerl“ zischte einer der vier übrigen, „dafür wirst du bezahlen.“
    „Komm doch“, forderte Dracon ihn mit einem mörderischen Glitzern in den Augen auf und winkte ihn auch noch mit der Hand herbei. Ich zitterte vor Aufregung. Was Dracon hier tat, war Wahnsinn. Aber das Schauspiel faszinierte mich und er schien offenbar völlig Herr der Lage. Genau genommen schien er sogar Spaß daran zu haben.
    Mit einem gewaltigen Schrei gingen plötzlich gleich zwei der Jungs auf ihn los. Ich hatte Mühe, den Queue-Schlägen mit meinem leicht benebelten Blick zu folgen. Ich sah den Queue des einen zersplittern, sah Dracons Queue auf seinen Nacken niedersausen. Gleichzeitig erwischte den anderen ein harter Schlag mit dem rechten Ellenbogen und mit einer eleganten Drehung streckte Dracon ihn mit dem linken Fuß endgültig nieder. Blieben also nur noch zwei. Dracon war schon wieder in Kampfstellung, als der linke der beiden angriff. Auf dem breiteren Ende des Queues abgestützt, schwang sich Dracon zur Seite und erwischte ihn mit den Füßen vor der Brust. Er landete wieder sicher auf seinen Beinen und wandte sich schon dem letzten zu, als plötzlich Sirenen erklangen. Der Barkeeper hatte die Polizei verständigt.
    „Komm, schnell!“ rief Dracon mir zu und streckte mir die Hand entgegen. Ich sprang vom Hocker herunter – etwas unsicher auf meinen Füßen, aufgrund des Alkohols in meinem Blut – fasste die Hand und zusammen stürmten wir aus der Bar und zum Motorrad. Er startete die Maschine und mit qualmenden, quietschenden Reifen düsten wir los. Bis die Polizei ankam, waren wir schon außer Sicht- und Hörweite.
    Mit Höchstgeschwindigkeit rasten wir die Canal-Street hinunter, wichen im Zickzack den Autos aus, und hielten erst unten am Fluss wieder an. Dracon stellte den Motor ab. Mit einem tiefen Seufzer fuhr er sich durch sein zerzaustes Haar.
    „Das hab ich gebraucht.“
    „Gebraucht?“ fragte ich fassungslos und stieg vom Motorrad, um mich wirkungsvoll vor ihm aufbauen zu können. Ich hatte neben meiner Bewunderung für seinen Kampfstil auch eine Todesangst um ihn gehabt. Und auch um mich. Denn wer weiß, was die Typen mit mir angestellt hätten, wenn er zu Boden gegangen wäre, statt ihrer.
    „Ach, die hatten doch nichts drauf. Ein Kinderspiel.“
    Kinderspiel! Na prima. Noch ein bisschen mehr Adrenalin heute Nacht und ich würde todsicher einen Herzinfarkt erleiden.
    „Komm her, mein Schatz“, sagte er rau und zog mich auf seinen Schoß. Seine Lippen pressten sich auf meine und seine Zunge fand ihren Weg in meinen Mund. Sein Kuss raubte mir schier den Atem. Der Kampf hatte ihn heiß gemacht. Und verdammt wollte ich sein, mich offen gestanden auch. Ich erwiderte seinen Kuss, ließ meine Hand unter seine Jacke gleiten. Der dünne Stoff seines Shirts verriet mehr von seinem Körper, als er verdeckte. Starke sehnige Muskeln, feste warme Haut. Seine Lippen glitten an meiner Kehle hinab und ein starkes Prickeln breitete sich in mir aus, als sie über die Stelle fuhren, unter der mein Puls schlug und in die Armand schon so oft seine Zähne gesenkt hatte. Auch Dracon biss mich, aber nur ganz sanft, spielerisch. Er saugte an der Haut, saugte die Hitze und das Salz heraus und mich durchfuhren herrlich elektrisierende Stöße bei diesem Gefühl

