Der Büchereulen-Adventskalender 2019

  • Der 1. Dezember von Voltaire



    Vorweihnachtszeit/Adventszeit.

    Eine besinnliche Zeit?

    Mitnichten!


    Es ist Hochsommer, die Temperaturen sind teilweise bei über 30 Grad. Man sollte meinen, das da niemand an das Weihnachtsfest denkt. Irrtum!

    Die Jagd auf Weihnachtsgeschenke ist eröffnet, genau genommen beginnt sie bereits am 2. Januar.


    Wollt ihr den totalen Kommerz? Das „Ja-Gebrülle“ ist kaum zu überhören.


    Dabei bietet doch gerade die Vorweihnachtszeit die Möglichkeit zu inneren Einkehr, zum Beschäftigen mit Dingen, für die während des Jahrs kaum Zeit vorhanden war.

    Ist es nicht irgendwie doof, das der Begriff „Weihnachten“ durch den Geschenkewahn pervertiert wird?


    Dabei kann man gerade in der Vorweihnachtszeit Dinge erleben, die es wert sind erlebt zu werden.


    Hier ein kleines Beispiel:

    Im letzten Jahr war ich Mitte bei Dezember bei PENNY (eine Ladenkette die ich meide wie der Teufel das Weihwasser). Vor mir an der Kasse ein ältere Mann. Er packte seine Einkäufe auf das Laufband. Dabei passierte es. Ein Becher mit Buttermilch fiel herunter und der Inhalt breitete sich auf dem Boden aus.

    Die Kassiererin, eine keifende Trümmerlotte, pöbelte auch sofort los. Naja, PENNY eben.

    Der ältere Herr machte einen hilflosen Eindruck.

    Die Kassen-Xantippe aber pöbelte weiter.


    Ich schaute sie an und sagte: „Noch ein Wort – und dieser Laden ist bald Geschichte, so wie Sie auch. Holen Sie einen Lappen und wischen das hier auf. LAUFSCHRITT!“ Ich fühlte mich trotz absolut fehlender Kompetenz angenehm an meine Zeit bei der Bundeswehr erinnert. Die Dame meinte dann sie müsste ihren Chef holen. Der kam, ein Zwerg, der versuchte sich breit zu machen.

    Eine Witzfigur.

    Er schaut mich an und sagte: „Was erlauben Sie sich.......“

    Ich brüllte ihn daraufhin an: „Nehmen Sie die Hacken zusammen wenn Sie mit mir reden.!“

    Der Zwerg verstummte.


    Anschließend kam ich mit älteren Mann ins Gespräch. Er lud mich zu einem Kaffee ein und wir unterhielten uns sehr angeregt. Aus einer Tasse Kaffee wurden drei Stunden.


    Albert, so hieß der Mann, war einer der angenehmsten Gesprächspartner die ich je kennengelernt hatte. Und mit dem Thema „Literatur“ hatten wir dann auch sehr schnell ein Gesprächsthema das eigentlich immer unerschöpflich ist.

    Aber er erzählte auch von sich. Er jammerte nicht, er nannte nur sachlich die Fakten. Seine beiden Kinder waren bei einem Unfall ums Leben gekommen, seine Frau hatte das nicht verkraftet und den Freitod gesucht. Er wollte kein Mitleid, war nur sehr dankbar das da jemand war der zuhörte.


    Ich lud ihn zu unser zum Abendessen ein.

    Meine Frau wird mit Fremden nie schnell warm – aber mit Albert war es total anders. Sie hatten sofort einen Draht zueinander. Denn auch Albert war ein Rosenliebhaber – und wenn die beiden über Rosen ins Gespräch kamen, dann gab es kaum etwas, das sie ablenken konnte.


    Im Laufe des Jahres wurde Albert ein wirklich guter Freund. Nie aufdringlich, dankbar aber nicht devot, immer interessiert an seinen Mitmenschen. Ein wunderbarer Mensch.


    Vor zwei Wochen ist Albert gestorben. Er fehlt. Trotzdem waren wir dankbar für dieses wunderbare Geschenk seiner Freundschaft.


    Was ich eigentlich sagen wollte ist: Die Vorweihnachtszeit kann so unendlich viel mehr sein als die sinnleere Jagd nach Geschenken.


    Der Tod ist nicht das Ende – er ist nur der Anfang von etwas Anderem. Und Menschen sind erst dann wirklich tot – wenn wir sie vergessen und nicht mehr in unserem Herzen tragen.


    Es ist wirklich so: Liebe kennt keine Grenzen.


    Nachsatz:

    Ich habe wenn ich mich rechte erinnere für Eulen-Adventskalender 2011 (6.12. 2011) mal einen Beitrag geschrieben (Das Aufsatzheft) den ich für meinen Besten halte. Auch die Frau die ich dort beschrieben habe, lebt nach wie vor in meinem Herzen – und gerade jetzt in dieser für mich besinnlichen und stillen Zeit ist wieder gegenwärtig.


    Der Büchereulen-Adventskalender 2011


    Aber warum habe ich das jetzt alles aufgeschrieben?

  • Der 2. Dezember von Mairedh


    Sternenklare Nacht


    Langsam wird es dunkel um mich herum und ich werde wach. Gähnend strecke ich mich. Die Tage werden immer kürzer und ich kann nachts länger scheinen.

    Die Nacht ist sternenklar, keine Wolke ist in meiner Nähe. Auf der Erde wird es ziemlich kalt werden.

    Neben mir erwachen auch die anderen Sterne. Sofort fangen sie an, sich zu unterhalten. Keiner blickt auch nur einmal zur Erde hinab.

    Eigentlich scheinen wir doch nur, um allen Lebewesen auf der Erde Licht zu spenden. Mensch und Tier gleichermaßen. Warum interessieren sich die anderen Sterne dann nicht dafür, was die Erdlinge so machen, während wir über sie wachen?

    Plötzlich blendet mich ein heller Lichtblitz. Was auch immer das war, es ist genauso schnell verschwunden, wie es kam. Ich beeile mich, dem Blitz zu folgen.

    „Warte doch bitte! Wer bist du?“, rufe ich dem Blitz nach.

    Der Blitz bremst ab, dreht sich zu mir herum und blickt mich an. „Ich bin eine Sternschnuppe. Hast du mich und meine Familie noch nie gesehen?“

    Ich schüttele den Kopf. „Zumindest nicht so nah. Ihr seid so schnell unterwegs. Aber ich wollte jetzt unbedingt wissen, wer du bist. Was macht ihr Sternschnuppen denn so?“

    Die Sternschnuppe lächelt. „Wir sind so schnell, damit wir innerhalb kürzester Zeit möglichst viel erledigen können. Unsere Aufgabe ist es, Hoffnung zu schenken, den Lebewesen beim Träumen zu helfen und ihren Glauben zu stärken und zu erhalten.“

    Fasziniert starre ich die Sternschnuppe an. „Und deswegen seid ihr so schnell, oder? Damit ihr in jeder Nacht ganz vielen Menschen und Tieren helfen könnt. Das ist toll! Ich möchte das auch können. Außer mir scheint sich in meiner Familie niemand für die Lebewesen auf der Erde zu interessieren.“

    „Das ist wirklich schade, wo ihr doch jede Nacht über die Erdlinge wacht und ihnen Licht spendet. Auch wenn sie euch manchmal nicht sehen können, wissen sie trotzdem, dass ihr immer für sie da seid.“ Die Sternschnuppe zögert. „Na ja, sagen wir mal, dass manche von euch immer da sind.“

    Sie blickt sich kurz um und meint: „Ich muss jetzt weiter, tut mir Leid.“

    „Schade. Ich hätte mich gerne noch länger mit dir unterhalten. Ich möchte doch noch so viel wissen. Aber du musst den Menschen und Tieren helfen. Und genau das werde ich auch tun. Ich warte hier und wache über die Lebewesen.“

    Die Sternschnuppe verabschiedet sich und verschwindet wieder als Lichtblitz. Mit neuem Mut und neuer Kraft gestärkt mache ich mich an meine Arbeit.

    „Kleiner Stern!“, ruft auf einmal eine Stimme. Ich erschrecke mich so sehr, dass ich fast vom Himmel gefallen wäre. Verwirrt drehe ich mich um. Vor mir steht die Sternschnuppe.

    „Magst du mich vielleicht auf meinem Weg begleiten? So können wir beide unserer Arbeit nachgehen, und wir können uns unterhalten.“

    Freudig springe ich auf und ab – und ziehe damit den Ärger einiger älterer Sterne auf mich. „Ist das dein Ernst?“, frage ich.

    Die Sternschnuppe nickt.

    „Aber was ist denn, wenn uns jemand sieht? Und bekommst du dann nicht Ärger?“ Meine Stimme überschlägt sich fast.

    „Die Menschen und Tiere werden uns als besonders helle Sternschnuppe wahrnehmen, weil sich unser Licht ergänzen wird. Dadurch können wir noch mehr Hoffnung schenken. Und genau deswegen wird es auch keinen Ärger geben. Na komm, halt dich an mir fest.“

    Begeistert klammere ich mich an einen Zacken und schon sausen wir los. Mir wird ein bisschen schwindelig von dem Tempo und ich muss die Augen schließen.

    Als ich sie wieder öffne, bemerke ich, dass wir langsamer geworden sind.

    „Musst du nicht eigentlich schneller sein?“, möchte ich wissen.

    „Für die Erdlinge bin ich genauso schnell unterwegs wie vorhin für dich. Aber für mich fühlt sich das Tempo anders an. Schließlich muss und möchte ich ja auch sehen können, ob ich tatsächlich helfen konnte. Manchmal bleibe ich auch für ein paar Minuten an einem Ort, um noch näher bei den Lebewesen zu sein und sie noch mehr zu unterstützen“, erzählt mir die Sternschnuppe.

    Schon im gleichen Moment steuert sie auf ein riesiges Gebäude zu, scheinbar ein Krankenhaus, und hält vor einem hell erleuchteten Fenster an. Zwei Menschen strahlen vor Freude und blicken überglücklich auf ein kleines Baby herab, das in ihren Armen liegt.

    Ich spüre, wie sich auch die Sternschnuppe freut. „Ich beobachte diese Familie schon eine ganze Weile und habe ihnen jede Nacht Hoffnung geschenkt, auch wenn sie mich nicht immer gesehen haben. Es gab einige Komplikationen bei der Schwangerschaft. Aber wie du siehst, ist alles gut gegangen.“

    Wir fliegen weiter und ich entdecke so viel. Viel mehr, als ich in all den Jahren gesehen habe, die ich nur an meinem Platz war und nicht weggegangen bin. In einem Stall sehen wir, wie eine Stute ein Fohlen zur Welt bringt. Auf einem großen Platz machen die Menschen Musik, singen und tanzen und haben Spaß zusammen. Ein Eisbär geht fischen. Eine Horde Pinguine steht dicht aneinander gedrängt im tiefsten Schneesturm.

    Ich bin noch so fasziniert von all den Erlebnissen und Entdeckungen, dass ich gar nicht merke, wie die Sternschnuppe abbremst und langsam über einem kleinen Platz voller Zelte, Maschinen und Menschen ihre Kreise zieht.

    Es dauert eine Weile, bis die Sternschnuppe zu sprechen beginnt. „In solchen Gebieten verweile ich immer besonders lange, denn die Menschen hier brauchen besonders viel Hoffnung.“

    Ich blicke mich um. „Was ist das hier?“

    „Ein Kriegsgebiet. Die Menschen, die hier leben, sind zerstritten und bekämpfen sich. Und viele andere Menschen aus anderen Ländern wurden hierher geschickt, um für Frieden zu sorgen. Sie alle brauchen Hoffnung, Träume und Glauben. Hoffnung, dass nichts Schlimmes passiert. Glaube, dass sie bald wieder zu Hause bei ihren Familien sind. Träume von besseren Zeiten und Frieden.“

    Nach einer Weile blitzt die Sternschnuppe noch einmal hell auf und wir fliegen wieder hoch zum Himmel. Zu meiner leisen Enttäuschung lädt sie mich bei mir zu Hause ab.

    „Wir sehen uns bestimmt bald wieder, kleiner Stern. Glaube einfach daran“, flüstert die Sternschnuppe und fliegt davon. Der Tag war so spannend, dass ich direkt einschlafe.


    ***


    Langsam wird es dunkel um mich herum und ich werde wach. Gähnend strecke ich mich. Ich schüttele mich kurz. Irgendetwas ist heute Abend anders als sonst. Verwirrt drehe ich mich ein paar Mal im Kreis, kann aber nichts Auffälliges feststellen.

    „Hallo, kleiner Stern.“, spricht mich plötzlich jemand an.

    Vor mir steht wieder die Sternschnuppe. Ich freue mich so sehr, sie wieder zu sehen, dass ich sie direkt umarme.

    „Magst du mich wieder begleiten?“, fragt mich die Sternschnuppe lächelnd.

    Ich schüttele den Kopf. „Wirklich gerne, aber nein, danke. Du hast mir gestern gezeigt, wie wichtig unsere Aufgaben sind. Und deswegen muss ich jetzt hier bleiben und meine Arbeit machen.“ Stolz strecke ich mich, um noch ein bisschen größer und heller zu wirken.

    Leise lacht die Sternschnuppe. „Ab heute ist es nicht mehr nur deine Aufgabe, über die Lebewesen zu wachen, sondern auch ihnen Hoffnung, Glauben und Träume zu schenken. Du bist jetzt eine Sternschnuppe, genau wie ich, kleiner Stern.“

    Ich bin sprachlos. Das war die Veränderung, die ich gemerkt habe. Ich quietsche kurz auf vor Freude und sause blitzschnell zwischen den anderen Sternen hin und her, um sie ein bisschen zu ärgern und aufzuwecken.

    Schließlich halte ich wieder vor der Sternschnuppe an.

    „Danke!“

  • Der 3. Dezember von Velion



    Lekuma


    Die Bestie erhob sich aus den braunen Wellen des Meeres. Die Arme waren an den Enden abgerundet und zu kurz geraten, doch diesen Makel machte das hellbraunglänzende Ungeheuer mit seiner beeindruckenden Größe und seinem Dauergrinsen wieder wett. Weit spritzte das Nass umher, als es aus den Kakaofluten auf das Festland sprang und einen furchterregenden Schrei ausstieß. Starr und ungelenk wirkend steuerte das Monster auf die naheliegende Ortschaft zu. Dort waren die Einwohner bereits durch den Schrei alarmiert. Gummibärchen und Schokoladennikoläuse rannten in wilder Panik zwischen den Keks- und Lebkuchenhäusern umher und suchten nach einem Versteck vor dem Ungetüm. Teilweise stießen sie aneinander und stürzten. Dramatische Szenen spielten sich ab. So würden sie dem Monster niemals entkommen!


    Das Ungeheuer erreichte das erste Lebkuchenhaus und stieß es um. Zwei Gummibärchen wurden unter den niederfallenden Trümmern begraben. Ein mutiger Nikolaus versuchte, mit dem Mut der Verzweiflung, das Ungeheuer zu Fall zu bringen. Doch es kickte den aufmüpfigen Schokokrieger lässig beiseite und setzte seinen Vernichtungsmarsch durch den Ort fort. Fast wäre ein Gummibärenmann zertreten worden, doch im letzten Moment konnte dieser sich zur Seite wegrollen. Das Monster wollte zum Lebkuchenherzrathaus! Trotz kurzer Arme schleuderte es Orangen und Kekse, die überall herumlagen umher.


    Viele Nikoläuse und Gummibärchen, die sich noch nicht in Sicherheit hatten bringen können, wurden getroffen. Die Ausweg und Hoffnungslosigkeit zwang die verbleibenden Gummibären und Nikoläusen, sich dem Monster zu stellen. Doch recht früh wurde klar, dass sie dem Monster nichts entgegensetzen konnten. Sie wurden entweder niedergetrampelt oder durch die Luft geschleudert. Und sie wollten sich gerade ihrem Schicksal ergeben, als plötzlich wie aus dem Nichts eine riesige Hand erschien und die Bestie wegholte. „Mensch Kevin! Mit dem Essen spielt man nicht!“ „Mama, geb mir Lekuma wieder! Das ist mein Lebkuchenmann!“

  • Der 4. Dezember von Batcat



    WEIHNACHTEN MIT WALDEMAR


    Dietmar war ein Manager, wie er im Buche steht: stets wie aus dem Ei gepellt, smart und um keine Antwort verlegen. Dietmar war so aalglatt, daß alles an ihm abperlte. Einmal versuchte eine übermütige Laus, ihr Domizil auf seinem Haupte aufzuschlagen. Doch Dietmar hatte seine Haare mit soviel Pomade an den Kopf gekämmt, daß die arme Laus kopfüber abstürzte und sich den Hals brach. Dietmar war nicht beliebt. Wer mag schon Klugscheißer und Petzen? Man konnte ihm auch nichts recht machen: das Essen zu warm, der Kaffee zu kalt und Ideen, die seine Kollegen vorschlugen, wurden prinzipiell von ihm abgeblockt... nur, um sie als seine Ideen auszugeben und unter viel Lob „von oben“ umzusetzen. Kein Wunder, daß ihn alle Menschen - seine eigene Familie inklusive! - lieber von hinten als von vorne sahen.


