Tag Eins
Ich atme tief ein, dann trete ich in eine Welt, die vollkommen neu für mich ist.
Ein undefinierbarer Geruch schlägt mir entgegen, eine Mischung aus Essengerüchen, Kinderschweiß, Erbrochenem und Urin.
Die Leiterin der Kindertagesstätte, die ich schon vor ein paar Wochen beim Vorstellungsgespräch kennengelernt habe, eilt schon auf mich zu.
Die Einrichtung ist toll, an alles wurde gedacht: Ein großer Turnraum, mit gut gepolsterten Geräten, ein riesiger Essraum, spezielle Toiletten und ein gemütlicher Therapieraum, der in seinem beruhigenden Blauton nicht im geringsten daran erinnert, wo man sich befindet.
Der große Garten ist traumhaft schön, auch wenn der angelegte Teich sich hinter einem hohen, sicheren Zaun verbirgt.
Dann betreten wir letztendlich das Spielzimmer : Eine Lautstärke, als hätte jemand 50 Radios auf einmal eingeschaltet, ein buntes Durcheinander von ca. 25 Kinderkörpern, in allen Größen.
Man sieht es ihren Gesichtsausdrücken an: Große, erstaunt oder neugierig aufgerissene Augen, die mich, die Neue, misstrauisch und scheinbar mit gemischten Gefühlen mustern. Manche bedecken ihr Gesicht mit ihren Händen, um vorsichtig zwischen gespreizten Fingern hervorzulugen.
Plötzlich spüre ich eine kleine, warme Hand in meiner, die mich entschlossen in die Menge hineinzieht. Es ist ein kleines, blondgelocktes Mädchen, das sich an mein Bein klettet und lauthals grient : „Spielen !!!“ Das Wort kommt merkwürdig langgezogen heraus und als der Engel zu mir hochlächelt, schiebt sich eine dickliche rote Zunge durch die leicht schiefstehenden Zähne und die Augen verengen sich zu kleinen Schlitzen.
„Mongolid“, denke ich, und mein Herz zieht sich zusammen.
Danach bin ich den ganzen Morgen vertieft in Spiele, Geschichten vorlesen, basteln, rumtoben und dem Versuch, den Gesichtern allmählich Namen zuzuordnen :
Da ist Mike, der an einer agressiven Form von Autismus leidet, und mich mit einem plötzlichen, lauten Wutausbruch erschrickt, als sein Turm aus Holzklötzen zum unzähligen Mal zusammenbricht. Kurz darauf liegt er erschöpft und verschwitzt auf meinem Schoß zusammengekuschelt und schläft tief und fest.
Währenddessen füttere ich mit der freien Hand Aydugan, das blinde und halbseitig gelähmte Baby, das auf einer Kuscheldecke am Boden liegt, mit Milch aus der Flasche. Trotz seiner Behinderung lächelt er glücklich, den ganzen Tag kommen die anderen Kinder, um ihm ihre Zuneigung mit sanften Küssen und Streicheln zu zeigen.
Kerstin, 16 Jahre und nach einer nicht erkannten Hirnhautenzündung auf der geistigen Stufe einer 7 jährigen zurückgeblieben, möchte am liebsten den ganzen Tag Knetfiguren herstellen. Sie wird wütend, wenn man sie zu etwas anderem animieren will.
Maria, die kein Wort spricht, sitzt in einer Ecke und beobachtet das Geschehen um sie rum. Ich kann sie für eine halbe Stunde mit der Geschichte vom Regenbogenfisch fesseln, dann versinkt sie wieder in ihrer eigenen Welt.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so gut gefühlt habe : Diese behinderten Kinder geben mir das Gefühl etwas Besonderes zu tun, so offen zeigen sie ihre Zuneigung und Dankbarkeit für jegliche Art von Zuwendung.
Am Ende des Tages, als die Busse kommen, um die Kinder zurück in ihr Zuhause zu bringen, bin ich erschöpft, aber sehr glücklich.