    Meinen ersten festen Freund hatte ich mit neunzehn. Er hieß Steve Gerner, studierte zwei Semester über mir Sportwissenschaften und hatte ein Handballstipendium bekommen. Steve war nicht gerade das, was man als außergewöhnliche Schönheit bezeichnen würde. Er war nur knapp einen halben Kopf größer als ich, hatte mausbraune Haare und sehr helle, graugrüne Augen. Natürlich war er schlank und durchtrainiert, aber nicht wirklich muskulös. Und er war genau das, was man als braven Jungen bezeichnen würde. Kein Draufgänger, eher einer, der immer mit dem Strom schwamm, sich ganz brav an alle Regeln hielt und fleißig für seine Prüfungen büffelte. Trotzdem hatte ich ihn gern. Es war keine Liebe – das nun wirklich nicht, aber er versuchte, mich so zu akzeptieren wie ich nun mal war, nahm viel Rücksicht und war ungemein zärtlich und einfühlsam. Mit ihm schlief ich zum erstenmal. Das Erlebnis war trotz aller seiner Bemühungen nicht gerade berauschend. Auf dem Rücksitz seines uralten Bentley, der eigentlich nur noch vom Rost zusammengehalten wurde. Aber der Wagen war sein ganzer Stolz. Wir parkten etwas außerhalb vom Campusgelände. Und dann passierte es. Es tat etwas weh, als er in mich eindrang und aufgrund seiner Unerfahrenheit war es auch ziemlich schnell wieder vorbei. Er war eben nicht der Frauenheld, der genau wusste, was ein Mädchen wollte. Aber das war nicht wichtig. Ich hatte endlich meine Jungfräulichkeit verloren und war recht glücklich darüber, auch wenn es nicht das unvergessliche Erlebnis war, von dem mir viele meiner Mitstudentinnen so vorschwärmten. Das schlimmste war für mich aber die Zeit danach, als ich drei Wochen lang mit ängstlicher Erwartung auf meine Mondblutung wartete. Meine damalige Zimmergenossin (in den ersten Jahren an der Uni hatte ich noch nicht den Luxus eines Einzelzimmers) versuchte mich damit zu beruhigen, dass sie für den Fall des Falles einen Arzt kenne, der das Problem ganz schnell wieder beiseitigen könne. Sie habe das auch schon einmal gemacht. Dass so etwas für mich nicht in Frage gekommen wäre, sagte ich ihr erst gar nicht. Sie hätte es sowieso nicht verstanden. Glücklicherweise bekam ich meine Regel. Zwar eine halbe Woche zu spät, aber ich war auf alle Fälle nicht schwanger. Noch am selben Tag besorgte ich mir die Pille, um diese Nervenprobe nicht noch ein zweites Mal durchstehen zu müssen.
    Steve und ich blieben etwa sieben Monate zusammen. Dann wurde eine Trennung plötzlich unumgänglich. Ich beendete die Beziehung, weil ich spürte, dass Steve sich immer unwohler in meiner Nähe fühlte. Er war mir fremd gegangen und befürchtete, ich könne es in seinen Gedanken lesen und mich für seine Untreue rächen. Seine Erleichterung darüber, als ich ihm erzählte, ich wisse sehr wohl davon, würde es ihm aber nicht übel nehmen, war grenzenlos. Und er war dankbar, dass ich die Beziehung in Freundschaft beenden wollte. Er hatte sich nämlich in das andere Mädchen verliebt. Ich gab ihn gerne frei, denn sie liebte ihn auch. Und das war genau das, was ich ihm nicht geben konnte: Liebe.
    Mein zweiter Freund war ein Junge namens Roy Fletscher und das genaue Gegenteil von Steve. Nicht nur optisch – er war groß, muskulös, mit nachtschwarzem Haar und stahlblauen Augen und einem Lächeln, das einem die Knie weich werden ließ. Roy war auch ein wirklich harter Typ – von der übelsten Sorte. Er studierte nicht an unserer Uni, sondern leistete hier Sozialstunden ab, für einen versuchten Raubüberfall mit schwerer Körperverletzung. Allein sein Alter – er war erst siebzehn – bewahrte ihn vorm Knast. Ich lernte ihn kennen, als die Sache mit Steve kaum eine Woche zurücklag. Und für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Für Roy war es eine nette Abwechslung und eine weitere Eroberung. Darüber war ich mir klar, aber ich wollte es genießen, so lange es ging - also bis er seine Sozialstunden abgeleistet hatte. Der Umstand, dass er drei Jahre jünger war als ich, störte mich nicht. Wohl aber unsere gesamte Umgebung. Wie auch unsere Beziehung an sich. Steve bat mich mehrmals eindringlich, die Finger von dem Typ zu lassen.
    „Melissa, er ist nicht der richtige Umgang für dich“, sagte er. Roy sei schließlich ein Verbrecher. Ich müsse auch mal an meinen Ruf denken. Doch das kümmerte mich alles nicht.
    Für mich war Roy einfach herrlich unkonventionell (vorsichtig ausgedrückt). Ihn kümmerten keine Regeln, keine Vorschriften, keine Gesetze. Er tat, was ihm Spaß machte, war wild und rebellisch. Ich liebte seine leidenschaftliche Art – besonders im Bett. Ein Draufgänger, wie er im Buche stand. Er blieb vier Monate an der Uni und so lange liebten wir uns auch, wann immer die Möglichkeit bestand. Danach verabschiedete er sich von mir mit dem Versprechen, ich würde noch viel von ihm hören. Dieses ‚viel’ war eine Meldung in den Nachrichten. Er hatte eine Bank überfallen und vier Geiseln genommen. Zwei davon hatte er erschossen, um seinen Forderungen nach einem Fluchtfahrzeug und freiem Abzug Nachdruck zu verleihen. Bei dem Versuch mit der Beute und einer Geisel zu fliehen, hatte man ihn gestellt und erschossen, als er wie ein Wahnsinniger auf die Polizisten gefeuert hatte. Ich hatte schon bei unserem Abschied geahnt, dass so etwas geschehen würde. Was mich erschreckte war, dass ich nicht einmal traurig darüber sein konnte. Ich vermisste Roy nicht.