    Doch leider stand schon wieder Weihnachten vor der Türe. Es wurde von Dietmar erwartet, daß er sich zumindest kurz bei seinen anstrengenden Eltern und seinen nervigen Geschwistern blicken ließ. Ihm graute bereits jetzt davor. Damit er das aushielt, brauchte er D-R-I-N-G-E-N-D einen Drink. Oder besser noch zwei. Als Dietmar den Kühlschrank öffnete, traute er seinen Augen nicht: ein kleines grünes ... Ding saß im Flaschenregal und hielt sich an der Flasche Wodka fest. Sofort machte er die Türe wieder zu. Dabei hatte er doch erst ein Glas Wodka! Sonst vertrug er doch auch mehr. Langsam öffnete er die Türe wieder. Das Ding saß immer noch da. Diesmal grinste es ihn frech an und winkte sogar. Dietmar grabschte grob nach dem Ding, doch dieser verflixte, grüne kleine Teufel hatte scharfe Zähne und biß ihm so fest in den Zeigefinger, daß er blutete. Dazu lachte er hämisch.


    Als Dietmar zu poltern begann, sprang ihm dieser kleine Kobold auf die Schulter und hielt ihm einfach den Mund zu. "Jetzt hörst DU einmal zu! Tag für Tag tyrannisierst Du Deine Mitmenschen, so daß jeder Angst vor Dir hat und Dich nicht mag! Jetzt reichts! Für 24 Stunden werde ICH Dich begleiten und jedes Mal, wenn Du Dich schlecht benimmst, werde ich Dich bestrafen. Hast Du mich verstanden?" Dietmar lachte. Von so einem grünen Ding ließ er sich doch nicht ins Bockshorn jagen. Doch bevor er etwas sagen konnte, biß ihm das Tier herzhaft ins Ohr. Scheisse, tat das weh. Außerdem blutete er! "Ich heiße übrigens Waldemar und außer Dir kann mich keiner sehen! Besser, Du kooperierst!"


    Es war schon spät und Dietmar mußte langsam los, wenn er nicht wieder Ärger mit seiner nervigen Mutter bekommen wollte. Er ignorierte Waldemar und machte sich fertig. Je eher er dort war, desto eher konnte er wieder gehen und den restlichen Weihnachtsabend mit seinem „lieben Freund Jack Daniels“ verbringen.

    Kurze Zeit später bog er in die Straße seiner Eltern ein und parkte genau vor dem Haus seiner Eltern, dabei ignorierte er selbstgefällig die Tatsache, daß er den Fahrradweg blockierte und auch das Auto vor ihm, obwohl dieser einen Rollstuhl im Heck hatte. Ihm war völlig egal, ob der Rolli ausgeladen werden konnte oder nicht. Als Waldemar bemerkte, daß Dietmar wirklich die Absicht hatte, SO zu parken, biß er Waldemar in die Wade und ließ erst los, als Dietmar korrekt geparkt hatte. Dietmars Hosenbein wies nun kleine Löcher aus, außerdem spürte er, wie ein wenig Blut sein Bein herunterrann. Er war fuchsteufelswild.

    Als seine Mutter im üblichen Schürzenkleid die Türe öffnete und ihm ein „Fröhliches Weihnachten, mein Sohn!“ entgegenwarf, lag ihm schon eine unfreundliche Begrüßung auf der Zunge, doch Waldemar saß auf seiner Schulter und kniff ihn heftig ins Ohrläppchen. Seine Mutter schien nichts zu bemerken, doch als er am Spiegel vorbeiging, konnte er den kleinen Kobold genau sehen. Unverschämterweise zeigte dieser ihm nun auch noch den Mittelfinger. Unglaublich.


    Seine Geschwister begrüßten ihn verhalten. Kein Wunder. Letztes Weihnachten hatte es einen Eklat gegeben, als er ihnen endlich einmal gesagt hatte, was er von ihnen hielt (alles Loser!) und seitdem hatten sie sich nicht mehr getroffen. Nur seine Mutter wollte nicht akzeptieren, daß sie keinen Kontakt mehr miteinander pflegten und nur auf ihr Bestreben waren sie heute alle hier, obwohl sie vermutlich allesamt lieber ganz woanders gewesen wären.


    Waldemar zupfte ihn am Ohr. „Hör zu, Du hast heute die einmalige Chance, alles wieder gut zu machen, was Du letztes Jahr kaputt gemacht hast. Verkack es nicht! Deine Eltern sind alt und haben nicht mehr viele Freunde. Ihr seid alles, was sie haben! Sie haben Dir Dein Studium finanziert und Du bist nur dank ihnen was geworden. Sie haben nicht verdient, so ein Arschloch wie Dich zum Sohn zu haben, also reiß Dich am Riemen. Ich werde Dich jedes Mal, wenn Du Dich danebenbenimmst, bestrafen. Also nutze besser Deine Chance und zeig, daß Du ein guter Mensch sein kannst!“


    Da Dietmar sowohl das Bein als auch das Ohr ziemlich weh taten (war er eigentlich gegen Tetanus geimpft? Oder war das bereits ein Fall von Tollwut?), hielt er sich lieber zurück, um keine weiteren Attacken dieses miesen, kleinen, grünen Monsters zu provozieren.


    So konnte also seine Schwester endlich einmal ohne Unterbrechungen von ihrem Jahr erzählen. Sie hatte sich von ihrem Mann – den er für ein Großmaul hielt – getrennt, weil dieser begonnen hatte, sie schlecht zu behandeln und zu schlagen. Auch jetzt, ein halbes Jahr nach der Trennung, stellte er ihr noch nach und machte sie überall schlecht. Er war entsetzt. Obwohl er seine Schwester für naiv und lebensunfähig hielt, hatte niemand das Recht, Hand an sie zu legen oder ihr übel mitzuspielen. Er nahm sich vor, seinem nichtsnutzigen Exschwager einen Besuch abzustatten und spürte, wie Waldemar ihm anerkennend auf die Schulter klopfte. Konnte dieser widerliche kleine Wicht jetzt auch noch Gedanken lesen?


    Als seine Mutter das Essen auftrug, bemerkte er, wie liebevoll sie den Tisch gedeckt hatte. Natürlich war alles ganz furchtbar kitschig und überhaupt nicht sein Geschmack. Aber er erkannte die Mühen dahinter und kommentierte die Engelschar und die Herde Rentiere auf der Anrichte diesmal nicht weiter. Als er das Essen lobte – was ein klein wenig übertrieben war, da das Fleisch ein wenig zu fest und die Klöße dafür zu weich waren – strahlte seine Mutter. Erstaunt bemerkte er, wie sehr sich ihr Gesicht dadurch änderte. Mit dem Lächeln im Gesicht sah sie gleich 10 Jahre jünger aus. Beschämt bemerkte er, wie einfach es doch war, anderen ein Lächeln zu bescheren. Waldemar saß währenddessen zufrieden auf seiner Schulter und wippte mit den Füßen im Takt der Weihnachtsmusik, die im Radio lief.


    Nach dem Essen berichtete Henner, sein kleiner Bruder, wie er aus seiner Firma hinaus gemobbt worden war und daß er nun arbeitslos war. Sofort wollte Dietmar ihn mit „Hättest Du doch ...“ belehren, doch Waldemar zog ihn so heftig an der Nase, daß ihm die Tränen kamen. Henner erblickte erstaunt die Tränen im Gesicht seines Bruders. Dietmar besann sich eines Besseren und beendete den Satz mit „... eher was gesagt“. Und erstaunlicherweise meinte er es in diesem Moment auch so. Er hätte seinem Bruder helfen können. Doch was sprach eigentlich dagegen, dies eben nun zu tun? Er hatte Kontakte und einer seiner Kunden hatte immer mal wieder vakante Stellen frei.


    Ihm fiel auf, daß sein Vater beim Essen zittrige Hände hatte. War das letztes Jahr auch schon so gewesen? Parkinson, wurde ihm unaufgefordert erklärt. Dietmar grübelte. Er hatte sich nie groß um seine Eltern gekümmert, sie waren eben einfach immer ganz selbstverständlich da. Doch nun fiel ihm auf, wie alt die beiden geworden waren und wie groß ihr Haus doch für nur zwei Personen war. Er nahm sich vor, sich um eine Haushaltshilfe zu kümmen. Er konnte sich das im Gegensatz zu seinen Geschwistern leisten und die Eltern mußten nicht mehr alles alleine stemmen. Waldemar gurrte ihm zufrieden ins Ohr.


    Dann wurde er aufgefordert, doch von sich zu erzählen. Zuerst wollte er die üblichen Lobeshymnen auf sich selbst und sein erfolgreiches Jahr singen, doch Waldemar hielt ihm energisch den Mund zu, so daß er nur ein „Mmmh...“ herausbrachte. „Mmmmh, das Jahr war so wie die letzten Jahre vorher auch“ … mehr Lobhudelei durfte er nicht sagen. Doch anstatt ihm Beifall zu zollen, zogen alle lange Gesichter. „Wie lange soll das denn noch so weitergehen? Du hast doch gar kein Leben mehr, immer ist die Firma an erster Stelle! Du hast doch gar keine Zeit für Hobbies! Du Armer!“


    So hatte er das noch gar nicht gesehen. Sicher, die Arbeit machte Spaß. Aber an seinen letzten Urlaub konnte er sich gar nicht mehr erinnern. Und Lesen, Wandern, Konzerte, Theater... dafür hatte er schon lange keine Zeit mehr gehabt! Waldemar schlug ihm ins Gesicht... „Du Idiot! Du hast doch auch nur ein Leben! Nutze es!“ zischte er ihm ins Ohr.


    Nicht lange danach verabschiedeten sie sich nach voneinander. Zuhause ließ Dietmar den Abend bei ein paar Gläschen Whiskey Revue passieren. Auch Waldemar hatte sich einen Fingerhut voll einschenken lassen. Der Abend war ganz anders gewesen als sonst... entspannter und auch schöner ... doch warum?


    „Weil Du Idiot nicht nur den ganzen Abend um Dich gekreiselt bist wie sonst, sondern endlich einmal den andern zugehört hast! Und weil Du Dich endlich mal wie ein Mensch benommen hast und nicht wie ein Arsch!“ nölte der kleine grüne Klugscheißer auf seiner Schulter. Wurde Zeit, daß er den endlich loswurde... Doch Waldemar blieb auch nach dem 3. Whiskey an seiner Seite und nach dem 5. sah er ihn sogar doppelt. Zeit, ins Bett zu gehen.


    Als er am nächsten Morgen ziemlich verkatert aufwachte, war er fest davon überzeugt, Waldemar wäre nur ein übler Traum gewesen. Doch in seinem Hosenbein waren winzige Löcher... und neben seinem guten Whiskeyschwenker stand ein kleiner Fingerhut...

  • Der 5. Dezember von Marlowe



    Kasimir und die Eisvögel


    Viele Menschen haben in ihren Wohnungen oder Häusern Mitbewohner, von denen sie oftmals gar nichts wissen. Nein, keine Mäuse oder Spinnen, Fliegen oder Ameisen. Nein, ich rede von einen Wichtel.


    Manche Wichtel sind sehr schweigsam und leise. Sie sprechen nicht mit den Menschen und erledigen alles ganz heimlich. Egal ob sie uns eine Freude machen oder einen Streich spielen. Aber es gibt auch einige, die sind nicht so scheu. Und genau so ein Wichtel wohnt bei mir.


    Er heißt Kasimir und ich hätte ihn nicht entdeckt, wenn ich meine Möbel vor einiger Zeit nicht umgestellt hätte. Ich hatte die Kommode an der einen Seite mehr in die Mitte gerückt und sah plötzlich eine kleine Tür, mit einem Fensterchen darin und davor eine kleine Leiter die zu dieser Türe über der Bodenleiste führte.


    „Das ist ja ein Ding,“ murmelte ich, kniete mich hin und versuchte, die kleine Türe zu öffnen. Aber bevor ich sie wahrscheinlich aus Versehen herausgerissen hätte, wurde das Türchen von innen aufgerissen und da stand ein momentan sehr verschlafen aussehender, langbärtiger und sehr zorniger kleiner Wichtel vor mir und funkelte mich mit seinen kleinen Äuglein unter der roten Wichtelmütze an. „Ja also wirklich, was soll denn das,“ rief er und drohte mir mit seiner kleinen Faust. „Dieses Gepolter und dieser Krach, ich brauche auch meine Ruhe und meinen Schlaf!“ Rief das und schlug mir die Türe vor meiner Nase wieder zu.


    Das war ja wirklich ein tolles Ding, stellte ich für mich fest. Ich hatte gedacht, die Kinder vom Vormieter hätten das da hin gemalt, aber nein, es war echt. Ich hatte tatsächlich einen richtigen, lebenden Wichtel in meiner Wohnung. Jetzt wusste ich, wer mir immer wieder meinen Sachen auf dem Schreibtisch herum rückte, das ich sie nicht mehr da fand, wo ich sie hingelegt hatte. Oder auch der Salzstreuer, mit dem ich mehr als einmal meine Suppen versalzen hatte, weil er nicht richtig fest verschraubt war, hatte nun eine Erklärung gefunden.

    „So nicht,“ sagte ich laut und klopfte vorsichtig an die Wichteltür. Langsam ging die Türe auf. „Lass uns mal miteinander reden,“ sagte ich schnell, bevor er es sich anders überlegte. Da stand er nun wieder vor mir, aber nicht mehr so wütend wie vorher. „Schon gut,“ meinte er. „Entschuldige mein Schimpfen, ich habe es nicht so gemeint. Ich heiße übrigens Kasimir und bin mit Dir zusammen hier eingezogen.“


    „Aha,“ sagte ich. „ Und wo hast Du vorher gewohnt,“ fragte ich ihn dann. „Beim Weihnachtsmann, am Nordpol, aber der meinte dann, es wäre mal Zeit für mich, woanders zu wohnen, für eine kleine Weile sozusagen.“


    Das kam mir komisch vor. „Wieso für eine kleine Weile, ist das üblich für einen Wichtel vom Nordpol?“


    Ich hatte es mir vor der Wichteltür bequem gemacht, stützte mich auf ein Sofakissen und sah ihn fragend an. Er war plötzlich sehr verlegen. „Naja, weißt Du, ich habe den Weihnachtsmann verärgert und da hat er mich verbannt, aus dem Weihnachtsland direkt hierher.“


    „Und was hast Du angestellt, dass Du gleich verbannt wurdest? Das interessierte mich jetzt schon sehr.“


    Kasimir setzte auf die Türschwelle seiner kleinen Türe, ließ die Beinchen baumeln und erzählte:„ Das war so, der Weihnachtsmann hat ein Hobby. Die Trolle müssen ihm ab und zu einen Eisblock heranschaffen und dann schnitzt er daraus einen Eisvogel. Er kann das sehr gut und diese Eisvögel sind wirklich wunderschön. Und eines Tages, er war unterwegs um Geschenkpapier einzukaufen, da kam eine Fee zu Besuch. Ich sollte mich um die Fee kümmern, bis der Weihnachtsmann wieder zurück war und wir spielten ein wenig miteinander und dann zeigte ich ihr die wunderschönen Eisvögel. Sie war total begeistert und als es Zeit für einen Tee wurde, bedankte sie sich bei mir und schenkte mir einen Wunsch, der in Erfüllung geht.


    Also wünschte ich mir, dass die Eisvögel fliegen könnten. Ich dachte, der Weihnachtsmann würde sich auch darüber freuen. Sie erfüllte mir den Wunsch, die Eisvögel wurden lebendig, begannen sich zu putzen, breiteten dann ihre Flügel aus und schwupps, flogen sie in einem Schwarm los und kreisten am Polarhimmel herum. Es war wunderschön anzusehen, sie glitzerten und strahlten funkelnd und blinkend.


    Es war so schön. Ich konnte mich gar nicht beruhigen, so sch nicht mehr, denn der kam mit seinem Transportschlitten herangesaust und flog mitten in die Eisvögelschar. Die waren so erschreckt, dass sie immer höher flogen und dadurch kamen sie leider der Sonne zu nahe. Du kannst Dir denken was dann passierte, sie schmolzen und kamen als Schneeflöckchen wieder zurück.


    Der Transportschlitten kippte bei der Landung um und das ganze Geschenkpapier flog durch die Gegend. Das war dann nicht mehr lustig. Erst musste ich alleine alle Papierrollen einsammeln und dann wurde ich vor allen Wichteln, Trollen und Elfen verwarnt und verbannt, weil ich dauernd so einen Unsinn gemacht habe. Sagte jedenfalls der Weihnachtsmann, dabei habe ich es doch immer nur gut gemeint.“


    Er blickte mich traurig an. „Deshalb bin jetzt hier und warte auf die Nachricht, dass ich wieder zurück darf.“ Er seufzte tief. „Aber ich glaube, das dauert noch was, der Weihnachtsmann war schon sehr sauer!“

    Tja, so war das mit Kasimir. Mein Wichtel wohnt jetzt solange bei mir, bis er wieder ins Weihnachtsland darf. Er darf aber gerne noch lange bleiben, denn er weiß viel zu erzählen. Und vielleicht erzähle ich Euch dann diese Geschichten, dann haben wir alle was davon.

