Gerade als ich mir eine Scheibe dick mit Butter bestrichen hatte und herzhaft hineinbeißen wollte, streifte mein Blick ein vertrautes Gesicht in einer Nische am anderen Ende des Raumes. Ich verschluckte mich und der Hustenreiz trieb mir die Tränen in die Augen.
„Melissa, oh meine Göttin, was ist denn? Himmel, du erstickst ja.“ Großmutter kam eilig um den Tisch herum und klopfte mir ein paar Mal energisch auf den Rücken.
„Ist....schon.....gut“, sagte ich und versuchte, wieder durchzuatmen.
„Sicher?“ Sie blickte mich immer noch besorgt an.
„Ja, ja, ist schon gut.“
Ich senkte den Kopf in meine Serviette und schielte noch einmal zu dem Tisch hinüber. Äußerst darauf bedacht, dass Großmutter meinen Blick nicht bemerkte. Armand hob grüßend sein Glas in meine Richtung und lächelte. Ein dunkles, verheißungsvolles Lächeln. Und ich schaute schnell weg. Wie lange war er wohl schon hier? Suchte er hier nach einem Opfer oder hatte er auf mich gewartet?“
„Ich bin hier, um zu speisen. Genau wie Sie, meine Verehrteste.“ Ich fing seine Gedanken mühelos auf und ein Beben lief durch meinen Körper. „Sicher kann ich meinen Besuch auf morgen Nacht verschieben. Sie werden wohl länger ausbleiben, nicht wahr?“ Fragend hob er eine Braue, als ich wieder zu ihm hinübersah.
„Ja, vermutlich“, dachte ich und er bestätigte mit einem Nicken, dass er meine Antwort vernommen hatte. Dann verlor ich seine Aufmerksamkeit, denn eine junge Blondine kam an seinen Tisch. Ich hatte das zweite Gedeck zuvor gar nicht bemerkt. Er lächelte sie liebevoll an, aber ich sah das Glitzern in seinen Augen, das seinen Jagdtrieb verriet. Die Blonde schien davon nichts zu bemerken. Sah sie denn nicht, dass sein Essen kaum berührt war? Offenbar war das wohl eines der Klischees, die nicht nur auf Aberglauben beruhten. Ich würde ihn danach fragen, wenn er mich das nächste Mal besuchte.
Wie lange sich die beiden wohl schon kannten? Sie ging so vertraut mit ihm um. Ich hatte immer gedacht, dass er seine Opfer sofort töten würde. Weil er ja stets davon sprach, noch auf die Jagd zu gehen. Aber andererseits, warum eigentlich? Es war immer auch Lust mit im Spiel, wie er mir in einem der wenigen kostbaren Augenblicke, in denen er auch mal etwas von sich preisgab, erzählt hatte. Und nicht jeder war darauf aus, direkt am ersten Abend im Bett zu landen. Also konnte es gut sein, dass er seinen Opfern Zeit gab, um ihn besser kennenzulernen. Schließlich war er ja durch und durch ein Gentleman. Ob diese Überlegung wohl auch auf mich zutraf? Wollte er mir auch nur Zeit lassen, bis der Moment gekommen war, die Jagd mit dem Schlagen der Beute zu krönen? Mir wurde schwindlig bei dem Gedanken daran, dass er vielleicht doch viel gefährlicher war, als ich mir in den letzten Wochen hatte eingestehen wollen.
„Melissa? Deine Suppe?“
„Was?“
Großmutter deutete mit ihrem Löffel auf den Teller, der vor mir stand.
„Deine Suppe wird kalt.“
„Oh!“
Ich nahm mechanisch einen Löffel voll und steckte ihn in meinen Mund. Aus den Augenwinkeln sah ich gerade noch, wie Armand der blonden Frau in einen Swinger-Mantel half, ihr galant den Arm bot und dann mit ihr gemeinsam das Lokal verließ. Doch beim Hinausgehen warf er mir noch einen sehr tiefen, sinnlichen Blick zu, in dem ein dämonisches Feuer glühte, das ich bereits auf meiner Haut spüren konnte. Es schien ein Versprechen darin zu liegen schien, das ich gar nicht haben wollte. Und doch konnte ich meinen Blick nicht abwenden, bis sich schließlich die Glastür hinter ihm und seiner Begleiterin geschlossen hatte.