    Danach hatte ich nur noch sehr kurzlebige Beziehungen, obwohl ich viel mit einer kleinen Clique – zu der unter anderem auch Steve gehörte – rumzog. Aber ganz egal, unter wie vielen Menschen ich mich auch befand, ich gehörte nie wirklich dazu. Und das fühlten die anderen ebenso deutlich wie ich. Rückblickend musste ich mir an diesem Nachmittag bei Grandma ganz einfach eingestehen, dass ich eigentlich mein ganzes Leben eine ziemliche Einzelgängerin gewesen war. Na ja, was soll’s? Ich war stolz auf das, was ich war. Wer damit nicht umgehen konnte, hatte eben Pech gehabt.
    Grandma ließ mich meinen Gedanken nachhängen. Wenn sie auch nicht nachvollziehen konnte, dass ich oft darunter gelitten hatte, so wusste sie doch zumindest um meine innere Einsamkeit und dass ich während meiner Schulzeit mühsam hatte lernen müssen, damit zu leben. Ich denke, sowenig Verständnis sie auch dafür hatte, dass ich anfangs darunter litt, umso stolzer war sie schließlich darauf, dass ich es geschafft hatte, so unbefangen damit umzugehen.
    Bis Sonnenuntergang blieben wir draußen auf der Veranda sitzen und genossen den Frieden um uns herum. Dann gingen wir hinein, um das Abendessen vorzubereiten. Grandmas Küche war bestens ausgerüstet mit allen möglichen Kräutern, Gewürzen und Ölen. Fleisch gab es bei ihr nur sehr selten. ‚Ehre das Leben. Fleisch brauchst du nur in geringen Mengen. Fordere also nicht mehr aus dem Reich der Tiere, als dein Körper wirklich benötigt’ , hatte sie mir erklärt und ich versuchte, es zu respektieren. Es war schon fast unglaublich, was sie mit ein bisschen Gemüse und Getreide alles herzaubern konnte. Gekocht wurde noch immer auf einem alten Holzofen. Zwar wurde des Holzhacken immer mühsamer für sie, aber sie wollte ihre Tradition auch nicht aufgeben. Der Ofen war schon seit Generationen im Besitz der Familie und war irgendwann von Ungarn mit nach Deutschland und von dort weiter nach England gebracht worden. Alle Frauen hatten das Essen auf diesem Ofen zubereitet und so würde sie es ebenfalls halten, bis zu ihrem Tod.
    „Du wirst ihn hoffentlich wenigstens in Ehren halten, wenn du ihn einmal erbst. Auch wenn ich wohl kaum davon ausgehen kann, dass du ihn ebenfalls zum Kochen benutzen wirst, bei all den modernen Haushaltsherden heutzutage“, sagte sie, während sie Möhren in den Eintopf schnitt.
    Nun, einen Mikrowellenherd hielt ich für wahrscheinlicher und sprach es auch aus, ohne weiter nachzudenken. Ich erntete einen beleidigten Blick dafür und hatte den Anstand, etwas zerknirscht zu schauen. Mit meinen Kochkünsten war es allerdings ohnehin nicht allzu weit her. So ’ne Mikrowelle war da richtig praktisch.
    Für eine Küche fand ich den Raum sehr hell. Alles war überwiegend in weiß oder heller Eiche gehalten und wirkte fast schon klinisch sauber. Bei mir würde so eine Küche sicher in Nullkommanichts grau und fleckig aussehen. Da würde ich schon ein paar Heinzelmännchen brauchen, um sie so sauber zu halten, wie Grandma. Bei dem Gedanken an Heinzelmännchen musste ich wieder an meinen geheimnisvoller Helfer denken und überlegte, ob ich Grandma nicht doch von ihm erzählen sollte. Aber irgendetwas in mir sträubte sich dagegen, und so ließ ich es bleiben. Vermutlich würde er ohnehin nie wieder auftauchen.
    Das Abendessen nahmen wir im Wohnzimmer am Esstisch ein. Das Wohnzimmer war ein krasser Gegensatz zur Küche. Dunkel und rustikal. Mit viel Holz und einer Sitzgarnitur aus mokkafarbenem Samt. Die meisten hätten hier wahrscheinlich als allererstes den Fernseher vermisst, denn bei Großmutter gab es weder Radio, noch Fernsehen, noch eine Tageszeitung. Sie verließ sich auf ihre übersinnlichen Antennen und alles andere erfuhr sie bei ihren regelmäßigen Besuchen in der Stadt. All diesen modernen Mumpitz hielt sie für unsinnig und verblendend. Der einzige technische Luxus und eine sichere Verbindung nach draußen, stellte das uralte Telefon dar, bei dem ich mich schon manches Mal gefragt hatte, wie es überhaupt noch funktionieren konnte. Das Ding gehörte in ein Museum, nicht in einen Haushalt. Aber offen gestanden, fehlten mir all diese Luxusgegenstände nie, wenn ich bei Grandma war. Hier gab es soviel zu tun und zu entdecken. Soviel zu lesen und zu lernen. Es wurde nie langweilig. Und ich denke, die modernen Geräte hätten ohnehin nur die Ruhe und Romantik dieses Ortes zerstört. Es hätte einfach nicht hierher gepasst. Während des Essens redeten wir über belanglose Dinge und beschlossen, später ein paar kleine Experimente mit meinen medialen Fähigkeiten zu machen. In Großmutters Hexenküche ließ sie mich mittels Telepathie Kontakt zu einigen ihr bekannten Geistwesen aufnehmen, sowie einige Gegenstände mit der Kraft meines Willens zum Schweben bringen. Es strengte mich weit mehr an, als ich gedacht hätte und so hörten wir kurz nach Mitternacht schließlich auf.
    „Du bist sehr müde. Das alles ist wohl noch etwas viel für dich. Geh schlafen. Morgen früh fangen wir mit der Theorie an. An die Praxis gehen wir erst wieder, wenn du etwas stärker geworden bist. Du bist zu schutzlos, wenn du dich so verausgabst.“
    Mit einem zärtlichen Kuss auf die Stirn entließ mich Grandma und ich zog mich in mein altes Kinderzimmer auf dem Dachboden zurück.