  • Der 6. Dezember von Batcat



    „GINGERBREAD MAN“


    Eigentlich war Elke eine tolle Frau. Warum sie immer noch Single war, verstand keine ihrer Freundinnen. Deswegen schenkten sie ihr auf der alljährlichen Weihnachtsfeier ihrer Mädelsgang, die traditionell am ersten Advent stattfand, eine „ganz besondere“ Backform, wie sie ihr kichernd erklärten. Damit sollte es ihr möglich sein, sich endlich den richtigen Mann zu backen, wenn es so schon keinen Mann für sie „auf dem Markt“ gab.


    Elke wußte nicht, ob sie lachen oder entsetzt sein sollte: Die Silikonform war riesig und eindeutig einem sehr muskulösen nackten Mann nachgebildet, der in jeder (ja, wirklich jeder…) Hinsicht ordentlich bestückt war.


    Unter viel Gekreisch und noch mehr Alkohol wechselte die Backform, von Frau zu Frau. Unter dem Einfluß sehr hochprozentiger Spirituosen hauchten sie ihr alle möglichen Eigenschaften und Wünsche zu, die sie sich selbst allesamt von den Männern wünschen würden: er sollte gut aussehen, gut und gerne kochen, im Haushalt mithelfen, nicht ständig Widerworte geben, ein guter Zuhörer und selbstverständlich auch eine Granate im Bett sein … und noch viel mehr andere Dinge.


    Elke verstand sich zwar selbst nicht – das mußten noch Nachwirkungen von dem vielen Alkohol sein – aber schon am nächsten Tag zog sie die Backform aus dem Mülleimer hervor, in die sie sie nachts bereits versenkt hatte und sah sie grübelnd an. Und wenn es doch funktionierte?


    Lange suchte sie nach einem passenden Rezept und wurde endlich mit einem Gewürzkuchen fündig. Denn so wie der Kuchen, so sollte auch der Kerl sein, da war sie sich sicher. Und so rührte sie beherzt Schokolade, Zimt, Rotwein, aber auch einen Hauch von Chili (für die Schärfe, hihi, dachte sie sich dabei) unter den Teig und stellte die Form in den Ofen. Nach einer Stunde war ihr Werk fertig und sie bestrich das Werk zufrieden mit Glasur. Schmunzelnd ließ sie den Kuchen auskühlen.


    Am nächsten Morgen verschlief Elke das erste Mal seit Jahren und hatte zu tun, halbwegs pünktlich zu einem wichtigen Termin ins Büro zu kommen. Den Kuchen hatte sie vollkommen vergessen.


    Als sie heimkam, erschrak sie zu Tode. Auf dem Flur lagen Rosenblätter, in der ganzen Wohnung war dezentes Kerzenlicht und aus dem Wohnzimmer war leise Musik zu hören. Einbrecher! War ihr erster Gedanke. Da trat ein Mann aus der Küche. Ihr erster Impuls war: Schreien, wegrennen, Polizei rufen. Oder umgekehrt?


    Der Mann hatte einen milchkaffeefarbenen Teint, seine langen schwarzen Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden. Er war ausgesprochen gut gebaut und außer einer ihrer Schürzen trug er … nichts. In der Hand hielt er ein Rotweinglas… Das war der Moment, in dem Elke einfach umkippte.


    Als sie die Augen wieder aufschlug, lag sie auf ihrer Couch, sorgfältig in eine Decke gewickelt und neben ihr stand eine Tasse dampfenden Tees. Das kann nur ein Traum gewesen sein, ganz eindeutig.


    Doch woher kam das Staubsaugergeräusch? Sie lugte in den Gang. Es war doch kein Traum. Derselbe Kerl, der ihr die Türe aufgemacht hatte, drehte im Gang seine Runden mit dem Staubsauger. Von hinten sah er eigentlich auch ganz lecker aus. Und wer die Bude staubsaugt, will sie bestimmt auch nicht umbringen. Elke fasste Mut und pirschte sich an: „Wer sind Sie und was machen Sie hier?“


    Der Typ drehte sich um. Gott, von Nahem sah er noch viel besser aus. Mit einer Stimme, die an zartschmelzende Schokolade erinnerte, antwortete er: „Ich bin es. Der Mann, den DU Dir gewünscht und gebacken hast. Ich bin die Erfüllung Deiner Wünsche und stets für Dich da. Sag nur, was Du brauchst…“


    Elke war fassungslos. Aber auch… begeistert. Also, gut sah er schon aus. Und wenn sie mal ganz ehrlich zu sich selbst war: so sauber sah auch ihre Wohnung schon lange nicht mehr aus. Also, was hatte sie zu verlieren? Sie konnte genau so gut diesen Kerl mal ausprobieren. Vor die Türe setzen ging immer noch.


    Während er das Abendessen kochte, legte sie sich mit einem Buch aufs Sofa. Schon bald roch es vorzüglich aus der Küche. Das Abendessen servierte er – immer noch nur mit dem neckischen Schürzchen bekleidet – im Wohnzimmer. Selten hatte ihr ein Essen so gemundet wie dieses, sie langte ordentlich zu. Danach schlurfte sie ermattet auf die Couch, Zeit für ihre Lieblingsserie. Doch Angelo, wie sie diesen Engel in Menschengestalt insgeheim nannte, hatte andere Pläne für sie.


    Immer wieder suchte er das Gespräch mit ihr und massierte dabei ununterbrochen ihre Füsse. Netflix & Chill - wie sonst üblich - war heute also nicht drin. Schade, das hätte sie nach dem anstrengenden Tag und dem üppigen Essen eigentlich nötig gehabt. Doch das war noch nicht alles, denn als sie zu Bett gehen wollte, nahm er sie an der Hand und zog sie sanft hinter sich her in ihr Schlafzimmer. Nun, was er dort alles mit ihr anstellte, hielt sie noch geraume Zeit wach, was sie zwar sehr genoß nach der langen abstinenten Zeit, doch sie wußte auch, sie würde am nächsten Tag für ihren Schlafmangel büßen. Und so war es auch.


    Und so war es auch die nächsten Wochen: Tags hielt das Büro sie auf Trab und abends Angelo. Zwar war ihre Wohnung stets tipptopp geputzt und blinkte, sie bekam eine Lunchbox mit ins Büro und jeden Abend ein fulminantes Dinner vorgesetzt, doch Angelo strengte sie auch an: Abschalten war nicht mehr möglich, er forderte ihre ganze Aufmerksamkeit ein. TV, Surfen… keine Chance. Als sie abends einmal mit den Kolleginnen auf einen Absacker zur Happy Hour in die Lieblingsbar entschwand und erst später heimkam, sah er sie an wie ein geprügelter kleiner Welpe und nahm ihr beinahe weinend das Versprechen ab, nicht einfach wieder so spät zu kommen. Und auch die aufregenden, aber anstrengenden Nächte forderten ihren Tribut: schlecht sah sie aus, mit tiefen Augenringen und immer fahriger und ungeduldiger werdend. Dabei hatte sie doch jetzt alles, was sie sich schon immer gewünscht hatte. Oder etwa nicht?


    Elke sprach ein ernstes Wort mit Angelo. Doch es veränderte sich nichts. Nach zwei Wochen war sie am Ende. Er drückte ihr jede Luft zum Atmen ab. Sie forderte ihn auf, bis zu ihrer abendlichen Heimkehr das Haus verlassen zu haben. Doch es war wie immer: als sie heimkam, stand er in ihrer Schürze am Herd und kochte. Hatte er überhaupt irgendein anderes Kleidungsstück als diese Schürze? Sie kannte ihn nur mit ihr – oder ganz nackt.


    Elke wurde zunehmends verzweifelter. Wie konnte sie ihn nur loswerden? Liebe war ja gut und schön, aber sie fühlte sich so von ihm vereinnahmt, daß sie lieber weiter alleine bleiben würde, als sich für eine Beziehung so aufzugeben und zu verbiegen.


    Als er auch diese Nacht wieder begann, sich ihr zu nähern, war sie so gereizt, daß sie ihm in den Finger biß. Sie brauchte Schlaf und nicht schon wieder Sex! Entsetzt spürte sie, daß sie ihm die Fingerspitze abgebissen hatte. Doch in ihrem Mund schmeckte sie nicht den Geschmack von Blut, sondern von … Schokolade. Angelo hingegen schien nichts gemerkt zu haben und machte sich unbeirrt ans Werk.


    Während er an ihr zugange war, reifte in ihrem Hirn eine absolut krude Idee. Sie hatte ihn gebacken. Was, wenn er kein Mensch aus Fleisch und Blut war? Sie wußte nicht, woher er kam und außer ihr hatte ihn keiner je gesehen, da er sich hartnäckig geweigert hatte, ihre Wohnung zu verlassen.


    Als Angelo endlich schlief, schritt sie zur Tat. Vorsichtig griff sie sich eine seiner Hände und begann daran zu knabbern. Es war tatsächlich so wie gedacht. Der Mann bestand aus Schokolade, Zucker und anderen Ingredienzien, aber nicht aus Fleisch und Blut. Er reagierte auch nicht, als sie sich den Arm hinauf futterte. Warum war ihr vorher eigentlich nie aufgefallen, daß er gar nicht atmete?


    Elke hatte schwer zu kämpfen, aber da mußte sie durch. Sie wußte schließlich nicht, was passieren würde, wenn sie den halb aufgegessenen Stutenkerl bis zum nächsten Morgen liegen lassen würde. Mehrfach schlich sie sich ins Bad, um sich zu übergeben… und zur Bar, um sich ordentlich Schnaps einzukippen, doch zum Morgengrauen hatte sie es geschafft und Angelo war weg. Herzhaft rülpste sie und ließ sich ebenso volltrunken wie vollgefressen ins Bett fallen, wo sie sofort in einem komaähnlichen Schlaf versank.


    Sie wurde erst wach, als ein Stimmengewirr an ihren Kopf drang: „Elke, wach auf!“ „Ich habe doch gewußt, daß wir lieber nachschauen sollten, ob es ihr gut geht! Wir haben wohl doch ganz schön gesoffen gestern auf unserer Weihnachtsfeier“ Ihre Freundinnen stellten sie auf die Beine und während sie versuchte, mit einer kalten Dusche einen klaren Kopf zu bekommen, kochten die Mädels starken Kaffee für sie.


    Entrüstet zogen sie die Backform aus dem Müll. „Also, wir hätten jetzt ja schon erwartet, daß Du uns zumindest mal aus Jux einen Kuchen darin bäckst“, schimpften sie mir ihr, worauf Elke sofort panisch „NEIN!“ ausrief.

  • Der 7. Dezember von breumel



    Nächtlicher Besuch


    "Tschüss Mama!"

    "Tschüss Mäuschen. Wo wollt ihr denn eigentlich hin?"

    "Erst auf den Weihnachtsmarkt und dann mal sehen. Du musst auch nicht wachbleiben, kann später werden. Ich bin ja schon 18!"

    'Ja, genau – seit vorgestern…' Sie kann sich gerade noch davon abhalten, die Augen zu verdrehen. Der dritte Dezember ist ganze zwei Tage her. "Na dann, viel Spaß! Vergiß den Schlüssel nicht. Und falls etwas sein sollte, ruf an."

    Clara tut sich keinen derartigen Zwang an. Ihre Augen berühren fast die Augenbrauen. "Mama, da ist nichts! Wir sind doch zu viert!"

    "Nimm wenigstens mein Pfefferspray mit.", sagt sie und zieht das kleine Döschen aus der Handtasche. Sie weiß genau, dass Clara es nur einsteckt, um ihre Ruhe zu haben.

    "Jetzt muss ich aber los. Bis morgen!" Mit einem Kuss auf die Wange verabschiedet sich ihre Tochter und die Haustür fällt ins Schloss.


    Auf zum gemütlichen Fernsehabend! Sie macht es sich mit einer Schachtel After Eight und einer Kanne Tee auf dem Sofa bequem. Lustlos zappt sie durch die Kanäle – nichts ist es wert, länger zuzusehen. Auf Netflix hat sie auch keine Lust, also stöbert sie durch den Stapel ungelesener Bücher und greift eines heraus. Bald schon ist sie gefangen zwischen Liebe, Missgunst und mörderischen Intrigen…

    Um 23 Uhr stellt sie fest, dass sie trotz dreimal lesen immer noch nicht weiß, was im letzten Absatz stand. Zeit, schlafen zu gehen. Zähne putzen, Haare bürsten, umziehen, und dann ab ins warme Bett.

    Aber sie kann nicht einschlafen. Sie ist es einfach nicht gewohnt, dass Clara nicht im Haus ist. Zumindest nicht, ohne dass sie weiß, dass ihre Tochter bei einer Freundin übernachtet oder bei ihrem Vater ist. Unruhig dreht sie sich von einer Seite auf die andere und findet keinen Schlaf.


    Da! Das war doch ein Geräusch! Ihr Blick fällt auf die Leuchtanzeige ihres Weckers. Mitternacht? Ganz schon früh für "kann später werden"… Aber sie hat sowieso noch Durst, da kann sie Clara auch noch gute Nacht sagen.

    Schläfrig tapert sie Richtung Küche. Komisch, kein Licht zu sehen – ob Clara die nicht ganz geschlossene Schlafzimmertür bemerkt hat und sie nicht stören wollte? Sie will gerade die Küchentür öffnen, da registriert sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung im Wohnzimmer. Für den Kater ist die Gestalt zu groß, es kann nur ihre Tochter sein. Doch als sie ins Wohnzimmer tritt, erstarrt sie: Da steht ein Mann vor dem Kamin!


    Ein leiser Schrei entfährt ihr. Spontan will sie zur Garderobe laufen und ihr Pfefferspray holen, aber das hat ja jetzt Clara. Ein Küchenmesser! Sie rennt in die Küche, zieht das Filetiermesser aus dem Messerblock und hält es vor sich. "Kommen sie mir nicht zu nahe! Was machen sie in meiner Wohnung? Raus hier!"

    Der Mann sieht sie nicht minder erschrocken an. Wie sieht der überhaupt aus? Ob das ein Schausteller vom Weihnachtsmarkt ist? Ein komischer weißer Kittel mit rotem Umhang, Rauschebart und merkwürdige Kopfbedeckung – so läuft doch kein gewöhnlicher Einbrecher herum?

    "Verflixt nochmal, was ist denn jetzt wieder schiefgelaufen!", poltert der Mann los. "Sie sollten tief und fest schlafen!"

    "Das hätten sie wohl gerne! Das hier ist mein Haus, sie haben hier nicht zu suchen! Wie sind sie überhaupt hereingekommen?"

    "Durch den Kamin, wie denn sonst!"

    Ungläubig schaut sie auf seine nicht gerade magere Figur. Aber selbst wenn er schlank wie Karl Valentin gewesen wäre, durch den Kamin kommt kein Mensch hindurch.

    "Klar doch! Sie kommen durch den Kamin und ich bin der Weihnachtsmann…"

    "Der Nordpolbewohner, der dem Christkind Konkurrenz macht? Ich muss doch sehr bitten! Der hat noch ein paar Tage Zeit, bevor er Dienst hat. Vermutlich muss er noch jede Menge Last-Minute-Wünsche regeln. Und die Klimaerwärmung macht es ihm auch nicht leichter! Danke, ich bin mit Stiefelfüllen und den kleineren Wünschen bedient. Mir reicht es, wenn ich für die Niederländer den großen Job übernehmen muss, aber damit bin ich heute schon durch."

    "Sie wollen also wirklich behaupten, sie sind der Nikolaus? Und wie füllen sie dann Millionen von Stiefeln in nur einer Nacht?"

    "Dienstgeheimnis. Aber von Rechts wegen müssten sie schlafen. Wenigstens klappt das mit dem Zeit anhalten."

    Sie will gerade etwas sagen, da fällt ihr Blick auf die Wanduhr. Immer noch Mitternacht? Und die Anzeige auf der Wetterstation, welche immerhin eine Funkuhr ist, zeigt das gleiche. Das kann doch nicht sein, sie ist sich sicher, dass sie vor circa zehn Minuten aus dem Bett gestiegen ist!

    "Da haben die Sandmänner ganz schön Mist gebaut. Hier wohnt doch ein Kind, oder?"

    "Na ja, nicht so ganz. Clara ist vor zwei Tagen volljährig geworden."

    "Verd... Dann haben die Sandmänner die aktualisierte Liste bekommen, nur ich nicht! Deshalb sind sie wach und ich bin hier!"

    "Also kommen sie zu jedem Kind und die Bewohner des Hauses werden eingeschläfert? Also nicht eingeschläfert, aber sowas wie betäubt?"

    "Im Prinzip schon. Der Haushalt schläft und ich kann unbemerkt die Stiefel der Kinder füllen."

    "Und was machen wir jetzt?"

    "Ich verlasse das Haus durch die Vordertür und sie schlafen weiter."