Nachdem Armand gegangen war, konnte ich mich kaum noch auf mein Essen konzentrieren. Irgendwie schmeckte alles gleich. Das Brot, die Suppe, der Fisch, ja sogar das Mousse au chocolate, das wir uns als Nachtisch gönnten. Von dem Theaterstück, in das Grandma mich einlud, bekam ich nichts mit. Ich war froh, als wir wieder zuhause waren und fiel, kaum dass ich mich unter die Bettdecke gelegt hatte, in einen unruhigen Schlummer, der bis zum Morgen anhielt.
Wer mit dem Feuer spielt
Am nächsten Tag war Großmutter nachsichtiger mit mir. Sie war wieder ganz die Alte. Scherzte, neckte mich bei Fehlern, statt zu tadeln, redete wieder von den altbekannten Idealen, die ich seit jeher von ihr kannte. Die Übungen waren abwechslungsreich, wir probierten von allem möglichen etwas aus. Levitation, Telepathie, Kartenlegen, Pendeln, Kräuterkunde, Heilsteine, Ritualgesänge. Mein Geist wurde im Laufe des Tages wieder wacher und ich kam recht gut mit. Aber als es dunkel wurde, wurde ich wieder unruhig. Ich wollte wissen, was mit der Blonden passiert war. Ob Armand es mir erzählen würde.
„Müde, mein Schatz?“ ich hatte wieder nicht aufgepasst.
„Ja, Großmutter, ich glaube schon.“ Zur Unterstreichung gähnte ich herzhaft.
„Dann machen wir Schluss für heute. Nimm ein heißes Bad mit Melisse und Baldrian, dann schläfst du gut.“
Ich beherzigte den Rat und spürte, kaum dass ich mich in die warmen Fluten gleiten ließ, wie das heiße Wasser meine Muskeln, die ätherischen Öle meine Seele entspannten. Atmen, tief Atmen. Zur Ruhe kommen. Die Gedanken sortieren, die.....
„Sie sind sehr freizügig, ma chere.“
Ich schoss aus der Wanne hoch, dass das Wasser nur so spritzte. Nur um im nächsten Moment wieder bis zum Kinn darin zu versinken. Ein tiefes Dunkelrot überzog meine gesamte Haut.
„Hat Ihre Mutter Ihnen denn gar keinen Anstand beigebracht? Drehen Sie sich gefälligst um.“
Er tat es lächelnd und meinte nur, seine Mutter hätte es redlich versucht und es wäre ganz sicher nicht ihre Schuld, wenn sie so kläglich versagt hätte. Ich angelte nach meinem Handtuch und ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Sobald ich mich damit einigermaßen züchtig bedeckt hatte, schritt ich hocherhobenen Hauptes an ihm vorbei in mein Schlafzimmer. Er folgte mir gelassen und immer noch amüsiert grinsend.
„Wie war der Fisch?“ erkundigte er sich.
„Ich weiß es nicht“, antwortete ich bissig.
„Sie wissen es nicht? Haben Sie ihn nicht gegessen?“
„Gegessen schon, aber nach Ihrem Auftauchen dort.....“
„Oh Melissa, Sie schmeicheln mir ja schon wieder. Ich hätte gar nicht gedacht, dass ich Sie so aus der Fassung bringen kann.“
Ich blieb abrupt stehen, immer noch den Rücken ihm zugewandt. Einen Augenblick presste ich die Lippen zusammen, um meinen aufwallenden Zorn zu dämpfen. Wie konnte man nur so arrogant sein.
„Ach halten Sie doch den Mund“, entfuhr es mir.
Ich ließ das Handtuch fallen – sollte er doch sehen, was er wollte – und zog mein Nachthemd über.
„Wie geht es Ihrer Begleiterin?“ meine Stimme triefte förmlich vor Zynismus.
