Jens Heuwinkel: Sich selbst finden (Rezension zum Roman "Dieudedet oder Sowas wie eine Schneeflocke"

Nach seinen Romanen „Lucile“ (2006) und „Morbus vitalis“ (2007) und seinem Gedichtband „Wunderblöcke“ (2010) sowie seinen beiden Theaterstücken „de Janeiro – ein Punk ertrinkt in Weißensee“ (2018) und „flanzendörfer“ (2021) ist nun der neue Roman „Dieudedet oder sowas wie eine Schneeflocke“ des gebürtigen Rheinländers und Wahl-Weißenseers Willi van Hengel im Verlag p.machinery in der Reihe „Zwischen den Stühlen“ erschienen.

Willi van Hengel konzentriert sich in seinen Texten auf die Sprache; das Nicht-Verstehen frei nach Friedrich Nietzsche und Jacques Derrida ist sein Hauptthema. Das macht die Rezeption der 220 Seiten manchmal schwierig, denn als Leser*in will man weiter in der Handlung, während van Hengels Sprache und Betrachtungen zur Welt anhalten und sagen wollen: „Verweile doch, ich bin so schön.“
„In diesem Augenblick hielten die beiden die Unendlichkeit fest. Die Unendlichkeit des Scheiterns wie die Unendlichkeit des Verstehens. Wie die Unendlichkeit des Augenblicks selbst. Er würde ihnen noch oft begegnen. Ein Ton erinnert dich. Ein Missklang vielleicht auch. Eine Begegnung. Eine Bewegung. Wir werden ständig erinnert. Selbst an das, was wir noch nie hatten und noch nie erlebt haben außer in unseren Träumen, die wir im Tageslicht wieder vergessen – vergessen wollen. Weil sie uns zu nahe kommen und gefährlich werden, weil wir uns selbst suchen, ein Leben lang, meistens nachts oder im Alkohol, wenn wir unsere Verdopplung abstreifen – einfach abstreifen.“ (S. 108)

Willi van Hengels literarische Spezialität sind sogenannte „Wunderblöcke“ – Gedichte, die versuchen, den Augenblick festzuhalten in dem Wissen, das dies unmöglich ist, und die häufig neue Wortschöpfungen wie „violinenhell“ enthalten. Diese Poesie zieht sich durch den Roman, ebenso wie Lebensweisheiten und Betrachtungen zur Existenz wie zu sich selbst. Und natürlich zieht das Ewig-Weibliche den Protagonisten des Romans an. Der heißt Alban oder eigentlich Bernhard und ist Bildhauer – wie der häufig in van Hengels Werken erwähnte Pygmalion, der sich seine erträumte Geliebte schaffen muss. Die Erlösung liegt in der Kunst, aber nicht im Behauen von Stein, sondern im Schaffen einer eigenen Sprache.

In seinem zweiten Roman „Morbus vitalis“ schreibt Willi van Hengel von einem Mann zwischen zwei Frauen, beide liebenswert und der Mann doch nicht bindungsfähig. Mit Madeleine stellt er auch zu Beginn von „Dieudedet“ eine solche Frau vor, die bereit ist, alles für den an Lethargie leidenden Alban zu tun. Doch wie der Protagonist Leonard in „Morbus vitalis“ kann auch Alban dies nicht annehmen. Madeleine verschwindet schnell aus der Handlung, ebenso wie das sich ehestreitetende Vermieter-Ehepaar Mia und Alfred. Doch in dieser Mansarden-Co-Existenz der vier Figuren, die ein bisschen an Hermann Hesses „Steppenwolf“ erinnert, spiegeln sich bereits die Hauptthemen des Romans: die Bindungsunfähigkeit des Protagonisten und die unbefriedigende Ehe eines Paares. Das Vermieter-Paar ist aber nur ein Parallelpaar zu Albans eigenen Eltern, mit denen er ebenso ins Reine kommen muss wie mit seinem Verhältnis zu Frauen.
Zunächst führt van Hengel im 5. Kapitel eine fünfte Figur ein – Ludwig. Ein väterlicher Freund, so erfahren wir, der mit Macho- und Stammtischsprüchen Albans negatives Frauenbild geprägt hat.