    "O-kay." Sie geht ein paar Schritte rückwärts – so ganz traut sie der Situation noch nicht. Der Mann – der Nikolaus, verbessert sie sich in Gedanken – geht zur Wohnungstür, dreht den Schlüssel und lässt sich selbst hinaus. Dann schließt er die Tür und sie schließt hinter ihm ab.

    Noch ganz verwirrt geht sie in die Küche, trinkt ein Glas Wasser und kehrt schließlich zurück in ihr Bett. Ein Blick auf den Wecker zeigt fünf Minuten nach Mitternacht. Kurze Zeit später schläft sie tief und fest und wird auch nicht wach, als Clara zurückkehrt.


    Am nächsten Morgen wundert sie sich über den wirren Traum – was für ein hanebüchener Unsinn! Sie geht zu Claras Zimmer und will gerade hineinsehen, um sich zu überzeugen, dass ihre Tochter in ihrem Bett liegt, da fällt ihr Blick auf den Boden vor der Zimmertür: Ein mit Nüssen, Mandarinen und Schokolade gefüllter Stiefel steht dort. Und auch vor ihrem eigenen Zimmer steht einer ihrer Stiefel und ist gut bestückt. Ein handgeschriebener Zettel steckt dazwischen: "Bitte entschuldigen Sie die nächtliche Störung"

  • Der 8. Dezember von SiCollier



    „Heut’ ist der schönste Tag in meinem Leben“ oder wer kennt noch Joseph Schmidt?



    Ein Lied ging um die Welt*, bevor ein Stern fiel** und für immer verstummte. Aber wer kennt heute noch Joseph Schmidt?


    Es kam, wie es kommen mußte. Das Verbringen des Wohnzimmerteppichs ins angrenzende Eßzimmer artete in Arbeit aus. Wenn schon - denn schon. Also wurde die Stereoanlage samt DVD-Spieler, nachdem die in der Nähe stehenden Regale weggeräumt und somit frei zugänglich waren, herausgenommen und gegen die geerbte „Reserveanlage“ ausgetauscht, da selbige von besserer Qualität ist. Um jedoch daran zu kommen, mußten zuvor aus den erwähnten Regalen deutliche Mengen an Büchern und auch Schallplatten entfernt werden. Wie es so geht, blieb es nicht beim einfachen Ausräumen; der Blick fiel hierhin, fiel dorthin, so mancher längst vergessene Schatz fand den Weg ans Tageslicht und zurück ins Bewußtsein. Erinnerungen fingen an zu fluten, lange vergangene Jahre und Abende bahnten sich den Weg aus dem Vergessen zurück ins Gedächtnis, als ob es erst gestern gewesen wäre. Begleitet von einem Ohrwurm, der schon (viel zu lange) geschwiegen hatte.



    Heut ist der schönste Tag in meinem Leben.

    Ich fühl zum ersten Mal, ich bin verliebt. ...



    Lange, sehr lange ist es her, ich war noch ein Kind, als dieses Lied regelmäßig im Radio zu hören war. Mittwochs im Wunschkonzert des damaligen SWF wurde es nach meiner Erinnerung fast jede Woche gespielt. Oder auch



    Ein Lied geht um die Welt,

    ein Lied, das euch gefällt. ...



    Beide vom damals noch nicht vergessenen Joseph Schmidt. Aber wer kennt ihn heute noch, einige Jahrzehnte später, in der Informationsflut erstickt, und über fünfundsiebzig Jahre nach seinem tragischen Tod?



    Oder David Oistrach. Kyrillische Schrift. Weitere Erinnerungen. JPC - Importe aus der UdSSR - mit Postkarte bestellen - tagelang warten, ob das Ersehnte kommt oder nicht: die Planwirtschaft konnte die immense Nachfrage nicht decken. Heute alles undenkbar. Denn weder konnte man online den Auftragsstatus abfragen, wurden Pakete über Nacht zugestellt noch konnte man sie gar online verfolgen - online gab es noch nicht.



    Jetzt, da sich der Winter nähert - es fielen heute, während ich dies schreibe, sogar die ersten Schneeflocken - und die Adventszeit begonnen hat, kommt mir dieser Text in Erinnerung. Denn wieder einmal ist es Zeit, habe ich vielleicht die Zeit, mich mit den alten Schätzen zu beschäftigen. Und wer weiß, was dieses Mal an Erinnerungen ans Tageslicht kommt. Die Adventsdekoration ist schon weitgehend aus den Kartons hervorgeholt und im Haus verteilt, an manchem Fenster, wie auch in den Nachbarhäusern, erstrahlt des Abends Licht. Wenn dann der Blick auf die wenigen seit Kindheitstagen wie ein Schatz gehüteten Holzfiguren fällt, reisen die Gedanken zurück. In das, was gerne als die „gute alte Zeit“ bezeichnet wird, zu den Abenden mit „Adventsstimmung“, als die Familie um den nur von Kerzen erleuchteten Tisch saß, Plätzchen gegessen und Geschichten vorgelesen wurde, ohne daß jemand dringend die E-Mails checken mußte, denn E-Mails gab es in den Zeiten, da das Telefon nur zum Telefonieren da war und noch eine Wählscheibe hatte (letztens mußte ich meiner Tochter in der Tat erklären, wie eine Wählscheibe eigentlich funktionierte?!), noch nicht. Ich habe damals nie verstanden, weshalb meiner Mutter bei Hans Christian Andersens „Der Tannenbaum“ die Tränen kamen. Heute kommen sie mir, und meine Tochter versteht mich nicht. So ist wohl der Lauf der Welt.



    War nun dieser „schönste Tag in meinem Leben“ schon oder kommt er erst noch? Und woran erkenne ich diesen überhaupt?

    Wer vermag solches schon zu beurteilen vor jenem letzten Tag, der unweigerlich einmal anbrechen wird. Bis dahin gibt es hoffentlich noch viele „schönste Tage“. Die dunklen Dezemberabende laden ein, darüber nachzudenken und die schönen Tage Revue passieren zu lassen. Man müßte sich „nur“ die Zeit dazu nehmen. Das war früher sicherlich einfacher und leichter als heute. War das doch die „gute alte Zeit“?



    * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * *


    Anmerkungen:

    * = „Ein Lied geht um die Welt“ - wohl bekanntestes Lied von Joseph Schmidt (1904 - 1942)

    ** = Ein Stern fällt... Inschrift auf seinem Grabstein

  • Der 9. Dezember von belladonna



    Der Geist der Weihnacht



    Uffz! Stöhnend sank ich auf meine Couch. Diese opulenten Weihnachtsessen bei meinen Eltern waren einfach nichts mehr für mich. Fetter Gänsebraten, dazu Klöße und Kraut, und wehe, man nahm keinen Nachschlag! Zu allem Übel hatte mein Bruder dieses Jahr auch noch seine neue Freundin mitgebracht, die Betreiberin eines Back-Blogs war, was zur Folge hatte, dass sie uns mit einer „kleinen Auswahl“ ihrer Weihnachtsbäckerei beglückt hatte. Um nicht unhöflich zu wirken, hatte ich mich also auch noch durch unzählige Plätzchen- und Pralinensorten probiert, bis ich, kurz vor dem Platzen, nur noch erschöpft abwinken konnte, als der bunte Teller das nächste Mal an mir vorbei kam. Bald darauf hatte ich mich verabschiedet und, die mahnenden Worte meiner Mutter im Ohr, am nächsten Tag auf jeden Fall pünktlich zum Reste-Essen da zu sein, den Heimweg angetreten. Die halbe Stunde Fußmarsch nach Hause hatte mir zwar gut getan, doch noch immer verspürte ich ein ungutes Drücken in der Magengegend, wo sich Weihnachtsgebäck, Gans und Klöße einen erbitterten Kampf um den Platz in meinem Verdauungstrakt lieferten.


    Apropos bitter und Verdauung, dachte ich mir, so ein Verdauungsschnäpschen wäre jetzt vielleicht ganz hilfreich! Ich hievte mich wieder hoch und schlurfte zum Wohnzimmerschrank, um die spärlichen Bestände meiner Hausbar zu sichten. Außer ein paar Resten vom letzten Geburtstag war nicht mehr viel vorhanden und ich wollte die Schranktür schon enttäuscht wieder schließen, als mein Blick auf eine kleine Flasche fiel, deren eckige Form und dunkelgrüne Farbe mich entfernt an Magenbitter erinnerten. Anscheinend war sie sogar noch voll, denn als ich sie herausnahm, wog sie erstaunlich schwer in meiner Hand. Das Etikett zeigte allerdings weder Hirschkopf noch Kräuter-Arrangements, sondern ein kleines, feistes Männlein mit einer grünen Zipfelmütze. Daneben stand: „Der Geist der Weihnacht“. Weiter war nichts auf dem Etikett vermerkt, das einen sehr selbstgebastelten Eindruck machte. Vermutlich handelte es sich bei diesem „Geist der Weihnacht“ um einen Tombola-Gewinn einer der letzten Weihnachtsfeiern oder ein Überbleibsel aus einer längst vergessenen Wichtelaktion, denn ich konnte mich auch nicht erinnern, jemals etwas Derartiges gekauft zu haben. Aber egal, mir war immer noch schlecht und ich brauchte etwas Hochprozentiges, also nahm ich die Flasche und ein Glas und kehrte zu meinem Sofa zurück.


    Doch als ich den Deckel öffnete, um mir endlich den ersehnten Verdauungsschnaps einzuschenken, traute ich meinen Augen nicht: statt der erwarteten braunen Flüssigkeit kam nur ein leichter, weißlicher Dampf heraus, der sich immer weiter verdichtete, bis es schließlich „Plopp!“ machte und eine wabernde Wolke über meinem Sofatisch hing, aus der sich schließlich das Männlein mit der grünen Zipfelmütze manifestierte, dessen Bild auf dem Flaschenetikett prangte.


    „Ho ho ho!“, rief es mit erstaunlich tiefer Stimme. „Frohe Weihnachten! Was wünschst du dir?“


    „Äh, Sch-sch-schnaps?“, antwortete ich verdattert. Ich war vollkommen verwirrt – was war denn das? Ich war doch noch gar nicht besoffen!


    „Wie, Schnaps? Mehr nicht?“, fragte das Männlein und sah mich missbilligend an. „Weißt du denn überhaupt, wer ich bin?“


    „Naja“, meinte ich, „ich brauche jetzt wirklich dringend einen Verdauungsschnaps und diese Flasche hier“ – ich deutete auf die vermeintliche Schnapsflasche, der das Männlein entstiegen war- „war meine letzte Hoffnung! Also bitte, wenn es dir nichts ausmacht, dann hätte ich jetzt wirklich gerne einen Schnaps! Und nein, ich weiß nicht, wer du bist!“ Auffordernd sah ich das Männlein an.


    „Also gut“, gab es seufzend nach, „dann eben Schnaps. Aber dann wenigstens was Richtiges und nicht so eine billige Plörre, wie du sie sonst trinkst!“ Es schnippte mit den Fingern und – schwupps! - stand eine schicke Flasche feinsten Haselnuss-Destillats vor mir. Mit einer vornehmen Geste schenkte das Männlein ein und reichte mir mein Glas. Ich nahm einen Schluck und merkte, wie sich umgehend eine wohlige Wärme in mir ausbreitete und der Aufruhr in meinem Magen sich beruhigte.


    „Danke! Da nehme ich doch gleich noch einen!“, rief ich und schenkte nach. „So, und wer bist du jetzt? Und was machst du in dieser Flasche und in meiner Hausbar? Bist du überhaupt echt?“


    „Natürlich bin ich echt!“, entgegnete das Männlein empört. „Ich“, es warf sich stolz in die Brust und wurde noch etwas größer und weniger durchsichtig, „ich heiße Klaus und bin der Geist der Weihnacht! Ich erfülle Wünsche, drei an der Zahl und du hast Zeit bis“, es überlegte kurz, „bis morgen Mittag um 12!“ Klaus sah mich erwartungsvoll an. „Allerdings“, erklärte er dann, „der Schnaps war schon Wunsch Nr. 1, also hast du jetzt noch zwei Wünsche übrig!“


    „Wie, nur noch zwei Wünsche übrig?“ fragte ich. „Ich wusste doch gar nicht…“

    „Papperlapp, das sagen sie alle!“, unterbrach mich Klaus. „Also, was wünschst du dir?“


    „Hmm“, machte ich unsicher und nahm einen weiteren Schluck Haselnuss. Um Zeit zu gewinnen, fragte ich: „Möchtest du vielleicht auch einen Schnaps? Weil Weihnachten ist?“


    „Nein danke“, erwiderte das Männlein. „Ich trinke keinen Alkohol, zu gefährlich! Wenn ich zu nahe an eine Kerzenflamme komme, könnte ich explodieren, puff und weg! Das wäre es dann mit den Weihnachtswünschen – wäre doch schade, oder?“


    „Ok, da ist was dran“, meinte ich, leerte mein Glas und überlegte weiter. Ich sah mich in meinem Wohnzimmer um, an dem die ganze Adventszeit einschließlich Heiligabend spurlos vorübergegangen war. „Ich weiß was!“, rief ich. „Wenn ich schon mal den Geist der Weihnacht zu Besuch habe, dann wünsche ich mir auch ein bisschen Weihnachtsstimmung! Kannst du das?“


    „Natürlich kann ich das!“, entgegnete Klaus fast schon ein wenig beleidigt. „Aber Weihnachtsstimmung? Ernsthaft? Das wünschst du dir?“


    „Das wünsche ich mir! Mit allem Pipapo, Baum, Kerzenlicht, Musik, die volle Dröhnung!“ Beflügelt von mittlerweile vier- oder waren es sogar schon fünf? - Gläsern Haselnuss-Schnaps fand ich meine Idee einfach nur genial.


    „Na gut, wie du willst!“, meinte Klaus gedehnt, schnippte wieder mit den Fingern, und – puff!- saßen wir mitten im Weihnachtswunderland. In der Ecke stand ein prachtvoll geschmückter Baum im vollen Lichterglanz, darunter eine Krippe aus Holz mit einer Unmenge Figuren drum herum. Über der Tür, an Schrank und Regal sowie über dem Fenster hingen weihnachtliche Girlanden, meinen Sofatisch zierte eine Weihnachtspyramide, deren Flügel sich im Kerzenschein sanft drehten und aus meiner Stereoanlage erklang leise Weihnachtsmusik.


    „Wow!“, machte ich beeindruckt… „Das ist ja echt…“, mir fehlten die Worte, „…mega! Darauf einen Haselnuss!“ Ich prostete Klaus zu. Der sah mich zweifelnd an. „Echt? Mega?“ echote er. „Mehr fällt dir nicht ein?“


    „Na klar! Absssolut mega!“, wiederholte ich und leerte mein Glas. Der Pegel in der Schnapsflasche war schon beträchtlich gesunken – wer hatte das nur alles getrunken? Klaus hatte doch behauptet, keinen Schnaps zu vertragen? War vielleicht die Flasche undicht? Ich war verwirrt. Vom Anblick des sich drehenden Rades der Kerzenpyramide wurde mir nun auch leicht schwindlig und die Wärme der vielen Weihnachtslichter ließ mich zunehmend schläfrig werden.


    „Unn wass machen wir jetz?“, nuschelte ich und kuschelte mich in die Sofaecke.


    „Jetzt“, erwiderte Klaus, „erzähle ich dir noch eine Weihnachts-Gute-Nacht-Geschichte. Die geht nämlich so: Es war einmal vor langer langer Zeit, als die Winter noch Winter waren und Weihnachten noch weiß…“


    Viel mehr bekam ich nicht mehr mit. Der lange Tag, das viele Essen und der gute Haselnuss forderten ihren Tribut. Ich zog mir meine Kuscheldecke fester um die Schultern, murmelte im Wegduseln noch: „Ich wünschte, ich müsste morgen nicht schon wieder zu meinen Eltern!“, und dann war ich auch schon eingeschlafen.


    Als ich am nächsten Morgen aufwachte, steif und durchgefroren, weil im Laufe der Nacht die Decke vom Sofa gerutscht war, war es bereits taghell. Klaus war verschwunden, mitsamt Weihnachtsdekoration und Haselnuss – keine Spur mehr vom Geist der Weihnacht. Ich fragte mich, ob ich vielleicht alles nur geträumt hatte? Aber woher kam dann der bohrende Kopfschmerz, der meinen Schädel zu sprengen drohte? Ich versuchte, trotz Watte im Hirn den vergangenen Abend noch einmal Revue passieren zu lassen, aber irgendwie war alles etwas nebulös. Und was war eigentlich mit meinem dritten Wunsch gewesen? Hatte ich mir überhaupt etwas gewünscht oder hatte der Geist, so er denn überhaupt da gewesen war, mich etwa übers Ohr gehauen?