    Ich hörte leider nichts mehr von meinem unbekannten Helfer. Mein Examen bestand ich recht passabel und ich entschied mich, danach erst mal einen längeren Urlaub zu machen. Dabei dachte ich nicht an die Südsee oder die Staaten. Mir reichte schon das kleine beschauliche Häuschen im Grünen in der Nähe von Thedford, in dem Grandma lebte und zauberte. Sie war eine Hexe, eine Hohepriesterin, und hatte sich im Laufe ihres Lebens Wissen angeeignet, von dem ich nur träumen konnte. Ich war bei ihr aufgewachsen, nachdem meine Mutter gestorben war und ich liebte sie damals mehr als mein eigenes Leben. Hier kam ich zur Ruhe. Ich vergaß die Mühen meines Studiums und auch die ägyptischen Geister rückten erst mal in weite Ferne.
    „Wenn du dich ein bisschen erholt hast, können wir hier mit deinem Unterricht fortfahren. Da es sich nun geöffnet hat, ist die Zeit reif, dich einzuweihen. Aber lass dir Zeit, mein Kind. Es drängt uns nicht.“
    Wir saßen auf der Veranda und tranken Tee. Typisch britisch. Davon ließ Grandma sich nicht abbringen. Ich atmete den aromatischen Duft des Tees tief ein und entspannte mich. Meine Sachen standen alle noch eingepackt oben in meinem Zimmer, aber ich würde später noch genug Zeit haben, sie auszupacken. Jetzt wollte ich einfach nur die Ruhe genießen – und den Tee. Ich war so glücklich, hier zu sein, wo ich Frieden hatte.
    Großmutters Haus lag mitten im Grünen. An einem kleinen See, umgeben von Wäldern. Das Haus selbst war aus Holz und Stein massiv gebaut und in tadellosem Zustand. Die beiden Veranden – eine große vor dem Haus und eine etwas kleinere nach hinten – wurden täglich von ihr gefegt und regelmäßig neu mit weißer Farbe gestrichen. Auf beiden standen ein kleines Tischchen und zwei bequeme Schaukelstühle, die ihr Urgroßvater selbst geschreinert hatte. An die Vorderveranda angrenzend lag ihr kleiner Kräutergarten. Der Obst- und Gemüsegarten befand sich hinter dem Haus. Die Dachziegel waren aus rotgebranntem Lehm, die Wände des Gebäudes weiß verputzt. Fensterläden und Türrahmen waren Ton in Ton zum Dach gestrichen. Kleine Windspiele und Mobiles hingen von der Decke und wenn der Wind um sie herum strich, klingelten sie leise und melodisch. Nach vorne hin hatte das Haus zwei Giebel mit Fenstern im oberen Stockwerk. Dort hatte ich meine Räume. Ein Wohn- und Schlafzimmer und ein kleines Bad. Nach hinten waren lediglich Dachfenster in die Schräge gearbeitet, wo Großmutter ihr Schlafzimmer hatte. Ihre übrigen Zimmer befanden sich unten.
    „Ich wünschte, meine Mutter wäre hier“, sagte ich sehnsüchtig, während ich an meiner Tasse nippte. „Ich habe sie zwar nicht wirklich gekannt, aber sie fehlt mir manchmal einfach.“
    „Das ist ganz normal, Melissa. Und jeder Mensch kennt seine Mutter. Eine Seele vergisst nie eine andere, die ihr einmal nahe war.“
    Grandma wippte leicht mit ihrem Schaukelstuhl und schaute in die Ferne. Ihre Stimme klang sanft, aber dennoch sehr kühl. Meine Mutter war ein Thema, dem sie stets aus dem Weg zu gehen pflegte. Manchmal wunderte mich das sehr. Schließlich war es doch ihre Tochter gewesen.
    „Du sprichst nie von ihr. Warum?“
    Sie lehnte sich zurück und stellte das Wippen abrupt ein. Dabei wurden ihre Züge geradezu undurchdringlich.
    „Es würde sie dir nicht zurückbringen. Und du solltest dich mit dem beschäftigen, was ist, nicht mit dem, was war.“
    Ich blickte in meine Teetasse. Die dampfende Flüssigkeit schimmerte rotbraun. Für einen Moment sah ich das Gesicht einer Frau darin aufblitzen. Sie lächelte. Dann war sie wieder verschwunden.
    Mein Vater war bei einem tragischen Unglück ums Leben gekommen. Seine Familie hatte jeglichen Kontakt abgebrochen. Mum war kurz darauf sehr krank geworden und schließlich auch gestorben. Mehr erfuhr ich nie. Über das wie und warum des Unglücks, über Dads Familie, über Mums Krankheit. Großmutter sagte immer, es würde mich zu tief verletzen. Ich hatte keinen Grund, ihr das nicht zu glauben und so vertraute ich ihr und akzeptierte ihr Schweigen. Ich wuchs bei ihr auf und sie zog mich so liebevoll groß, wie es auch eine Mutter nicht besser hätte tun können. Ich hatte daher einfach das Gefühl, dass es mir nicht zustand, weiter in sie zu dringen, wenn sie nicht darüber reden wollte.
    „Weißt du, während der letzten Wochen sind mir meine spirituellen Fähigkeiten ganz schön auf die Nerven gefallen.“
    Es war der krampfhafte Versuch das Thema zu wechseln. Grandma wollte nie über meine Mutter sprechen und ich traute mich einfach nicht, es zu verlangen.
    „Hätte ich geahnt, dass es so plötzlich losgeht, hätte ich dir in den Semesterferien die ersten Lektionen erteilt. Dann hättest du sie besser im Griff gehabt.“
    Wir mussten beide lachen. Stolz war ich nicht gerade auf mein C in der Gesamtwertung, aber es war schon okay. Es würde sich schon irgendwer finden, der mich auch mit einem C in der Abschlussprüfung noch einstellte. Und immerhin hatte ich seit meiner letzten Begegnung mit Amir auch endgültig Frieden vor meinen ‚Plagegeistern’.
    Ich lehnte mich zurück und ließ mein Leben ein bisschen an mir vorbeiziehen. Ich war gerade mal zwei Jahre alt gewesen, als Grandma mich zu sich genommen hatte. Mum war an einem seltenen Fieber gestorben und da die Familie meines Vaters sich schon vor dessen Tod abgewendet hatte, gab es außer Grandma keine weiteren Verwandten. Ich hatte keine Erinnerung an meine Mutter und das tat mir manchmal unendlich weh. Grandma hatte keine Bilder von ihr und so wusste ich nicht einmal wie sie aussah. Es gab von niemandem aus der Familie Bilder, denn mit Bildern gab man anderen die Möglichkeit magische Macht über einen auszuüben. Also untersagte Grandma derlei Dinge völlig. Nicht mal auf den Klassenfotos meiner Schule oder meiner Uni war ich mit drauf. Mein Pass war wohl das einzige Zugeständnis, das sie in dieser Hinsicht gemacht hatte. Und auch das nur, weil es sich nun mal gar nicht vermeiden ließ.