Die Ursache von Albans Leiden liegt bei anderen - seinen Eltern und diesem Ludwig. Eigenverantwortung für sein Schicksal übernimmt er selten – oder vielleicht doch? Denn Alban erschlägt Ludwig auf offener Straße. Ein Akt der Befreiung? – Und Alban flieht nach Ibiza. Wird er polizeilich gesucht? Was bedeutet es, einen Mord zu begehen? So wie Madeleine und das zankende Ehepaar Mia und Alfred bleibt dieses Thema des Romans offen; es scheint van Hengel hier eher um eine symbolische Befreiung von einem schlechten Vorbild zu gehen. Denn Alban trägt allerhand Ballast mit sich herum, der sich nicht einfach so wegmeißeln lässt – Frauen und Eltern.

Nach einer unwirklichen Abschiedsszene mit seiner Vermieterin, die ihm noch ein Butterbrot schmiert – nicht nur geistige Nahrung ist wichtig –, ist er plötzlich auf Ibiza. Wie ist er dort hingekommen? Oder ist er überhaupt dort hingekommen und zu diesem Zeitpunkt der Roman schon auf einer ganz anderen Ebene? Auch in „Lucile“ spielt die Handlung irgendwann komplett im Kopf der Protagonistin.
Alkohol und Existenz-philosophische Gedanken übernehmen ab Ibiza den Roman. Wie eingangs erwähnt, ist es nicht die Handlung, die van Hengels Roman ausmacht, sondern Sprache, Gedanken und Katharsis. „Wer gibt einem ein Zuviel an Liebe? Die eigene Mutter. Oder die Götter, aus denen du nur als Funke auf die Welt geworfen wirst. Überall, wo du auftropfst, entsteht ein Brandmal, du hinterlässt eine lange Spur, wie auf einem Bild des Nachts von einer Kamera, Leuchtspuren, Unschärfe, wogende Schreie aus Lust, Liebe und Verzweiflung.“ (S. 105)
Alban muss zu sich selbst finden. Und hierzu stellt van Hengel Alban seinen Cousin Gilbert, dessen Geliebte Annabel und die Inselbewohnerin „Judith“ zur Seite, alle sehr klug, belesen und philosophisch. Vielleicht kann sich Alban nach seiner Befreiung von der kleinbürgerlichen Mansarden-Existenz sowie von Macho-Ludwig nur noch mit großen Geistern umgeben – oder es sind längst nur noch Facetten seiner selbst? Ein kluges Philosophie-Buch, das Alban immer wieder an der richtigen Stelle aufschlägt, gibt es im Haushalt von Gilbert auch, ebenso wie Gilbert selbst, der als Lebemann ein Schloss versoffen hat, ein angedeutetes Hingezogensein Albans zu dessen Geliebter Annabel und natürlich viele nächtliche alkoholschwangere Gespräche, immer schonungslos und direkt. Wie Pygmalion benennt Alban auch eine weibliche Bekanntschaft selbst -„Judith“, wie wir später erfahren, auch der Name von Albans verstorbener Mutter. „Judith“, Annabel, Gilbert, eine Postkarte und ein Kind mit einem kleinen Bär namens Dieudedet, einem Kunstwort aus Dieu, Gott, und de-dada, schaffen Reibung und Begleitung auf dem Weg zu Albans Auseinandersetzung mit seinen Eltern, seinen bisherigen Beziehungen, Selbsterkenntnis und Erlösung.

Willi van Hengels Zugriff aufs Leben aus bedingungsloser Direktheit, schöpferischer Poesie und anregender Philosophie ist es wert, gehört und – vor allem – gelesen zu werden.


Jens Heuwinkel, Theaterregisseur

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