    Ich schlurfte in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine ein und suchte nach den Kopfschmerztabletten. Als ich mit meiner ersten Tasse Kaffee am Küchentisch saß und durchs Fenster in die graue Winterlandschaft hinaussah, klingelte das Telefon. „Hallo Schatz!“ meldete sich meine Mutter mit auffallend müder Stimme. „Es tut mir wirklich leid, aber ich muss unser gemeinsames Mittagessen heute leider absagen…“

  • Der 10. Dezember von leselampe

    Die Offenbarung

    Wen man jahrelang mit der Münchner S-Bahn eine Stunde zur Arbeit fährt, erfährt dieser Zeitraum der erzwungenen Untätigkeit (mir wird übel, sobald ich nicht aus dem Fenster schaue, also nichts lesen, schreiben oder sonstwas) mit der Zeit eine Transformation in eine Art Zwischenzeit oder -raum. Die Fahrzeit verkürzt sich zusehends, obwohl die Bahn dahinzuckelt wie immer - es muss also noch eine andere Zeitdimension geben, mit der Einstein nichts zu tun hat. In diesem Zwischenreich der verschwimmenden Realität kann es durchaus passieren, dass man eine Offenbarung aus höheren Welten erhält. Mich erwischte eine, als ich am zweiten Weihnachtstag abends fast allein im Abteil saß und mich gemütlich in die Ecke neben dem Fenster gekuschelt hatte.

    "Erschrick nicht, ich bin der Liebe Gott", tönte es plötzlich in meinem Kopf", das heißt, das, was ihr Menschen aus mir, dem Wesen aller Dinge, gemacht habt: ein Neutrum mit einem aufmüpfigen Sohn und einem, sozusagen ausgesourcten, Geist, der mich als Taube umflattert. Außer mir ist nichts im Weltall. Ich fülle ja als reiner Geist ohne körperliche Begrenzung das ganze Universum aus. Alles geschieht innerhalb meiner eigenen Unendlichkeit. So steht es im Buch der Bücher.

    Toll. Weißt du, wie ich mich fühle? Beschissen! Jawohl. Anders kann ich es nicht ausdrücken. Jeder heidnische Gott hat es besser als ich. Die dürfen das pralle Leben genießen. Ohne Tabus. Mit allem was dazugehört. Auch mal so richtig die Sau rauslassen. Und ich? Ich muß heilig sein, vollkommen, allwissend, allgegenwärtig, ewig derselbe, der unbewegte Beweger (?), die reine Liebe (nur platonisch versteht sich), barmherzig, und dabei ist mein Anblick so schrecklich, dass ihn kein Irdischer ertragen kann. Ich sehe alles, erzählt ihr euren Kindern und wisst nicht, was ihr ihnen entgegnen sollt, wenn sie fragen: "Sieht mir der liebe Gott auch beim Bieseln zu?" Da sei ihr am Ende mit eurem Latein.

    Ich bin letztendlich auch für alles, was ihr so an Katastrophen auf Erden anrichtet, verantwortlich, denn ich bin die Ursache von allem, der Urknall, und auch das, was davor war. Und weil die ganze Welt eine einzige Ungerechtigkeit ist, die nicht zu meiner göttlichen Vollkommenheit passt, nennt ihr das meinen unergründlichen Ratschluss, den ein menschliches Hirn nicht fassen kann. Ich auch nicht, ehrlich gesagt.

    Aber mir reichts jetzt. Ich lasse mich nicht mehr missbrauchen als Kummerkasten und Wunderheiler und Sündenbock. Ich will nichts mehr mit euch zu tun haben. Ich will meine Ruhe und mich endlich um mein eigenes Wohlergehen kümmern. Löffelt die Suppen, die ihr euch selbst einbrockt, gefälligst auch selbst aus.

    Mein Gott, waren das noch herrliche Zeiten, als mich Abraham erfand, und mich, zugegebenermaßen, für seine Zwecke einspannte. Aber er behandelte mich respektvoll und ehrfürchtig. Ich hatte meinen Wohnsitz auf dem Sinai, und kein Mensch trat mir zu nahe. Niemand kannte meinen Namen. "Ich bin, der ich bin", ließ ich die Menschen wissen und sie waren's zufrieden. Furcht, sogenannte Gottesfurcht, hielt mein auserwähltes Volk bei der Stange, unbedingter Gehorsam war die erste Pflicht meiner Anhänger, nicht die Gottesliebe.

    Ich war ein kriegerischer Gott, unbarmherzig gegen meine Feinde und die, die mir nicht gehorchten. Wer meine Alleinherrschaft in Frage stellte wurde ausgerottet mit Stumpf und Stiel. Entweder von mir selbst durch Naturkatastrophen, oder von euch auf mein Geheiß. So erhält man seine Herrschaft aufrecht. Doch als mein Sohn zu euch kam, wurde alles anders. Jetzt werde ich von euch geliebt.

    Ihr baut mir prächtige Gotteshäuser, in denen ich dann in winzigen Tabernakeln, zu einer Oblate geschrumpft, hausen muß. Wo ist da die erforderliche Distanz? Saukalt ist es in euren Kirchen und ungemütlich. Wenn ich kein Geist wäre, wär ich schon längst erfroren oder müßte mich mit Rheumatismus, Gicht oder Blasenentzündung herumschlagen.

    Und überhaupt: Wie kommt ihr auf die Idee, dass das, was euch gefällt, auch mir gefallen muß?

    Ausgeschmückt habt ihr meine Wohnungen mit Sarkofagen, Totengerippen und -köpfen, abgehackten Fingern und ausgefallenen Zähnen, gefasst in Gold und Edelsteine. Und die prächtigen Gemälde mit Darstellungen grausamer Folterszenen lassen jedes Sadistenherz höher schlagen. Gevierteilt, aufgespießt, gehäutet, gegrillt, in Öl gesotten muß ein richtiger Martyrer sein, wenn er im Himmel ganz nah bei mir sitzen will.

    Am Schlimmsten aber ist, dass in jeder Kirche mein angeblicher Sohn am Kreuz hängt und ihr seinen Tod glorifiziert. Und das soll ich alles verlangt haben, als Sühne für die so genannte Erbsünde, von der ich selbst nicht weiß, worin die bestehen soll? Immerhin habe ich euch ja meinen eigenen allwissenden Geist eingehaucht, um ihm dann aber die Erkenntnis von Gut und Böse zu verbieten. Mir scheint, es war nicht mein Geist, sondern heiße Luft.

    Wisst ihr, wie es ist, wenn man ständig mit sich allein ist? Ich bin ja derart erhaben und heilig, dass es nichts und niemanden gibt, der auch nur annähernd auf gleicher Augenhöhe mit mir ist. Kein Schwein spielt in meiner Liga.

    Ich bin allgegenwärtig. Wohin ich mich auch wende, ich begegne immer nur mir selbst. Überall wo ich hinmöchte, bin ich schon, denn ich fülle ja als reiner Geist das ganze Universum aus.

    Ein Hirn zum Denken habe ich als unstoffliches Wesen natürlich nicht. Brauche ich auch nicht, denn alles, was es zu denken gäbe ist bereits gedacht, vor aller Zeit. Gut, dass ich über diesen Schwachsinn nicht nachdenken kann.

    Wie kommt ihr überhaupt auf die Idee, dass ihr mich verherrlichen müsst? Ich bin vollkommen. Meiner Herrlichkeit kann man kein Jota hinzufügen. Lest das mal selber in euren heiligen Büchern nach.

    Ich existiere nur, weil ich von euch erdacht wurde und immer weiter erdacht werde. Nicht ich habe euch nach meinem Ebenbild geschaffen. Ihr habt mich nach eurem Bild erschaffen. Ihr habt euren unfassbaren Gott auf eine fassbare Größe geschrumpft, damit er in eure Tabernakel und vor allem in eure Hirne passt.

    Aber ich mache da nicht mehr mit. Ich werde die Welt von mir, und vor allem mich von euch erlösen. Deshalb habe ich beschlossen, zum Buddhismus überzutreten. Ich hoffe, dass ich dort die höchste Stufe der Erleuchtung finde und dann ins Nirwana eingehen kann. Drum gehe hin und verkünde der Christenheit, was ich dir offenbart habe, damit ich mich endlich im Nichts auflösen kann."

    Ich kehre aus den höheren Welten in die irdische Wirklichkeit zurück, und überlege, was es der Menschheit nützen würde, IHN abzuschaffen.

    Wie würden Wirtschaft und Börse reagieren, wenn er nicht mehr wäre? Die Arbeitnehmer, wenn alle die bezahlten Feiertage wegfielen? Was würden die Krawatten-, Socken- Hemden- und Aftershavehersteller tun, wenn Weihnachten wegfiele? Die Parfüm-, Schmuck-, Spirituosen- und Kosmetikindustrie? Die Spielzeugindustrie, die die Hälfte ihres Umsatzes an Weihnachten macht, die Christbaumkerzen-, Christbaumständer-, Christbaumkugel- und Lamettahersteller, die Adventkalenderhersteller, die Stollen- und Plätzchenbäcker, die polnischen und ungarischen Weihnachtsgänse, die Schokoladenikolaus- und -osterhasenhersteller und, und, und? Die Wallfahrtsorte, an denen keine Wunder mehr geschehen; Lourdes, Konnersreuth, Altötting, Herrmannsried?

    Die Heiligenbildchen- und Beichtzetteldruckereien, Rosenkranz-, Weihwasserkessel- und -bemselhersteller, Opferstockräuber und Gotteslästerer, die Pilgerreisebüros, Beherbergungsbetriebe, Devotionalienhändler und Herrgottschnitzer. Was wird aus den Klöstern, den Nonnen und Mönchen?

    Ich denke an das Heer von arbeitslosen Priestern, Bischöfen und Theologen, die von Sozialhilfe leben, weil sie anderweitig nicht vermittelbar sind, an die Verarmung der bischöflichen Stühle, weil die Kirchensteuer und die staatlichen Milliarden wegfallen. Was wird aus dem Vatikanstaat, wenn von deutschen Christen kein Peterspfennig mehr abgeführt wird? Ich denke an Frau Merkel, die das Evangelium nicht mehr mit frohem Herzen im Bundestag verkünden, und die islamische Welt nicht mehr mit christlichen Werten bekämpfen kann.

    Die Kirche müsste ihre Besitztümer verscherbeln. Das heißt: Nein. Die Kirche ist schon längst ein Globalplayer, der kräftig mitmischt im Milliardenroulett der Rüstungs- und Finanzindustrie. Sie ist für eine gottlose Zukunft bestens aufgestellt. Und bis dahin ist locker ein neues Glaubenskonzept entwickelt. Denn, seien wir ehrlich. Wir Menschen brauchen das. Etwas, das uns niemand nehmen kann, weil es nicht beweisbar ist. Das man nur glauben kann. Und wir glauben doch so gerne!

    Oh, Gott! Du bist nicht der Ursprung unseres Universums. Du bist der Motor, der unsere Wirtschaft in Gang hält! Ich lasse dich nicht ins Nirwana entwischen. Ich werde dich nicht aus dem Bewusstsein der Menscheit tilgen. Du sollst weiter in den Gedanken der Menschen herumgeistern und für alles verantwortlich sein, was sie so anrichten.

    Niemandem werde ich von deiner Offenbarung erzählen. Niemandem.

  • Der 11. Dezember von Jeanette



    Der vergiftete Weihnachtskaffee


    Ein Fall für Lance Parton


    Die Begebenheit, von der ich meinen treuen Lesern an dieser Stelle berichten möchte, nahm ihren Anfang am Dienstag, den 11. Dezember des Jahres 1923. Mich erreichte ein Telegramm meines Freundes Lance Parton, seines Zeichens (dank meiner tatkräftigen Hilfe) erfolgreicher Privatdetektiv, in welchem er mich bat, ihn unverzüglich aufzusuchen. Da die Erfahrung mich gelehrt hatte, dass solch eine Nachricht einen interessanten Fall versprach, machte ich mich nach meiner Sprechstunde auf den Weg. Für den meines Erachtens unwahrscheinlichen Fall, dass ich einem Leser noch nicht vertraut bin: Mein Name ist Dr. Michael Davis und ich bin Arzt mit einer eigenen Praxis, die dank meiner herausragenden Fähigkeiten stets gut besucht ist.


    Parton empfing mich im Kaminzimmer, wie üblich in einen karierten Hausmantel gewandet. Ohne sich mit den seiner Meinung nach überflüssigen Höflichkeitsfloskeln aufzuhalten, hielt er mir einen Zettel hin. An dem Papier hatten sich Flammen gütlich getan, wie die angekohlten Stellen unschwer erkennen ließen. Nur zwei mit der Schreibmaschine getippte Zeilen vermochte ich noch zu lesen:


    h bitte Siue mir Blausäure zu besorgebn, damit ich mir den alten Geuizkragen endlich vomn hHals Ssvchaffen ka


    m Weihnachtsdinner werde ich seinenm Spzezialkaffee damit vergiften. Die Methode ist todsicher, denn sdieses starke gGesöff rührt außer ihm keiner a


    Auf meinen fragenden Blick hin geruhte sich Parton, mir die dazugehörige Geschichte zu erzählen.

    Wie üblich musste ich ihm jede Information einzeln aus der Nase ziehen. Um die Geduld meiner Leser, die mit dieser Eigenheit meines Freundes nicht so vertraut sind wie ich es bin, nicht überzustrapazieren, gebe ich hier eine Zusammenfassung.


    Das Stück Papier brachte meinem Freund ein aufgeregter Lord Donald Tremayne, der um sein Leben fürchtete. Dessen Haushälterin Mary Brown hatte es im Kamin vorgefunden, wo der Schreiber es allem Anschein nach verbrennen wollte. Eine Untersuchung der Kaffeedose ergab, dass die edle Spezialröstung, die der sparsame Lord ausschließlich an hohen Feiertagen zu genießen pflegte, mit Blausäure versetzt worden war. Parton hatte bereits Erkundigungen über seinen Klienten eingeholt. Dieser lebte mit der Gattin Lady Lucy und den beiden erwachsenen Kindern Connor und Laura in einer Wohnung hier in London.


    Der Krieg hatte dem Vermögen des Lords nicht gutgetan. Deshalb hatte er seinen Landsitz – seit Generationen im Familienbesitz – verkauft und alle Dienstboten entlassen. Nur die Haushälterin Mary, die schon seit 30 Jahren bei den Tremaynes in Lohn und Brot war, beschäftigte er weiter. Gerüchten zufolge achtete der Lord übertrieben auf seine Ausgaben, weil er unnötigerweise fürchtete, sein immer noch beträchtliches Vermögen könne nicht bis an sein Lebensende reichen. Deshalb hielt er seine Familie finanziell an der kurzen Leine. Die Tochter ging sogar außer Haus arbeiten, um über eigenes Geld zu verfügen. Das Testament des Lords bedachte drei Personen. Die Gattin und beide Kinder würden eine hohe Summe erben, die mit kluger Anlegetaktik ein bequemes Leben ermöglichen würde.


    Mein Freund hatte bereits einen Plan ersonnen, um dem Lord das Leben zu retten und den versuchten Mord aufzuklären. Dazu hatte er das vergiftete Kaffeepulver durch unbedenkliches ersetzt. Beim Weihnachtsdinner sollte der Lord nach dem Genuss seines Kaffees eine Vergiftung vortäuschen. Parton und ich würden zugegen sein, um die Reaktionen der Anwesenden zu beobachten. Mir kam zudem die gewichtige Aufgabe zu, den angeblichen Tod des Lords zweifelsfrei zu bestätigen.


    Am Weihnachtstag fanden Parton und ich uns pünktlich bei den Tremaynes ein. Der Lord, ein asketisch wirkender Mann in dunkelgrauem Tweed, stellte uns seine Familie vor, die von unserem Auftauchen sichtlich überrascht war. Lady Lucy war ebenso dürr wie ihr Gatte und trug gleichfalls Tweed, allerdings in grün. Mit gekräuselter Stirn registrierte sie den beträchtlichen Körperumfang meines Freundes. Connor hingegen begrüßte uns mit einem offenen Lächeln. Laura wirkte schüchtern, als sie uns Mark Baker vorstellte, der zu unserer Überraschung ebenfalls am Dinner teilnehmen würde. Die drei jungen Leute waren einfach, aber größtenteils tadellos gekleidet. Wie mein Freund Parton es mir immer predigte, nahm ich bewusst alle Auffälligkeiten wahr: Den fehlenden Manschettenknopf an Connors rechtem Arm, die an einem Streifen knapp über der Unterseite des Handgelenks abgewetzten Ärmel bei Laura und den hellen Fleck an der Außenseite von Marks linkem Schuh.


    Bei Tisch versank Parton bald in dumpfes Schweigen, weshalb ich mich umso mehr bemühte, eine höfliche Konversation am Laufen zu halten. Während ich mich an dem Garnelen-Cocktail gütlich tat, fragte mich Mark, ob ich Arzt sei. Ich fühlte mich geschmeichelt, dass man mir anmerkte, welch schwierigen und verantwortungsvollen Beruf ich ausübte. Parton, der gerade Laura angestarrt hatte, machte leider den Augenblick zunichte, indem er lakonisch anmerkte, dass manche Menschen ihre Tätigkeit eben nicht verleugnen könnten. Dabei schob er das Stethoskop zurück, das aus meiner Tasche ragte.