    Meine Kindheit hatte ich fast ausschließlich hier draußen bei Grandma verbracht. Ich war einsam gewesen, zig Kilometer von jeder Nachbarschaft entfernt. Und somit auch von allen Gleichaltrigen, die meine Freunde hätten sein können. Also hatte ich in meiner Kindheit ganz einfach keine gehabt. Auch später auf der Schule nicht. Aber dazu komme ich noch. Großmutter hatte sich alle Mühe gegeben, mir das Leben hier draußen einfacher zu machen. Sie hatte mir früh Lesen und Schreiben beigebracht, so dass ich mich tagelang in ihrer Bibliothek beschäftigen konnte. Natürlich war der Stoff in diesen Büchern viel zu schwer für ein kleines Kind, und ich verstand fast nichts von dem was ich da las und behielt noch weniger davon in Erinnerung. Aber ich klammerte mich an diese Bücher, da sie alles waren, was ich hatte. Diese Bücher und einen geheimnisvollen Phantasie-Freund, den ich mir erschuf und der immer kam, wenn meine Einsamkeit mich allzu sehr quälte. Mit ihm hatte ich dann über all meine kleinen Geheimnisse und Träume reden können. Er war ein wunderschöner dunkler Prinz, der immer für mich da war, wenn ich mich in der Nacht fürchtete, oder wenn ich später Probleme in der Schule gehabt hatte. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass er nur für mich da wäre, für sonst niemanden auf der Welt. Und er kam immer erst, wenn es ganz dunkel war, damit Großmutter ihn nicht bemerkte. Denn ihn wollte ich ganz für mich alleine haben. Ich wollte ihn mit niemandem teilen. Er nannte mich, seine kleine Prinzessin und sein Augenstern und hielt mich oft im Arm bis ich eingeschlafen war. Er war ein perfekter Märchenprinz gewesen, so wie die eben sind. Und unbesiegbar. Er hatte sogar einen großen schwarzen Hengst, den er manchmal mitbrachte, wenn er mich besuchte und dann durfte ich darauf reiten und fühlte mich wie die Königin von England. Verwunschene Orte zeigte er mir, Geheimplätze und magische Verstecke, und er prophezeite mir oft, dass ich einmal eine mächtige Hexe werden würde. Das war genau das, was ich mir damals als kleines Mädchen am sehnlichsten wünschte. Die mächtigste gute Hexe der Welt zu sein. Er sang mir Lieder vor, in einer Sprache, die ich nicht verstand. Aber ich hörte ihm gerne zu. Er kannte die beiden Burgfräulein aus meinen Träumen, deren Namen ich nie aussprechen durfte, die ich aber nie vergessen dürfe, wie er sagte. Großmutter wusste nichts über die beiden edlen Frauen, die in einem verwunschenen Schloss gelebt hatten und mich oft zum Tee eingeladen hatten. Warum sie das irgendwann nicht mehr taten, sondern nur noch ab und zu in meine Träume kamen, konnte ich nicht verstehen. ‚Weil sie weit weg reisen mussten und niemand weiß, wann sie wiederkommen’, hatte mein Märchenprinz mir erklärt. Als ich Grandma einmal von den beiden Edelfrauen erzählt hatte, hatte sie nur gemeint, das seien alberne Träumereien und mich ermahnt solche Sachen zu vergessen. Und dann hatte sie mir einen Kräutertee gebraut, damit ich besser schlafen konnte. Mit den Jahren hatte ich die beiden Edelfrauen tatsächlich fast vergessen, und meinen Märchenprinzen ebenfalls. Wie das halt so ist, mit den Kinderträumen. Sie verlieren sich, wenn man erwachsen wird. Irgendwann kam mein Prinz nicht mehr. Weil ich meine Phantastereien ablegte, als ich älter wurde. Aber gerade jetzt musste ich wieder an all das denken. Ich lächelte verstohlen und Grandma blickte fragend zu mir hinüber.
    „Ach nichts, Großmutter. Ich habe nur grade an ein paar Sachen aus meiner Kindheit gedacht.“
    Missbilligend verzog sie das Gesicht. Ich sei jetzt erwachsen und sollte nicht mehr meinen Kindertagen nachhängen. Vor mir läge schließlich eine ganze Welt.
    Eine ganze Welt. Mit einem C im Schlussexamen würde es vermutlich nicht mal die halbe Welt sein. Wenn mein edler Prinz doch nur wiederkommen und mich auf sein Märchenschloss entführen würde. Im Moment hätte ich nichts dagegen gehabt, dieser Welt zu entfliehen und mich im Nirgendwo zu verlieren. Zusammen mit einem schönen, stattlichen Prinzen, der mir die Welt zu Füßen legte und die Sterne vom Himmel holte. Natürlich hatte es ihn nie wirklich gegeben, ermahnte ich mich. Damals nicht und heute nicht. Aber mein geheimnisvoller Freund war mir eine Stütze gewesen. Und als ich später an der Uni in Glasgow studierte, hatte ich mir oft gewünscht, er würde wiederkommen. Aber aus dem Alter war ich leider raus. Ich dachte noch mal an den Unbekannten, der meine Römerklausur für mich geschrieben hatte. Wer immer er auch war, irgendwie fand ich die Vorstellung reizvoll, dass es mein Märchenprinz von damals war, der zu mir zurückgekehrt war. Ich erwähnte ihn gegenüber Grandma nicht. Sie hätte das nicht verstanden. Sie hatte auch nicht verstanden, warum ich als Kind so sehr unter der Einsamkeit gelitten hatte. Darunter, dass sie mich später, als ich zur Schule ging und endlich auch mal die Welt da draußen kennen lernte, alle mieden. Ich hatte während meiner Schulzeit keine engeren Freundschaften. Die meisten meiner Mitschüler mieden die „Hexentochter“, wie sie mich nannten. Und die wenigen, die sich trotzdem in meine Nähe wagten, bekamen recht schnell den Umgang mit mir von ihren Eltern untersagt. Ich galt als sonderbar. Und meine ausgezeichneten schulischen Leistungen (die leider nach dem Wechsel auf die Uni nicht mehr ganz so glänzend waren, um es mal vorsichtig auszudrücken) halfen mir auch nicht gerade, die Barriere zwischen mir und den anderen Schülern zu überwinden.
    Zumindest das war dann auf der Uni einfacher geworden. Hier war ich anonym. Keiner wusste hier in Glasgow etwas von meiner Großmutter, der Hexe und Hohepriesterin. Keiner nahm Anstoß an meinem Verhalten und meinen Denkweisen. Ich hatte sogar einige kurzlebige Beziehungen mit Männern. Aber nichts wirklich ernstes. Entweder langweilte mich ihre Engstirnigkeit, oder sie bekamen Angst vor meiner paranormalen Stärke. Denn Gedankenlesen konnte ich immerhin sehr gut. Fast jeder fühlte sich etwas unwohl in meiner Gegenwart – meine Profs eingeschlossen – und alle versuchten peinlich genau auf ihre Gedanken zu achten. Aber wirklich gemieden wurde ich hier von keinem. Ich studierte schließlich unter anderem Parapsychologie und viele meiner Studienkollegen hatten ansatzweise ähnliche Fähigkeiten (mit denen man was hätte anfangen können, wenn sie sich nicht solche Mühe gegeben hätte, sie zu unterdrücken) oder zumindest das Interesse daran. Allerdings sah man das ganze hier eher nüchtern und wissenschaftlich. Man erforschte und erklärte diese Dinge. Man lebte sie nicht.