„Oh, ich denke, ihr geht es ausgezeichnet, da wo sie jetzt ist. Sofern sie in ihrem Leben nicht allzu schwer gesündigt hat.“
Ich fuhr zu ihm herum und blickte in glitzerndes Grau, kaum eine Handbreit von meinem Gesicht entfernt. Seine Augen waren wie Eis.
„Aber, aber Melissa. Sie wissen doch, was ich bin. Da werden Sie doch wohl nicht böse auf mich sein, wenn ich tue, was ich tun muss.“
Seine Stimme war Rauch. Er machte mich benommen.
„Sie hat Ihnen vertraut“, kam es kläglich von mir.
„Natürlich“, hauchte er und sein Atem streichelte meine Wange. Ich spürte, wie sich meine Härchen im Nacken aufstellten – durchaus nicht unangenehm. Aber ich kämpfte das Gefühl nieder. Denn ich war wütend; und ich hatte Angst.
„Sie alle vertrauen mir, wenn der Todesbiss kommt. Und sie alle schwelgen in seliger Lust, während ich von ihnen trinke. Halten Sie mich jetzt für ein Monster, Melissa?“
„Ich halte Sie für einen Mörder.“
Sein Ausdruck wurde eisig.
„Das bin ich nicht. Ich bin ein Raubtier, kein Mörder. Jeder Löwe tötet das Zebra, damit er zu fressen hat und nicht verhungert. Deshalb ist er noch lange kein Mörder.“
„Das ist was anderes.“
„Nein, Melissa, ist es nicht. Auch ich töte nur, um zu überleben.“
„Aber Sie töten Menschen.“
„Ach, darum geht es.“ Zynisch zog er eine Augenbraue hoch. „Ich dachte, der Glaube der Großen Mutter lehrt, dass alle Geschöpfe gleich sind. Und jetzt sagen Sie mir, dass der Mensch etwas besseres ist?“
„Ja....nein....ach hören Sie doch auf.“
Ich wendete mich ab und Armand hielt mich auch nicht fest. Aber er verwirrte mich und das war äußert ärgerlich.
„Seien Sie nicht so selbstherrlich“, belehrte er mich. „Mensch oder Tier. Was macht das schon für einen Unterschied? Blut ist Blut. Aber von Blut allein leben wir nicht. Und die Lust können wir nur mit einem Menschen teilen.“
Ich schwieg. Darüber wollte ich nicht reden. Die Blonde war also tot. Mehr hatte ich nicht wissen wollen. Eigentlich nicht mal das.
„Sie war glücklich. Und sie spürte kaum einen Schmerz“, sagte er mit gleichmäßiger Stimme, die keine Gefühlsregung erkennen ließ.
Das sollte mich wohl trösten. Aber wofür eigentlich? Ich hatte sie ja nicht einmal gekannt.
„Wie lange waren Sie beide....zusammen?“ meine Stimme zitterte.
„Etwa einen Monat“, antwortete er ganz offen.
„So lange? Und sie hat nicht gewusst.....ich meine nie gemerkt, dass Sie.....“
„Was? Ein Vampir bin? Melissa, ich pflege meine Opfer nur sehr selten davon in Kenntnis zu setzen, dass ich die Absicht habe, sie zu verspeisen.“
Das brachte mich zum Schweigen. Ich hatte kein Interesse an irgendwelchen Details. Allein seine Wortwahl ekelte mich. Und doch ging mir die Frau nicht aus dem Kopf. Weil ich sie gesehen hatte. Weil sie nicht gesichtslos geblieben war, wie alle anderen, die Armand so offen zugab, getötet zu haben. Es hatte mich vorher nicht gestört, wenn er davon sprach, weil ich es mir nicht bildlich vorgestellt hatte. Jetzt tat ich das sehr wohl.
„Was hat Ihre Großmutter denn zu Isis und Osiris gesagt?“ Damit war seine tote Gespielin für ihn erledigt. Und ich wagte nicht, auf dem Thema zu beharren.