    Ich wandte mich Connor zu. Während ich die köstlich gefüllte Gans verspeiste, berichtete er mir mit leuchtenden Augen von seinem Plan, in die Karibik überzusiedeln. Dort wolle er endlich seiner Zukünftigen begegnen, nachdem sogar seine Schwester seit letzter Woche in festen Händen war.


    Noch bevor ich meine genialen Fragetechniken bei allen Anwesenden angewandt hatte, war es Zeit für den Weihnachtspudding, zu dem der Lord seinen verhängnisvollen Spezialkaffee zu konsumieren gedachte. Mit blumigen Beschreibungen bot er dieses Getränk an. Nur Parton und ich nahmen an. „Der gute alte englische Tee schmeckt viel besser als dieser unsäglich teure Kaffee“, missbilligte Lady Lucy unsere Wahl.


    Parton schlug vor, mit dem Nachtisch zu warten und zuvor in den Salon hinüberzugehen. Dank der Geistesgaben, mit denen der Herrgott mich so reichlich beschenkt hatte, begriff ich unverzüglich, dass er hoffte, der Mörder könne sich von dem unerwarteten Umstand, dass nicht nur der Lord von dem vergifteten Kaffee zu trinken gedachte, irritieren lassen. Deshalb unterstützte ich seinen Vorschlag. Der Lord stimmte ebenfalls zu, während die beiden Damen das Essen lieber fortsetzen wollten. Mark warf seiner Angebeteten einen entschuldigenden Blick zu. „Ich würde gerne mehr von Ihrer reizenden Wohnung kennenlernen, Lord Donald.“ Damit waren die Damen überstimmt und wir alle nahmen in bequemen Sesseln am Kamin Platz. Connor und Lady Lucy waren die Letzten, die den Raum betraten und mussten deshalb mit unkomfortabel aussehenden Stühlen Vorlieb nehmen.


    Während das Kaminfeuer prasselte und behagliche Wärme verbreitete, versuchte ich, mit Lady Lucy ins Gespräch zu kommen und lobte die äußerst behagliche Einrichtung des Salons. Die Dame hob die Augenbrauen und verschwand mit einem gemurmelten „Ich muss mir die Nase pudern“. Meine treuen Leser können sicherlich nachvollziehen, dass mich diese offensichtliche Missbilligung meiner Gesellschaft pikiert zurückließ. In der Hoffnung auf eine angenehmere Konversation wandte ich mich Laura zu, die jedoch kaum auf meine höflichen Bemerkungen einging und nichts von sich preisgab. Parton saß wieder einmal stumm im Sessel.


    Auf dem Rückweg ins Esszimmer trat Mary an uns heran. Die Haushälterin flüsterte Parton zu, dass Lady Lucy sie in der Küche aufgesucht habe, um ihr aufzutragen, nur für den Lord den Weihnachtskaffee zuzubereiten und den Gästen die gewöhnliche Röstung zu servieren.


    Fünf Minuten später war unser Plan vollendet. Der Lord hatte von seinem Weihnachtskaffee getrunken und war in einer relativ beeindruckenden schauspielerischen Darbietung, wie ich sie selbst nur minimal besser beherrscht hätte, zusammengebrochen. Parton und ich hatten den „Vergifteten“ in den Salon hinübergebracht und mein Freund hatte die anderen davon abgehalten, uns zu folgen.


    Endlich kam mein großer Auftritt: Ich betrat mit einem bedauernden Kopfschütteln das Esszimmer und setzte die Angehörigen darüber in Kenntnis, dass selbst meine überragenden medizinischen Kenntnisse in diesem Fall eines heimtückischen Giftmordes bedauerlicherweise an ihre Grenzen gestoßen seien. Lady Lucy starrte mich ungläubig an und brach zusammen. Ich kam sogleich meinen ärztlichen Pflichten nach und kümmerte mich um die Dame. „Klarer Fall von Schock“, teilte ich Parton mit, der wieder einmal tatenlos herumstand. Während ich die Lady behandelte, achtete ich auf die Reaktionen der anderen. Wie meine treuen Leser wissen, sind meine geistigen Kapazitäten so umfangreich, dass es mir problemlos gelingt, meine Aufmerksamkeit auf mehrere Angelegenheiten gleichzeitig zu richten. In diesem Fall fingen meine feinen Antennen auf, wie Mark erschrocken in den Raum fragte, ob das Essen nicht in Ordnung gewesen sei und weitere Vergiftungsopfer zu befürchten seien. Laura nahm diese Unsicherheit zum Anlass, sich noch enger an ihren Angebeteten zu kuscheln. Connor versuchte, in den Salon zu gelangen, wobei er jedoch an Parton scheiterte, der seine massige Gestalt keinen Zoll von der Tür zu entfernen bereit war.


    Dank der hervorragenden Betreuung durch mich saß Lady Lucy bald darauf zwar noch kreidebleich, aber annährend gefasst auf ihrem Stuhl. Ich flüsterte Parton zu: „Diese Inszenierung hat uns keinen Schritt weitergebracht. Wir wissen immer noch nicht, wer den Mordanschlag begangen hat.“ Mein Freund warf mir einen jener nachsichtigen Blicke zu, die er sich für die – nach meinem Geschmack zu häufigen – Gelegenheiten reserviert, zu denen er denkt, er wäre schlauer als ich. „Sie haben Recht damit, Davis, dass wir es nicht wissen. Ich weiß es allerdings.“ Mit diesen Worten, die ich einem gestandenen Mann gegenüber nicht im Mindesten als angemessen empfand, klopfte Parton an die Tür hinter sich.


    Keine drei Sekunden später stand der totgeglaubte Lord im Raum, was die Anwesenden noch deutlicher in Aufruhr versetzte als die Nachricht von seinem Tod. Insbesondere Lady Lucy bedurfte wieder meiner kompetenten ärztlichen Hilfe. Der Leser möge mir an dieser Stelle eine persönliche Bemerkung gestatten, auch wenn ich solche für gewöhnlich in meinen sachlichen Fallschilderungen zu vermeiden suche: Frauen sind äußerst komplizierte Geschöpfe. Ist der Gatte verstorben, brechen sie zusammen. Ist der Gatte am Leben, tun sie dasselbe. Ich muss zugeben, dass ich mich trotz meiner Intelligenz nicht in der Lage sehe, weibliche Reaktionen vorauszusehen und nachzuvollziehen.


    Aber genug der Abschweifung und zurück zu meinem Freund Parton, der sich daran machte, den Anwesenden die Sachlage zu erläutern, wobei ich mit gewichtiger Miene neben ihm stand. Schließlich hatte ich den Täter annährend durchschaut und hätte nur noch wenige Minuten der Ruhe benötigt, um meine Gedanken zu sortieren, bevor ich gleichfalls in der Lage gewesen wäre, die Lösung des Falles zu präsentieren. Sobald Parton seine Schilderungen beendet hatte, machte ich mich pflichtschuldigst auf den Weg zur nächsten Telefonzelle, um der Polizei von meinem jüngsten Erfolg auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung zu berichten.


    Ich hege keinerlei Zweifel, dass meine treuen Leser zwar einen unfehlbaren Geschmack besitzen, was die Wahl ihrer Lektüre betrifft, aber die erforderlichen Geistesgaben vermissen lassen, um diesen komplizierten Fall zu lösen. Deshalb gebe ich in meinem morgigen Beitrag sinngemäß wieder, was Parton an jenem Weihnachtsabend zu den Anwesenden bei Lord Donalds Dinner gesagt hat.

  • Der 12. Dezember von Jeanette



    Teil 2: Lance Partons Auflösung (Fortsetzung von gestern)


    Wir haben vier Verdächtige für den Mordanschlag auf Lord Donald Tremayne. Dies sind seine Gattin Lady Lacy, seine Kinder Connor und Laura sowie Mark Baker. Alle vier hätten ein Motiv, da sie im Falle seines Ablebens das Vermögen des Lords erben würden und somit dem finanziellen Korsett entkommen könnten, in das der geizige Mann sie gezwängt hatte. Mark würde zwar nicht selbst erben, aber von Lauras Anteil profitieren, sobald die beiden verheiratet sind, was nach meiner Einschätzung in Kürze der Fall sein wird.


    Die Haushälterin Mary Brown ist unverdächtig. Der Lord hat sie nicht in seinem Testament bedacht und außerdem hat sie den verräterischen Brief im Kamin entdeckt und ihrem Herrn übergeben. Ebenso können wir die Möglichkeit außer Acht lassen, dass der Lord selbst einen Anschlag auf sein Leben vorgetäuscht hat. Dadurch hätte er Misstrauen innerhalb seiner Familie geschürt und meines Erachtens keinen Vorteil gehabt, zumal er sich nicht bemüht hat, eine bestimmte Person zu belasten.


    Bei einem näheren Blick auf unsere Verdächtigen fällt auf, dass Mark Baker und Laura sich erst vorige Woche kennengelernt haben, wie wir durch Connors entsprechende Bemerkung wissen. Der Brief hat jedoch bereits vor zwei Wochen im Kamin gelegen. Außerdem hat uns Mark selbst – durch seinen Wunsch die Wohnung kennenzulernen – zu verstehen gegeben, dass er Lord Donalds Salon noch nie zuvor betreten hatte.


    Als Täterin ausschließen können wir auch Lady Lucy Tremayne. Diese steht ihrem Mann in Hinblick auf Geiz in nichts nach und hat deshalb die Haushälterin angewiesen, den ihrer Meinung nach zu teuren Weihnachtskaffee nur dem Lord, aber nicht seinen Gästen zu servieren. Hätte sie den Mord geplant, hätte sie mit Sicherheit einen unauffälligeren Weg gefunden, weitere Vergiftungsopfer zu verhindern. Zudem hat mein Freund Davis, in dessen ärztliche Fähigkeiten ich größtes Vertrauen habe, bestätigt, dass Lady Lucys Reaktion auf den Tod ihres Gatten keine Schauspielerei war.


    Kommen wir zu Laura Tremayne. Wir wissen, dass sie einer bezahlten Tätigkeit außer Haus nachgeht. Die streifenförmigen Abnutzungen an der Unterseite ihrer Ärmel weisen – wie schon der große Sherlock Holmes erkannt hat – darauf hin, dass sie regelmäßig an einer Schreibmaschine arbeitet und dabei die Arme an der Tischkante auflegt. Ich nehme an, dass sie dem häufig anzutreffenden Beruf einer Stenotypistin nachgeht. In jedem Fall müssen wir davon ausgehen, dass sie im Tippen versiert ist und nicht so viele Korrekturen benötigen würde, wie der Brief aus dem Kamin enthält.


    Übrig bleibt der Täter: Connor Tremayne. Er hat gemeinsam mit Lady Lucy zuletzt den Salon betreten. Vorher hatte er seine bekanntermaßen geizige Mutter auf den Gedanken gebracht, der Haushälterin die Anweisung den Weihnachtskaffee betreffend zu erteilen und ist so auf unauffällige Weise der Gefahr entgangen, versehentlich auch meinen Freund Davis und mich zu vergiften. Außerdem hat er sich als einziger nicht zu meinem Vorschlag geäußert, vor dem Weihnachtspudding den Salon aufzusuchen. Diese Pause ist ihm zweifellos entgegengekommen, weil sie ihm die Gelegenheit gegeben hat, Lady Lucy zu instruieren. Es ist ihm jedoch daran gelegen gewesen, nicht allzu eifrig zuzustimmen. Deshalb hat er abgewartet und zu seiner Zufriedenheit festgestellt, dass sich auch ohne eine Äußerung seinerseits die Mehrheit für den Salon ausgesprochen hat. Dem versuchten Mord an seinem Vater liegt – wie ich eingangs geschildert habe und wie im Brief erwähnt – ein finanzielles Motiv zu Grunde. Ich hege die starke Vermutung, dass Connor das Gefühl hatte, der geizige Lord würde seinem Lebensglück im Wege stehen, indem er ihm die ersehnte Überfahrt in die Karibik nicht gewährt.

  • Der 13. Dezember von Tante Li



    Maria durch ein‘ Dornwald ging


    Wie Dornen bohrten sich die Blicke der Nachbarn in ihre Haut nachdem sich herumgesprochen hatte, dass Maria schwanger sei. Sie konnte sich kaum mehr auf der Straße blicken lassen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, mit Steinen oder anderem beworfen zu werden. Ein Glück, dass ihr Vater zur Zeit verreist war. So blieb ihr noch eine kleine Galgenfrist bis sie aus dem Elternhaus geworfen wurde.


    Josef hatte schon zwei seiner Ehefrauen zu Grabe getragen. Seine Kinder hatten das Haus schon lange verlassen oder arbeiteten inzwischen selbständig. Also hatte er wenig Veranlassung noch einmal zu heiraten. Er kam ganz gut allein zurecht. Als er aber von Marias Notlage erfuhr, überlegte er, wie er der jungen Verwandten helfen könnte. Eigentlich gab es da nur eine Lösung. Alles andere hätte ihre Überlebensmöglichkeit verringert. So nahm er sie in sein Haus.


    Ausgerechnet kurz vor ihrer wahrscheinlichen Niederkunft kam der Befehl von Herodes sich in der Heimatstadt persönlich eintragen zu lassen. Josef konnte Maria nicht in der Obhut seiner Töchter und Schwiegertöchter zurücklassen, denn diese hassten das Mädchen, weil sie um ihr Erbe fürchteten, den guten Namen ihrer Familie beschmutzt sahen und weil sich diese schamlose Göre offensichtlich eine Freiheit genommen hatte, die ihnen auf ewig verwehrt wäre.


    In Bethlehem spitzte sich die Lage zu. Die Stadt war zum Platzen voll, da sich viele gern auf ihre Wurzeln beriefen, die bis zum verehrten König David zurückführten. In dem Meldeamt ging es hoch her und es wurde um Beweise und Ahnentafeln gestritten. Josef ging jeden Tag hin, um in seiner Angelegenheit weiter zu kommen.


    Währenddessen versuchte Maria eine einigermaßen ordentliche Unterkunft zu finden. Doch eine Hochschwangere wollte niemand aufnehmen. Die Wirtsleute schimpften die junge Frau, so dumm und verantwortungslos unterwegs zu sein, „anscheinend nur darauf aus, das Kind in der Stadt Davids zu bekommen, um hier registriert zu werden!“ Mutlos schleppte sich Maria von Tür zu Tür. Aber auch ihre Tränen verhalfen ihr zu keinem Quartier.


    Am Abend trafen sich beide erschöpft in dem kleinen Stall weit vor der Stadt, in dem sie ihren Packesel unterstellen durften. Maria sank sofort in das stachelige Stroh, das sie durch Decken und Kleidung hindurch piesackte. Josef bereitete missmutig Abendessen zu, das er ihr mühsam und widerwillig fütterte. Der Gedanke, dass er besser allein nach Nazareth zurückkehren würde, kam ihm nicht zum ersten Mal. Wenn Maria und das unerwünschte Kind bei der Geburt sterben würden, könnte vielleicht wieder Frieden in seine Familie einkehren.


    Dann setzten die Wehen ein. Maria quälte sich stundenlang. Josef saß in seinen Tallit gehüllt dabei und versuchte sich durch beten abzulenken. Bei einem besonders stechendem Schmerz glaubte Maria, ihr letztes Stündlein wäre gekommen. Deshalb wagte sie zu sagen: „Wenn es ein Junge wird, möchte ich gern, dass er Gabriel genannt wird.“


    Josef fuhr aus seiner Gebetsmeditation auf. „Was sagst du? Gabriel? Oh nein! Er wird bestimmt nicht den Namen deines Verführers tragen. Wenn der Junge lebt, werde ich ihn Joshua nennen, denn er soll sich nicht an dem Tanz um das Goldene Kalb beteiligen. Meine Söhne und Schwiegersöhne streiten sich ja jetzt schon um ihr Erbe. Sie warten damit noch nicht einmal bis zu meinem Tod. Diesen Knaben hier werde ich zur Selbstlosigkeit hin erziehen. Wenn es ein Mädchen wird, kann es von mir aus Miriam heißen. Vielleicht nützt es ihr etwas, das Lob Gottes zu singen.“


    Maria fühlte sich gescholten und weinte bis zur nächsten Wehe. Dann war ihr alles egal. Sie gebar das Kind und sank erschöpft in Bewusstlosigkeit. Josef hantierte ungeschickt mit dem glitschigen Körper, reinigte es notdürftig mit Stroh und wenig Wasser, nabelte es mit seinem Messer ab und wickelte es in die Tücher, die Maria im Gepäck hatte.


    Es war also ein Junge und schien leben zu wollen. Als Maria erwachte legte er ihr das Bündel in die Arme und betrachtete beide nachdenklich. Da hörte er von draußen von Ferne schöne Töne. Die Hirten auf dem Feld sangen ein Loblied auf die Schöpfung. Josef erkannte die Melodie und der Text rührte ihn eigentümlich und wandelte sein Gemüt in Güte und Fürsorge. Plötzlich war er froh, dass dieses Kind lebte. Er sah es als Wunder des Lebens und Gottesgeschenk. Tiefer Frieden senkte sich in sein Herz. Bis zum hintersten Winkel füllte sich sein Wesen mit Liebe für Maria und Joshua.