    Erinnerungen und andere Gespenster


    Es begann wie ich schon sagte während meines Abschlussjahres an der Uni. Damals – es erscheint mir Ewigkeiten her – hieß ich noch Melissa Carter, und meine Welt war noch in Ordnung und verlief in einigermaßen festen und geregelten Bahnen. Zwar würde ich meinen Abschluss wohl nur gerade eben schaffen, doch immerhin bestand keine Gefahr, dass ich durch die Prüfungen rasseln würde. Das einzige, was mich ein wenig aus dem Konzept brachte war, dass sich das magische Tor in mir geöffnet und ich einen unerwarteten – und vor allem unerwünscht starken – Kontakt zur Geisterwelt bekommen hatte.
    Eine weitere schlaflose Nacht lag daher hinter mir. Ich hatte in den vergangenen Nächten keine Ruhe mehr finden können, seit das Tor in mir geöffnet war. Und ich hatte leider auch weder die Erfahrung noch auch nur ansatzweise eine Idee, wie ich dem entfliehen und mir wieder Ruhe verschaffen konnte. Diesmal war es ein Töpfer namens Amir gewesen, der nicht begreifen konnte, warum sein geliebter Pharao ihn nicht mit in sein Grab genommen hatte. Er empfand es als himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass der Pharao seine Schreiber zu sich ins nächste Leben befohlen hatte, während er sich mit einem bescheidenen Grab weit ab vom Tal der Könige zufrieden geben musste. Und das wo er doch immer so kunstvolle Vasen und Gefäße in so außergewöhnlicher Qualität und Schönheit für seinen Pharao hergestellt hatte. Ich empfand es eher als himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass ich mir diesen Unfug anhören musste. Und das auch noch 4000 Jahre später. Als ob ich noch irgendetwas daran ändern könnte. Sollte er doch froh sein, dass sein Pharao ihn nicht gleich mit um die Ecke gebracht hatte, als er starb. Ich jedenfalls hatte meine eigenen Probleme. Mein Examen nämlich, durch das ich wahrscheinlich nicht nur wegen meiner Wissenslücken sondern ganz sicher auch wegen meines beträchtlichen Schlafmangels mit Pauken und Trompeten durchfallen würde, wenn nicht bald ein Wunder geschähe. Und dann auch noch so was. Ob ich nicht vielleicht wenigstens ein kleines bisschen an den Geschichtsbüchern drehen könne, damit sein Name nicht völlig in Vergessenheit geriet. Aber klar, sicher doch! Sonst noch was? Wie stellte er sich das eigentlich vor? Erst in den frühen Morgenstunden konnte ich Amir, höflich aber bestimmt, dazu bewegen, mein Zimmer im Studentenwohnheim zu verlassen und mir ein paar Stunden lebenswichtigen Schlaf zu gönnen. Ich hatte das Gefühl gerade erst eingeschlafen zu sein, als der Wecker mich auch schon wieder in die harte Realität zurückholte.
    Zwei Stunden später saß ich mit schweren Augenlidern und dumpfem Schädel über meiner Römerklausur und war nicht einmal in der Lage, die Fragen richtig zu interpretieren, geschweige denn, irgendwelche Antworten darauf zu finden. Und das, wo das römische Reich ohnehin schon meine Schwachstelle war. Ich hatte einfach keinen Draht zu Julius Cäser, Nero und den Gladiatoren. Womit hatte ich das nur verdient? Und genau in diesem Moment, als ich eigentlich alle Geister der Welt (und meine Profs genauso) am liebsten ins Niemandsland gewünscht hätte, hatte ich meinen ersten Kontakt mit dem Mann, der mein Leben grundlegend verändern sollte.
    „Geben Sie es auf, ma chere.“ Ich zuckte zusammen und war schlagartig hellwach (na ja, hellwach ist vielleicht doch ein bisschen übertrieben). Wer hatte das gesagt? Mein Professor saß tief in seinem Historienbuch vergraben an seinem Pult. Und all meine Mitstudenten mühten sich mit ihrer Klausur. In den Sonnenstrahlen, die durch die große Fensterreihe hereinfielen tanzten winzige Staubkörnchen. Leise konnte man das Rauschen der Klimaanlage hören. Aus dem Wasserhahn des Spülbeckens in der Ecke fiel ein Tropfen. Sonst war alles ruhig. Hier und da ein Knistern von Papier, ein Quietschen von Radiergummi, ein verhaltenes Husten. Unsicher blickte ich in die Runde. Keiner schenkte mir auch nur die geringste Aufmerksamkeit.
    „Geben Sie sich keine Mühe, Sie können mich nicht sehen. Aber das ist auch gar nicht so wichtig. Sie werden diese Klausur in hundert Jahren nicht bestehen. Geben Sie die Blätter ab und legen Sie sich ins Bett. Ich werde Ihnen die Plagegeister derweil vom Hals halten und mich um Ihre Klausur kümmern.“
    Wer wusste von meinen nächtlichen Besuchern? Ich hatte mit niemandem darüber gesprochen, denn jeder halbwegs vernünftige Mensch (Parapsychologiestudium hin oder her) hätte mich todsicher für verrückt erklärt, wenn ich mit einer solchen Story dahergekommen wäre.
    „Tun Sie, was ich sage und denken Sie nicht weiter drüber nach. Sie werden früh genug alles erfahren.“
    „Hallo?“ ich stellte die Frage in Gedanken. Denn scheinbar hatte ich es hier mit Telepathie zu tun. Aber ich bekam keine Antwort mehr.
    „Geisteskrankheit – hervorgerufen durch Schlafmangel. Jetzt siehst du nicht nur Gespenster, du hörst sie auch noch“, sagte ich zu mir selbst. Aber warum eigentlich nicht? Die Klausur konnte ich so oder so vergessen. Warum sich nicht einen Tag Auszeit gönnen und den Schlaf von der Nacht nachholen. Am Tage würden mich wenigstens die Geister in Ruhe lassen. Mein Professor bedachte mich mit einem vernichtenden Blick, als ich knapp 20 Minuten nach Klausurbeginn bereits meine Mappe abgab und mich verabschiedete.
    „Sie müssen ja eine Unmenge an Informationen über die Römer niedergeschrieben haben, Miss Carter.“
    Ich erwiderte seinen spöttisch-ironischen Blick mit einem ebensolchen Lächeln und verließ den Hörsaal. Der konnte mich mal gernhaben. Ich wollte nur noch mein Bett.
    Das letzte, woran ich dachte war, ‚Viel Spaß mit meiner Römer-Klausur Mr. Unbekannt.’
    Dann war ich auch schon eingeschlafen – und wachte 23 Stunden später erst wieder auf.
    „Scheiße! Verdammte Scheiße. Jetzt komme ich auch noch zu spät zu Latein. Göttin, wie kann man nur so lange schlafen?“
    Fluchend und stolpernd (meine Lebenskräfte waren noch immer nicht wieder voll da) schleppte ich mich unter die Dusche, die ich mutig, aber dafür umso lautstarker fluchend auf eiskalt stellte. Anschließend schlüpfte ich – immer noch leicht benommen – in Jeans und T-Shirt, wand meine rote Mähne zu einem lockeren Knoten, den ich mit einem Bleistift feststeckte (ich hatte grad nichts anderes zur Hand) und rannte, so schnell ich konnte über den Platz zum Uni-Gebäude. Mitten in die Stunde reinplatzen, oder Latein ganz bleiben lassen und erst zur Archäologie-Stunde erscheinen? Letzteres erschien mir vernünftiger, da Latein nur noch eine knappe viertel Stunde dauerte. Das Uni-Gebäude selbst lag kaum fünf Minuten vom Studentenwohnheim entfernt. Nur durch eine kleine Parkanlage mit uralten Bäumen und billigen Blumenbeeten voneinander getrennt.