„Sie war nicht begeistert.“
„Das dachte ich mir.“
„Haben Sie mir deshalb die Geschichte erzählt.“
Wieder lächelte er nachsichtig. Das Glitzern war aus seinen Augen verschwunden und seine Stimme war wieder klar und warm.
„Nein, Melissa, wirklich nicht. Aber ich dachte mir, dass Ihre Großmutter keine Fremdeinflüsse in Ihrem Geist haben will. Er lässt sich dann nämlich nicht mehr so leicht formen.“
„Warum sollte sie ihn formen wollen?“
„Weil sie ganz bestimmte Ziele hat, die sie in Bezug auf Sie verfolgt. Aber das werden Sie ja noch merken. Und es sollte nichts mit unserer Freundschaft zu tun haben. Vorläufig jedenfalls nicht. Ich habe Ihnen übrigens etwas mitgebracht.“
Er legte einen sauber gefalteten Bogen Papier vor mir hin. Ich nahm ihn auf und faltete ihn auseinander. Mein französisch war etwas eingerostet, aber ich konnte die Zeilen dennoch übersetzen, wenn auch etwas frei.
Über eine Tote
Sie war schön – wenn auch die Nacht
In düsterer Kapelle schlummernd
Gleich wo Michelangelo sein Lager aufgeschlagen
So unbeweglich schön sein kann
Sie war gut – wenn es genug
Dass im Vorbeigehn nur die Hand sich öffnet
Dass Gott dies nicht gesehen
Und Gold auch ohne Mitleid Almosen ist
Sie hat gedacht – wenn der vergeblich Laut
Von einer sanften taktvoll Stimme
Dem Klagen eines Baches gleich
Aus dem Gedachten Glauben macht
Sie hat gebetet – wenn man zwei schöne Augen
Die mal dem Boden
Mal dem Himmel nah
Ein Gebet nun nennen mag
Sie hat gelächelt – wenn die Blume
Sich zaghaft nur entfaltet
Dem frischen Morgenwinde der vorüberweht
Und sie alsbald vergisst
Sie hätt geweint – wenn ihre Hand
Auf mein kaltes Herz gepresst
Jemals in der menschlich irdenen Hülle
Die Himmelsröte hätt gefühlt
Sie hätt geliebt – wenn nicht ihr Stolz
Gleich einer nutzlosen Kerze
So nah am Sarge aufgeleuchtet
Ihr taubes Herz hätt altern lassen
Jetzt ist sie tot – und hat doch nichts gesehen
Sie schien zu leben nur
Aus ihren Händen fiel das Buch
In dem sie nicht gelesen hat
Die blutrote Schrift erschien mir ebenso grotesk, wie das Gedicht an sich, in Anbetracht der schönen Blonden von letzter Nacht.
„Alles ist vergänglich, mein Herz. Musset wusste das.“
„Musset?“
„Alfred de Musset. Sie hatten mich doch nach französischen Dichtern gefragt. Ich liebe dieses Gedicht von ihm. Es kommt meinen Wesen so nahe.“
Seine Stimme war schon wieder dunkel und rau und ich schluckte hart.
„Aber Sie können doch unmöglich das, was sie tun, mit der poetischen Denkweise von jemandem wie Musset vergleichen.“
„Warum nicht?“
„Musset hat solch ein Gedicht sicher aus anderen Beweggründen verfasst.“
Er lächelte nachsichtig.
„So sicher, meine Liebe? Denken Sie nicht, dass er womöglich um meinesgleichen wusste und sich davon inspirieren ließ?“
„Oh hören Sie doch auf“, brauste ich auf, aber mehr, um meine Angst zu verbergen, als aus wirklicher Entrüstung. „Sie berufen sich immer wieder auf die natürlichen Kreisläufe von Leben und Tod, denen sich jeder einmal ergeben muss. Nur um sich und Ihr Tun zu rechtfertigen. Dabei ist das hier doch etwas ganz anderes.“
„Und was genau ist daran anders?“ Er lauerte. Auf einen Fehler, auf einen falschen Schritt von mir. Um mir dann vor Augen führen zu können, wie falsch ich lag.