    Da haben die Dornen Rosen getragen . . .



    Friedvolle Weihnachten Euch allen!

  • Der 14. Dezember von Voltaire



    Mein Freund der Baum (frei nach dem Titel von Alexandra aus 1969)


    Der Auftrag war klar und unmissverständlich:

    Kaufe einen Weihnachtsbaum!

    Natürlich sollte der Baum nicht an Nadelschwindsucht leiden und noch mindestens 40 Nadeln sein eigen nennen – Nadeln die grün und fest waren, die nicht vegan oder unter einer anderen Krankheit litten.

    Das musste doch zu machen sein – dachte ich.


    Und nun war ich auf dem letzten Verkaufsplatz für Weihnachtsbäume angekommen den ich kannte. Auch er war irgendwie leer – genaugenommen, er war leer. Lediglich ein Baum (eigentlich mehr eine Baumruine) stand noch da. Würde ich mit der den Heimathafen anlaufen, dann war Kielholen noch das Mindeste was mir passieren konnte.


    Aber es sollte alles ganz anders kommen.


    Ich wollte gerade gehen als ich hinter mir ein „Ts.Ts.“ hört. Ich drehte mich um – aber da war niemand.

    „Ich meine dich, du Lappen.“ Die Tanne ruderte ein wenig mit ihren Zweigen. Es dauert schon ein wenig, bis man sich auf eine solche Situation eingestellt hat. Ich war weder besoffen noch hatte ich Drogen konsumiert.

    Was passierte hier gerade?

    Egal – es gibt eben auch Situationen da fragt man einfach zu viel.


    „Du kannst reden?“

    „Ja, du doch auch. Was soll also diese dumme Frage?“

    „Aber ein Tanne die redet. Irgendwie ziemlich abgefahren.“

    „Ich bin eine ganz normale Fichte aus der Gattung der Piceoideae. Alles klar? Eure Unwissenheit ist wirklich mehr als schlimm. Aber was will man von den Menschen schon erwarten? Eine Spezies, primitiv, dabei aber leider intelligent.

    Wir alle können reden, wir Pflanzen und die Tiere. Wieso auch nicht. Die Crux ist eben nur, dass die Menschen nicht mehr zuhören. Sind halt unsensibel.“


    Ich konnte der Fichte nur mit offenen Mund zuhören.


    „So, du Lappen – mach deinen Mund zu und lass uns losfahren. Übrigens kann ich dir ein kleines Weihnachtswunder garantieren.“


    Ich verstaute den Baum im Autor und wir fuhren los.

    Glücklicherweise war die Fahrt nur kurz.


    Zuhause angekommen stellte ich den Baum auf die Terrasse.

    „Vergiss das Wasser nicht!“


    Endlich stand der Baum im Wasser und erst jetzt sah ich die Veränderungen die mit passiert waren. Es hatten sich kleine Nadelbüschel gebildet, alle von einem mehr als gesunden Grün. Offenbar wuchs der Kollege.


    Am nächsten Tag traute ich meinen Augen nicht. Aus der Fichte, die so ausgesehen hatte als sei ihr der Geist „Vegan“ erschienen, war ein stattlicher Weihnachtsbaum geworden, die Nadeln sahen gesund und kräftig aus und das Grün des Baumes war mehr als beeindruckend.


    Die Weihnachtstage verliefen ruhig und friedlich. Der Baum trug nicht unerheblich zu dieser sehr intensiven Stimmung bei. Es schien so, als würde er bereits schon immer dazu gehört haben. In wenigen Tagen hatte er viele Wurzeln bekommen und konnte nun raus gepflanzt werden.

    Schnell hatten wir einen geeigneten Platz gefunden. Wobei „wir“ jetzt nicht so ganz richtig ist, er hatte sich diesen Platz ausgesucht.


    „Hast du die Drogen dabei,“ fragte der Baum.

    „Drogen?“

    „Ach ja, ihr Menschen nennt es Dünger. Wobei ich sagen muss, es gab mal eine Zeit, da brauchten wir keinen Dünger oder sonstiges Gedöns.“


    Der Baum wuchs sehr gut an. Jeden Tag unterhielten wir uns eine kleine Weile.

    Ein mal fragte ich ihn:

    „Kennst du eigentlich Greta?“

    „Du meinst diese kleine Schwedin?“

    „Ja, genau die.“

    „Greta ist schon ein ein Phänomen. Sie tut wenigsten etwas – auch wenn sie absolut keine Ahnung von den Dingen hat. Und niemand scheint es zu kümmern, das dieses Mädchen gnadenlos ausgenutzt wird, von einer egomanen Mutter und von Kräften denen die Umwelt scheissegal ist, denen es nur ums Geld geht.“


    Im Laufe der Zeit wurde dieser Baum zu einem wahren Freund. In vielen Dingen änderte ich meine Meinung radikal. Er mochte es, wenn ich ihm vorlas. Er konnte zwar lesen – aber das Umblättern bereitete ihm große Schwierigkeiten.


    So, hier beende ich dann meinen kleinen Bericht, der mit einem Weihnachtsbaumkauf begann und der irgendwo – keine Ahnung wo – enden wird.


    Ach ja, zwei Ratschläge wurden mir noch erteilt:

    Packt eure Smartphones mal einen Tage beiseite, geht in den Wald und hört dort den Tieren und den Pflanzen zu. Wenn ihr dazu bereit seid, werdet ihr sie auch hören.

    Und lest das Buch „Walden“ von Henry David Thoreau – ihr werdet es nicht bereuen.


    „So du Knalltüte – ich wünsche dir und allen Menschen die dir wichtig sind ein gesegnetes Weihnachtsfest und denkt immer daran, die Welt existiert auch außerhalb des Internets und des Smartphones. Und Greta ist kein Messias – nur ein junger Mensch der etwas tun wollte und will.“

  • Der 15. Dezember von Eskalina



    Familienidylle


    „Hallo meine Liebe, komm doch rein, es ist kalt draußen.“

    „Danke Mama, ich hänge meine Jacke nur schnell an die Garderobe. Oh, alle anderen sind auch schon da? Es ist so ruhig?““

    „Ja, die starren auf ihre Handys. Das Essen ist auch schon fertig. Setz dich doch, ich hole den Braten aus dem Ofen.“

    „Hi Leute, schön euch zu sehen!“

    „…“

    „Habe ich euch schon das Filmchen von Ira geschickt?“

    „Nein hast du nicht – Du hast schon zwei Tage nichts mehr in die Familien-Gruppe gestellt“

    „Gestern hat Papa sich den Brüller des Tages geleistet – auf seinem Phone war der Akku leer und es stand dort: „Nur Notrufe!“ – Also hat er den Notruf gewählt.“

    „Jaja, lacht nur über mich…“

    „Danke Mama, das Essen schmeckt echt gut.“

    „Gerne, das Rezept habe ich von Margarete, stell dir vor, die geht auf die 90 zu und macht alles mit ihrem Smartphone. Und das Rezept hat sie mir auch per Whatsapp geschickt.“

    „Ach, wo du das gerade sagst, schau mal, ich habe da einen echt witzigen kleinen Film zum Thema Essen bekommen.“

    „Nein, ist der aber drollig! Schick mir das mal, das kann ich an unsere Senioren-Gruppe schicken, oder sagt man bei euch jungen Leuten whatsappen?“

    „Nein Mama, ich glaube nicht. Mensch, ihr seid so ruhig, nun esst doch mal den Nachtisch. Sie hat sich so viel Mühe gegeben.“

    „Ist schon gut, ich weiß ja, dass es allen schmeckt – ups, Schatz, jetzt kleckere den Wein nicht auf mein Display!“

    „Du weißt doch, dass ich einen Tatterich habe! Leg doch dein Handy auf die andere Seite vom Teller!“

    „Wenn wir alle fertig sind, hinter euch stehen die Geschenke. Nehmt sie euch doch, die Namen stehen dran.“

    „Ja, danke Mama, ich mache noch schnell ein Foto und stelle es in die Gruppe. Frohe Weihnachten euch allen!“

    „Ja, dir auch, ich habe euch gerade eben einen richtig stimmungsvollen Weihnachtsfilm geschickt…“

    „Schade, den kann ich gar nicht öffnen…und dabei wäre ein bisschen Weihnachtsstimmung echt schön…“

  • Der 16. Dezember von Iszlá



    Warten auf ein Weihnachtswunder


    Gähnend legte Sanne ihr Buch zur Seite und warf einen Blick zur Uhr. Der 24. Dezember war beinahe vorbei.

    Nachdenklich betrachtete sie ihren tief schlafenden Ehemann, während sie zärtlich ihren Bauch streichelte. Noch wusste niemand von dem kleinen Menschlein, das in ihr heranwuchs, nicht einmal Matthias.


    Sanne beschloss, sich noch einen Kaffee zu holen. Sie hatte nicht vor, sich in den nächsten Stunden schlafen zu legen, und die Kanne, die Schwester Melanie ihr vor Stunden wortlos ins Zimmer gestellt hatte, war längst leer.

    Leise verließ Sanne das Zimmer und die Station und schlenderte zur Cafeteria. In den Gängen war es still; die meisten Patienten schliefen, und das Personal hatte etwas Zeit, liegen gebliebene Dinge zu erledigen.


    In der Cafeteria leuchteten elektrische Kerzen an einem künstlichen, dürftig geschmückten Weihnachtsbaum. Sanne vermied es, in seine Richtung zu sehen, während der Automat dünnen Kaffee in einen Plastikbecher rinnen ließ.

    Wieder fiel ihr der Sonntagmorgen vor etwas mehr als einer Woche ein. Es war noch dunkel, als sie erwachte und ein merkwürdiges Gefühl verspürte. Ein gutes Gefühl.

    Matthias war nach seiner Nachtschicht schon längst auf dem Heimweg, aber ihr blieb genug Zeit, ins Bad zu huschen und den Test durchzuführen. Zwei ewige Minuten rutschte sie auf dem Toilettendeckel hin und her, ehe sie endlich das Ergebnis bekam – positiv! Nach drei Jahren positiv! Sanne musste sich sehr beherrschen, um ihre Nachbarn nicht schon frühmorgens mit wildem Herumgehopse zu nerven, also bereitete sie ein Frühstück vor, das sich sehen lassen konnte.


    Matthias war zehn Minuten überfällig, zwanzig, dreißig. Nach vierzig Minuten wurde Sanne unruhig. Nach fünfzig Minuten versuchte sie, ihn telefonisch zu erreichen.

    Neunzig Minuten später hatte sie sämtliche Freunde in Alarmbereitschaft versetzt. Niemand hatte Matthias gesehen.

    Sie war bereits angezogen und auf dem Weg zu ihrem Auto, um seinen Arbeitsweg abzufahren, als ihr Telefon klingelte.

    „Hier ist Schwester Melanie vom Stadtklinikum. Spreche ich mit Sanne Kellermann?“

    Ihr Herz sackte eine Etage tiefer.

    „Können Sie sich bitte gleich auf den Weg zu uns machen? Es geht um Ihren Ehemann.“


    Schwester Melanie war es auch, die sie auf Station in Empfang nahm und zum behandelnden Arzt brachte. Von der ersten Sekunde an war er Sanne zutiefst unsympathisch.

    „Wir müssen die erste Nacht abwarten“, erklärte er, während er jeglichen Blickkontakt vermied und in seinen Papieren herumwühlte, die er wie einen Schutzschild vor seinem Brustkorb hielt.

    „Wie stehen seine Chancen?“, fragte Sanne mit zitternder Stimme.

    Er raschelte lauter mit seinen Papieren und blickte an ihr vorbei. „Morgen wissen wir mehr.“ Mit einem gemurmelten „Entschuldigung.“ ließ er sie im Gang stehen und verschwand.


    Nun, die erste Nacht hatte Matthias überstanden, die zweite, die dritte Nacht ... Doch er wachte nicht auf. Während die Menschen um sie herum ihre vorweihnachtliche Verzückung und irrsinnigen Konsum auslebten, während überall die üblichen Weihnachtslieder erschallten und sie zu verhöhnen schienen, verbrachte Sanne Tag um Tag an Matthias‘ Bett, in der leisen Hoffnung, endlich ein Lebenszeichen zu erhalten.


    Alles, was sie ertrug, waren Sachbücher über die Erbauung von Kathedralen und anderen monumentalen Bauwerken. Den Fernseher hatte sie nicht mehr eingeschaltet, seit zwei Tage nach Matthias‘ Unfall Sandra Bullock am Krankenbett ihres heimlichen Schwarms stand und dessen Familie vorlog, die Verlobte zu sein. Weihnachtsfilme waren einfach zu kitschig und völlig unrealistisch.


    Müde und wie von Gewichten beschwert tappte Sanne aus der Cafeteria, um wieder ihren Platz an Matthias‘ Seite einzunehmen. Sie hatte auf ein Weihnachtswunder gehofft. Kitschig und völlig unrealistisch.

    Auf der Treppe lief ihr Schwester Melanie entgegen.

    „Frau Kellermann? Frau Kellermann, kommen Sie schnell!“

    Sanne erstarrte.

    „Frau Kellermann, beeilen Sie sich ...“ Schwester Melanie griff nach ihrer Hand. „Ihr Ehemann – er ist aufgewacht!“

    Der Kaffee spritzte in alle Richtungen, als der Plastikbecher auf der Treppe landete. Doch Sanne war es egal; die Zeit dehnte sich zur Ewigkeit, ehe sie das Zimmer ihres Ehemanns erreichte. Im Türrahmen blieb sie stehen.

    „Matthias ...“

    Ihr Weihnachtswunder war eingetroffen.

  • Der 17. Dezember von Marlowe



    Fridolin und Kasimir


    Eines Abends erzählte mir Kasimir, mein Hauswichtel, von seinem Freund Fridolin, der jetzt in Bayern lebt.


    „Fridolin ist schon viel herumgekommen,“ sagte er. „Kein Wunder eigentlich, denn er ist ja genau zweihundertfünfzig Jahre älter als ich.“


    „So alt? Ja, aber Moment mal, wie alt bist Du denn dann, Kasimir?“

    „Ich bin erst hundertneunundzwanzig,“ erwiderte er. „Jetzt wunderst Du Dich bestimmt, weil Du doch erst gestern gesagt hast, wir Wichtel wären wie kleine unartige Kinder, die immer nur Unsinn im Kopf haben. Aber weißt Du, wir werden ja tausende Jahre alt, eigentlich bin ich also noch ein Kind, nur wir sind halt sehr schnell sehr vernünftig.“


    Ich musste lachen, vernünftig war etwas anderes. Kasimir hatte großen Spaß daran, mir einen Streich zu spielen. Aber auch die Nachbarn und vor allem deren Haustiere waren vor ihm nicht sicher. Besonders die Katzen hatten es ihm angetan, denn die hielten ihn wohl für eine Maus wenn sie ihn sahen und es machte ihm riesigen Spaß, auf ihre Rücken zu springen und mit ihnen durch die Gegend zu sausen.


    „Und wo war Dein Freund Fridolin schon überall,“ fragte ich. „Er war in Amerika 1776 , als die Unabhängigkeitserklärung unterschrieben wurde, er war mit Napoleon unterwegs und ganz wichtig, er war 1866 in Schweden bei Alfred Nobel, als der das Dynamit erfunden hat. Da wäre er beinahe in die Luft geflogen, oder sagen wir mal so, er war nicht ganz unschuldig daran, dass da einiges explodiert ist.“


    „So so,“ ich musste lachen. „Gut, dass er kein Dynamit ins Weihnachtsland gebracht hat, da wäre der Weihnachtsmann bestimmt sauer geworden.“


    Kasimir schüttelte den Kopf. „Nein, sauer wäre er deshalb nicht geworden. Wir haben im Weihnachtsland ein großes Gebäude, da sammelt der Weihnachtsmann alle Dinge, die wir Wichtel, aber auch die Trolle, die Feen und Elfen, von den Reisen mitbringen. Fridolin hat natürlich ein paar Stangen Dynamit mitgebracht.

    Das erste, was wir machen müssen ist natürlich einen Bericht zu schreiben, wenn wir zurück kommen. Fridolin hat die Stangen schon mal Zumbur, dem Cheftroll, gegeben und ihn gewarnt und gesagt, die Stangen wären sehr empfindlich.

    Aber Zumbur ist ein unfreundlicher Kerl, der uns Wichtel einfach nicht ernst nimmt und als Fridolin sich hinsetzte, um seinen Bericht zu schreiben, gab er sie Jimmo, seinem jüngsten Bruder. Der nahm sich heimlich sechs von den Stangen und ging damit zu seinen Freunden.

    Damals schnitzte der Weihnachtsmann aus großen Eisblöcken alle möglichen Raubtiere und stellte sie draußen aus. Zumbur und seine Freunde mussten diese Eistiere täglich funkelnd putzen und das war anstrengend, da glaubten sie, sie hätten eine Belohnung verdient und weil sie annahmen, die Stangen wären Zigarren, zündeten sie sofort an, mitten in einem Wolfsrudel aus Eis.