    Im Winter wirkte dieser Campus-Park immer beinah unheimlich auf mich. Mit den knorrigen alten Eichen, die ihre kahlen Äste trostlos in den Himmel reckten. Wie starr – wie tot. Und auf den Wegen brauner Schneematsch. All das unter einem trübe verhangenen Glasgower Winterhimmel. Still und kalt war es dann hier. Im Frühling und Sommer war das ganz anders. Es war angenehm, wenn man mittags seine Decke auf dem grünen Rasen unter den wieder dicht belaubten Bäumen aufschlug. Beim Lernen die wärmende Sonne genoss. Und wenn das Summen der Insekten und das Zwitschern der Vögel einen durch den Tag begleitete. Der Duft der Blumen verlieh dem ganzen etwas ungemein heimeliges. Aber am meisten liebte ich den Herbst. Wenn es ruhiger wurde, aber immer noch lebendig und warm blieb. Wenn die letzten Blumen blühten, die Blätter sich bunt färbten und zwischen all den Sträuchern und Bäumen die kleinen Eichhörnchen aufgeregt hin und her flitzten, um Vorräte für den bevorstehenden Winter zu sammeln. Es dauerte immer nur wenige Tage, bis man die kleinen Nager mit Futter wieder so zahm bekommen hatte, dass sie einem aus der Hand fraßen. Und das ein oder andere besonders kecke und vorwitzige Kerlchen tanzte uns Studenten dann buchstäblich auf dem Kopf herum.
    Nun, diesen Herbst würde ich nicht mehr hier auf der Uni verbringen. Bis dahin würde ich mein Studium abgeschlossen haben und für immer von hier fort gehen. Ich bedauerte es nicht wirklich. Und doch war da eine Spur von Wehmut bei dem Gedanken daran.
    Ich erreichte das Ende der Grünfläche und wie immer, wenn ich aus dem Park herauskam und über den großen Schulhof zum Hauptgebäude hinübersah, überkam mich das Gefühl, dass es einzig mit der Absicht erbaut worden war, uns Studenten einen Heidenrespekt einzuflößen. Gigantisch ragte es vor einem auf. Ein Koloss aus Stein und Beton. Völlig fehl am Platz, aber ehrfurchtgebietend. Und drinnen kam man sich beinah vor, wie in einem Krankenhaus. Es herrschte eine sterile, unpersönliche Atmosphäre. Sogar in den Lesungsräumen und in den beiden großen Schulbibliotheken. Die Wände waren allesamt grün gestrichen, die Decken weiß. Und die Böden waren Grau in Grau. Unterstrichen wurde das alles noch durch die peniblen Regeln, auf deren Einhaltung das Aufsichtspersonal und die Professoren genauestens achteten. Die Strafen für Verstöße jeder Art waren zwar nicht mittelalterlich, aber dennoch hart und demütigend. Doch so hielt man die Ordnung aufrecht, die so wichtig war. Gerade bei den Studiengebieten, die hier angeboten wurden. Der einzige, etwas hellere Ort in dem riesigen Gebäude war die Kantine, in der wir Studenten zu Mittag aßen. Das Essen war zwar nicht gerade für Gourmets – es war eher fad, meist ziemlich verkocht und kaum gewürzt – doch es ging schnell und war günstig, hier zu essen. Also taten es die meisten von uns.
    Am Haupteingang der „Festung“, wie wir Studenten das Schulgebäude nannten, wurden meine Nerven erneut auf eine Geduldsprobe gestellt. Amir schwebte nervös auf und ab. Am helllichten Tag! Hatte der noch alle Tassen im Schrank? Wieder fiel mir auf, wie deutlich er sich doch darstellte, trotz seiner Durchsichtigkeit. Klar konnte man das lange schwarze Haar in ägyptischem Stil sehen. Und die mandelförmigen Augen mit der dunklen Kohlestiftumrahmung blickten mich nahezu lebendig an. Trotz all seiner geistigen Verzweiflung war seine Haltung die eines stolzen ägyptischen Kaufmannes. Und insgeheim bewunderte ich ihn. Aber trotzdem, er war mir lästig – gerade jetzt.
    „Ich habe jetzt keine Zeit für dich, Amir. Ich bin spät dran. Und außerdem ist es mitten am Tag. Du solltest gar nicht hier sein.“
    „Aber letzte Nacht kein Durchkommen zu dir, mein Problem....“
    „Ganz richtig, Amir – DEIN Problem. Es ist deins und es bleibt deins, und es ist ein 4000 Jahre altes Problem. Aber da es deins ist, löse es auch bitte selbst und lass mich mein Examen machen. Und sag das auch deinen anderen Geisterfreunden. Ich kann eure Probleme nicht lösen, nur weil ich euch sehen und hören kann. Ich bin paranormal begabt, aber mehr auch nicht.“ (leider, fügte ich in Gedanken hinzu)
    Ich war halb wütend, halb verzweifelt. Wie sollte ich all diesen Geschöpfen nur klarmachen, dass ich keine Hilfe sein würde, egal wie sehr sie es sich erhofften. Ich war nur ein Mensch, der sie sehen und hören konnte, aber ich konnte mit meinen Fähigkeiten nicht mal mir selbst helfen. Wie sollte ich sie da für jemand anderen einsetzen können?
    Amir sah mich lange an, dann nickte er.
    „Vielleicht du haben recht, Melissa. Vielleicht jetzt andere da sein, uns zu helfen. Aber du sein sehr stark. Vielleicht eines Tages ich dir können helfen.“
    Dann war er verschwunden. Noch bevor ich ihn fragen konnte, wie er das meinte. Hätte ich doch nur schon eher gewusst, dass das so einfach ging. Dabei hatte er nicht im mindesten enttäuscht oder gar böse ausgesehen. Was mich ehrlich gesagt, ein bisschen wunderte. Aber wie ich ihm bereits gesagt hatte, ich hatte keine Zeit. Archäologie begann in den nächsten paar Minuten und vermutlich würden wir unsere Römer-Klausur von gestern dann direkt zurückbekommen. Wir hatten in Historie und Archäologie denselben Prof.
    Ich behielt Recht. Er verteilte die gestrige Klausur während er uns die Abschlussklausur in Archäologie schreiben ließ. Jeder musste ein Thema ziehen. Ich zog Ägypten. Und reuevoll bedankte ich mich bei meinen nächtlichen Besuchern. Hatte ich doch von ihnen viele Informationen mehr oder weniger absichtlich aus erster Hand. Und da Ägypten ohnehin mein Steckenpferd war, fiel mir diese Klausur denkbar leicht.
    „Sie haben bereits Ihre Jahresklausur über Ägypten geschrieben, Miss Carter, nicht wahr. Ihr Spezialgebiet, wenn ich mich nicht irre. Sie haben schon bemerkenswert viel Glück.“
    Unser Prof blickte mir über die Schulter, während ich meine Klausur stichpunktartig vorbereitete.
    „Es ist mir ein Rätsel, wie sie es geschafft haben, meine Liebe. Aber dennoch meinen Glückwunsch.“
    Er legte die gestrige Klausur quer über meine aktuelle Arbeit und ging weiter. Mir blieb der Mund offen stehen. Dort stand ein dickes rotes A. Volle Punktzahl. Hastig blätterte ich die Mappe durch. Eine perfekte Arbeit. Und noch dazu in meiner schönsten Sonntagschrift. Ich fragte mich, wie er – mein unbekannter neuer Freund - das wohl geschafft hatte. Er musste ein Genie sein, was das alte Rom anging – und Handschriften.

    So, hab mir überlegt, dass hier eine Leseprobe der Urversion am besten passen würde. Es wird auch noch mehr als diese eine geben, aber ich denke dies gibt schon mal einen guten Einblick darin, was sich verändert hat. Hier gibt es z.B. noch den Töpfer Amir, der Mel ursprünglich in Ägypten in Athaírs Höhle ins Reich der Toten begleitet hat und der auch einen Vorwand lieferte, warum sie nach Ägypten fuhr. In der Urfassung fand sie eine Schriftrolle über ihn in den Ashera-Archiven und nahm das als Wink des Schicksals nach Ägypten zu reisen und seiner Seele dort vor Ort zu helfen. Das mußte alles angepaßt werden, weil die Handlung um Amir aus der Geschichte raus sollte - gemäß Lektorat. Um Seiten zu sparen ;-)
    Und hier gibt es auch ein wenig Hintergrund zu Mel's Kindheit und Studienzeit und vergangenen Liebschaften...
    Auch Armand taucht hier schon viel früher auf, als unbekannter Helfer während den Abschlussklausuren. Auch das musste ich anpassen, weil dieser ganze Absatz dem Lektorat zum Opfer fiel. Was ich persönlich sehr schade fand.


    Viel Spaß!!! (P.S.: Muss es aber in mehreren Etappen posten, da sonst zu lang...)

    @ Antilov: Äh, im zweiten Band taucht Ben nicht auf. Aber man erfährt noch, was aus ihm geworden ist... :-]


    Zu Mel und Madeleine... es wäre doch sehr unsinnig, auf eine Frau eifersüchtig zu sein, die seit 200 Jahren tot ist...


    Nein, ganz im ernst. Armand liebt Mel um ihrer selbst willen. Und das mehr und mehr von Tag zu Tag... pardon ... Nacht zu Nacht natürlich. *hüstel*


    LG
    TAnya

    @ blackcat: DANKE!! Für deine Aussage, das Mel's Naivität in ihrer Abhängigkeit vom Vampirblut begründet ist. Denn genau darin liegt ihr ganzes Dilemma. Süchtige sind eben nur bedingt zurechnungsfähig. :grin


    Ja, du Dunklen tauchen noch öfter auf. Und auch das Rätsel hat einen wichtigen Grund. Ich finde es sehr spannend, was alles von euch da hinein interpretiert wird und kann euch jetzt schon versprechen: Ihr werdet euch über so manches Rätsels Lösung wundern...


    Es gibt eine Geschichte zu Dracon, ganz klar. Und auch der Showdown mit Armand bleibt nicht aus. Obwohl der eher etappenweise stattfindet. Aber dass sich die beiden nie grün sein werden, ist ja wohl klar...


    So, nu is aber wieder genug verraten!


    LG
    Tanya

    Sorry, Mädels! Einspruch! Lucien wird in Venedig definitiv als Lucien vorgestellt. *grins*


    Ja, ja die Situation mit Armand und Mel ist verzwickt. Aber er ist immerhin 200 Jahre Vampir und da ihn Treue keinen Deut geschert. Keine Sorge, der Junge bessert sich. *zwinker* Und Mel wird dafür tougher.
    Schon in den Engelstränen fängt diese Richtung an. Obwohl Mel da ja noch aus anderen Gründen sehr zerrissen ist und sich wieder unterordnen muss... upps! Mehr darf ich aber jetzt nicht verraten...



    LG
    Tanya