    Der Knall war ohrenbetäubend, überall wackelten die Wände und Regale stürzten um. Das komplette Chaos eben. Draußen waren die Eistiere nur noch Eisklumpen und dazwischen saßen sechs Trolle mit rauchenden Mündern und verkohlten Fell. Zum Glück vertragen die Trolle ja einiges, sie konnten ein paar Tage lang nichts hören wegen des Knalls aber das war es dann auch. Nur der Weihnachtsmann tobte durch die Hallen, er gab dem armen Fridolin die Schuld und so musste der auch gleich wieder los und das Weihnachtsland verlassen.“


    Ich schüttelte den Kopf. „Der arme Weihnachtsmann, mit seinen Eisschnitzereien hat er wohl kein Glück. Aber Fridolin konnte doch gar nichts dafür.“


    „Ja, das war dem Weihnachtsmann dann später auch klar, er hat sich auch entschuldigt, doch so geht es uns Wichteln immer, wir müssen ständig für die anderen herhalten. Aber Fridolin erzählte mir, er war gar nicht so unglücklich darüber, die Trolle hätten ihn sonst nur schikaniert und er ist gerne unterwegs.“


    „Weißt Du was, Kasimir, lade Deinen Freund Fridolin doch einmal ein, er soll uns hier besuchen, das wird bestimmt lustig.“


    Natürlich hat Kasimir den Fridolin eingeladen, es wurde wirklich sehr lustig, denn zwei Wichtel machen mehr Unsinn als nur einer, aber das ist eine andere Geschichte.

  • Der 18. Dezember von Paradise Lost



    Drei Nuss-Nougat-Gläser für Aschenbrödel


    Es war im Dezember und die Geschäfte waren gestopft voll mit Menschen die sich in bester vorweihnachtlicher Nächstenliebe und Herzlichkeit gegenseitig anmaulten, die Einkaufswägen in die Hacken rammten oder anderem besinnlichen Treiben nachgingen. Ich hatte zum Glück nur ein paar Kleinigkeiten gebraucht und sah zu, dass ich mich so schnell wie irgend möglich in den nächsten Gang Richtung Kassen einsortierte. Als ich schon auf der Zielgeraden war, schnitt mir plötzlich von links ein breiter Herr mit dicker Winterjacke und eigenartiger Mütze den Weg ab, so dass ich, aus dem Gleichgewicht gebracht, mit dem Ellbogen das Regal neben mir touchierte. Er stapfte einfach weiter ohne sich auch nur umzudrehen, geschweige denn zu entschuldigen, und verschwand wieder in der Menge. So ein Idiot. Ich betrachtete das Heruntergeworfene. Es waren drei kleine Gläschen mit einer Nuss-Nougat Creme, die ich schon seit meiner Kindheit gerne aß und die mir als Seelentrösterli schon den einen oder anderen guten Dienst geleistet hatte (sozusagen die frühen Bachblütenzeugsnotfallbonbons). Die Größe der Gläser war genau richtig für mobile Notfalleinsätze und so entschloss ich mich, sie noch mitzunehmen und in der Handtasche aufzubewahren. In meiner gegenwärtigen Situation war Seelennahrung leider öfter nötig, als mir lieb war.


    Die Situation in der Arbeit war, freundlich ausgedrückt, suboptimal. Der Stress fraß mich so langsam auf und es hatte keinen Sinn mehr, das unvermeidliche hinauszuzögern. Daher hatte ich begonnen nach Stellenangeboten Ausschau zu halten, die auf mein Profil passten und nicht so klangen, als wäre es dasselbe Elend, nur in grün (Stichwort „Stressresistenz erforderlich“). Ich hatte einige Bewerbungen geschrieben und ein paar Absagen erhalten, was prinzipiell in Ordnung war, da ich es ja noch nicht eilig hatte und auch nichts überstürzen wollte. Doch genau an jenem Abend sollte sich etwas ändern. Kaum war ich zu Hause angekommen, noch nicht mal aus der warmen Jacke geschlüpft, da klingelte das Telefon. Es war jemand von der Personalabteilung einer der vielversprechenderen Stellenanzeigen. Schon mal ein großer Pluspunkt, dass diese Firma noch selbst suchte und nicht wie viele andere inzwischen auf das bequeme Trittbrett „Zeitarbeitsfirma“ aufgesprungen war. Die Dame klang sehr freundlich, und lud mich für den nächsten Mittag zu einem Vorstellungsgespräch ein, was mir gut passte, da ich die nächsten beiden Tage frei hatte. Versöhnlich gestimmt und mit etwas mehr Hoffnung auf die Zukunft als sonst, ging ich an jenem Abend zu Bett.


    Als ich am nächsten Morgen erwachte und aus dem Fenster blickte, war ich nicht gerade begeistert. Aus dem siffigen, grauen Regenwetter war ein siffiges, graues Schneeregenmatschwetter geworden. Aber sei’s drum. Ich hatte mir am Vorabend bereits die Route zum Ort meines Vorstellungsgespräches herausgesucht der nicht eben in direkter Nähe war. Sollte ich den Job allerdings tatsächlich bekommen, würde ich viel von zu Hause arbeiten können, was somit kein Problem darstellte. Ich dachte kurz an mein nicht mehr ganz so junges Auto. Winterreifen waren bereits drauf, allerdings hatte es bei Kälte so seine Macken. Ich beschloss, so früh wie möglich loszufahren, um kein Risiko einzugehen. Die Kleidung für das Vorstellungsgespräch - elegante Stoffhose, Turtleneck-Puller und dazu passender Blazer - lag bzw. hing schon bereit. Ich atmete tief durch und beschloss, dass es ein guter Tag werden würde.


    Einige Zeit später auf der Landstraße sollte ich allerdings feststellen, dass mein Auto das leider doch anders sah. Es begann mit einem leisen Stottern, entwickelte sich zu einem asthmatisch-bronchialem Hustenanfall und endete mit dem Exitus. Langsam und leise rollte der Wagen aus, ich hatte noch Gelegenheit, ihn sicher auf den Seitenstreifen zu lenken, damit ich keine Gefahrenquelle darstellte, aber damit war der Leidensweg zu Ende. Zu sagen ich war enttäuscht, würde es nicht treffen. Zu sagen, ich war wütend, wäre untertrieben. Es spielte sich in etwa so ab: Ich stieg aus dem Wagen, führte einen kleinen Tanz auf, dem Rumpelstilzchen Respekt gezollt hätte, und der damit endete, dass ich mit dem Fuß kräftig gegen die Karre trat. Das war natürlich blöd, weil der Fuß danach sehr weh tat und das Auto es eh nicht mehr spürte, wie gesagt, es war dahingeschieden. Betrachtete die Radieschen von unten. Es war ein Ex-Auto.


    Ich raufte mir die Haare und überlegte, was ich als nächstes tun sollte. Während ich so meine Optionen abwog geschah etwas Seltsames. Aus einem nahe gelegenen kleinen Wäldchen kam etwas zu mir herübergeflogen. Ich rechnete mit einem Mäusebussard oder anderem häufigen Vogelgetier. Doch stattdessen war es eine Eule. Eine richtige, echte Eule, vielleicht 30cm hoch. Sie saß nun auf einem einzelnen Baum, der fast neben dem Auto stand und starrte zu mir herunter. Ich überinterpretiere hier nichts, sie starrte MICH an. Es setzte einer unschönen Situation eine seltsam-bizarre Krone auf und daher beschloss ich, erstmal eine kleine Auszeit zu nehmen. Ich fischte in meiner Handtasche nach einem der Nuss-Nougat-Notgläschen, und öffnete es, um mich wieder etwas zu erden. Beim Öffnen des Schraubverschlusses, gab es ein ungewöhnlich lautes „PLOPP“, was mich aber erstmal nicht weiter irritierte. Hatte bestimmt was mit den Temperaturen zu tun. Sie können sich vielleicht vorstellen, dass ich nicht schlecht geglotzt habe, als ich feststellte, dass das Glas fast leer war. Ich hatte bereits seltsame Fantasien von dreisten Nuss-Nougat-stehlenden Mäusen, die nach getaner Tat das Glas wieder zuschraubten (vielleicht geflohen aus einem Tierversuchslabor auf dem Weg die Weltherrschaft an sich zu reißen...) als ich aus dem Augenwinkel etwas weißes wahrnahm und herumfuhr.


    Bevor ich das nun Folgende schildere möchte ich, unter Eid, beschwören, weder Alkohol noch andere bewusstseinsverändernde Substanzen zu mir genommen zu haben.

    Vor mir stand mein Ex-Auto. Und wenn ich Ex-Auto sage, meine ich dies nun nicht mehr als eine Metapher, sondern ganz wirklich. Anstelle meiner alten Karre stand da ein Kutschschlitten, weiß mit schönen Verzierungen an den Seiten, dicken kuschelig aussehenden Wolldecken und, dem pièce de résistance, einem Apfelschimmel der angeschirrt davor stand und ungeduldig mit den Hufen im Matsch scharrte. Meine erste Reaktion war ein Laut irgendwo zwischen hysterischem Gekicher und Ersticken (ironischerweise nicht unähnlich dem was mein Auto vorhin noch von sich gegeben hatte). Dann ging ich vorsichtig um den Schlitten herum, nahm jedes Detail wahr und versuchte es irgendwie mit meiner Version der Realität in Einklang zu bringen. Ich war zum Scheitern verurteilt. Der Gedanke einer spontan ausgebrochenen Geisteskrankheit zog am Horizont auf. Da plötzlich segelte die Eule vom Baum herab, ganz nah an meinem Kopf vorbei und landete auf der Rückenlehne des Schlittens. Dann starrte sie mich unverwandt an. Ich starrte zurück, legte den Kopf etwas schief und runzelte die Stirn. Die Eule legte ebenfalls den Kopf schief und blinzelte mir zu.


    „Ich kann kein Pferd lenken.“, teilte ich der Eule mit, einfach um der Absurdität der Situation mit einer eigenen, aktiven Absurdität zu begegnen. Gab mir irgendwie das Gefühl, etwas mehr Kontrolle zu haben. Die Eule blinkerte wieder, diesmal erst mit dem linken, dann mit dem rechten Auge. Vielleicht ein Code? Als das Pferd mir schließlich noch einen unsanften Schubs mit dem Kopf in den Rücken gab, wagte ich es, mich in den kleinen offenen Schlitten zu setzen, mit großem Sicherheitsabstand meines Kopfes zur Eule (haben Sie mal gesehen was die für Klauen haben?), und die Decken um mich herum zu drapieren. Ich saß nun also da und wartete. „Und nun?“, fragte ich, als sich nichts weiter regte. Das schien das vereinbarte Startsignal zu sein, denn ganz offensichtlich herrschte eine Form stummer Kommunikation zwischen Eule und Pferd (Klinge ich verrückt? Ich klinge verrückt, nicht wahr? Aber ich bin nicht verrückt. Nein. Bin ich nicht.) und der Schimmel sprang mit einem Ruck vorwärts, was mich wiederum tatsächlich an mein altes Auto erinnerte. Er drehte nach rechts, bog auf einen Feldweg ein, auf dem etwas mehr Schnee als Matsch lag, und preschte fröhlich vorwärts. Die Eule neben mir blickte selbstzufrieden und, ja, ich glaube auch etwas überheblich auf mich herab. Ich ergab mich einfach in mein Schicksal. Wenn ich tatsächlich verrückt wurde, gab es sicher unangenehmere Formen.


    Das Pferd wusste scheinbar genau wo ich hinmusste und hatte ganz offenbar ein eingebautes Navigationssystem, dem ich allerdings nicht so ganz vertraute, da das aus meinem Auto nie so richtig funktioniert hatte. Aber zumindest die Himmelsrichtung stimmte und ich plante, sobald wir wieder in bewohntes Gebiet kamen, laut schreiend zu flüchten. Okay, vielleicht nicht schreiend, das mochte ein falsches Bild abgeben. Damit sollte es allerdings so schnell nichts werden, denn wir waren noch nicht lange mit unserer fröhlichen Schlittenfahrt unterwegs, da begann es wieder zu regnen und die Reste von Schnee lösten sich unter unseren Kufen auf. Das Pferd blieb schnaubend stehen und teilte der Eule vermutlich mit, dass es so nicht arbeiten könne. Ich sah die Eule erwartungsvoll an, sicher wusste sie was zu tun war (ich meine, wer sonst?!). Sie putzte kurz ihr Gefieder, blickte hoheitsvoll nach unten... und würgte einen Batzen Gewölle heraus. Ich verzog etwas angewidert das Gesicht, das Gewölle war genau auf meine Handtasche gefallen. Nun sah die Eule mich erwartungsvoll an. Ich sah zurück. Dann sah ich wieder auf die Handtasche. Und irgendwo in meinem Kopf begannen sich ein paar verrostete Rädchen zu drehen. Ich rekapitulierte, was genau geschehen war, bevor der Kutschschlitten erschien. „HAAA!“, traf mich die Erleuchtung mit Wucht, und ich nahm, nicht ganz ohne Genugtuung, zur Kenntnis, dass diesmal ich es war, die die Eule erschreckt hatte. „Es war das Schraubgläschen nicht wahr? In dem Gläschen ist irgendwas Magisches! Du selber kannst gar nicht zaubern, du alte Eule, nicht wahr? Es war das Gläschen!“. Sie starrte pikiert auf meinen anklagend auf sie gerichteten Zeigefinger und ich zog ihn schnell zurück, denn auch ihr Schnabel sah ziemlich scharf aus. „Okay, okay, wir können das ja jetzt testen. Es ist wie bei einem Versuch. Wir wiederholen die Versuchsanordnung und schauen, ob sich das Ergebnis reproduzieren lässt...“ Die Dinge so darzustellen half eindeutig, meine Fassung wieder zu erringen.


    Ich holte also das zweite der drei Gläschen heraus, öffnete es vorsichtig und wieder mit einem ungewöhnlich lautem „PLOPP“ und musste im nächsten Augenblick meine Augen vor der gleißenden Helligkeit um mich herum schützen. Die kargen Stoppelfelder, die eben noch eine Lehm-Matsch-Kollektion aus variierenden Brauntönen getragen hatten, waren nun mit einer makellosen Schneedecke der Marke „Frau Holle Deluxe“ überzogen. Es sah so unglaublich und wunderschön aus, dass ich mich nicht beherrschen konnte. „Wuuuhuuuuu!“ Ich musste einfach kurz den Schlitten verlassen, das Knistern des Schnees unter meinen Füßen hören und einen Schneeball formen. Dann fiel mir mein Termin wieder ein. Ich schaute zu der Eule, deren Blick ganz eindeutig „Bist du jetzt fertig?“ ausdrückte (inklusive genervtem Unterton). Ich stieg also schnell wieder ein, und unsere Reise durchs Winterwunderland konnte weitergehen. Mich erfüllte auf einmal eine innere Ruhe. Ich hatte mich mit der Gesamtsituation versöhnt, irgendwie würde schon alles gut werden, weil eine Eule und magische Nuss-Nougat-Gläser mit mir waren.


    Nach einiger Zeit, aber immerhin noch gerade rechtzeitig, erreichten wir schließlich den Ort, an dem mein Vorstellungsgespräch stattfinden sollte. Der Schnee hatte uns begleitet und dazu geführt, dass die Autos auf der Straße der wir zuletzt gefolgt waren langsam fahren mussten. So hatte uns wenigstens nicht ständig jemand angehupt, da wir noch zu den schnellsten Verkehrsteilnehmern gezählt hatten. Das Pferd hielt wie von Zauberhand an (natürlich tat es das) und ich stieg aus meinen behaglichen Decken nach draußen. Ich wandte mich zu Eule und Schimmel um. „Also, ich weiß zwar nicht, wie das alles möglich war und ich glaube, ich will es vielleicht auch gar nicht wissen, aber ... Danke. Wirklich.“ Die beiden nickten zufrieden, da ich doch noch so etwas wie Manieren bewiesen hatte. In dem Moment bekam ich die sprichwörtliche kalte Dusche von hinten. Ein LKW war auf der Straße vorbeigefahren auf dessen oberer Plane sich halbgeschmolzenes Eiswasser befunden hatte und der offenbar genau neben mir wegen eines anderen Wagens ausweichen und bremsen musste. In den Augen der Eule entdeckte ich ein Funkeln als sie mich wie den sprichwörtlichen begossenen Pudel dastehen sah. Ich wusste, was sie dachte. Ein Gläschen hatte ich noch. Aber jetzt musste es schnell gehen!


    Eiliges Herauskramen aus der Handtasche, schnell den Deckel abschrauben, PLOPP!, und ...

    Zugegeben. Ich hätte mit so etwas rechnen müssen. Der Schlitten war ja schon ein dezenter Hinweis gewesen. Anstatt eines Business-Ensembles, eines Hosenanzuges oder einfach meiner vorherigen Klamotten nur in trocken, trug ich nun - ein Ballkleid. Ein weißes Ballkleid mit gerüschtem Unterteil, fein besticktem Oberteil und Tülleinsätzen an den Ärmeln. Inklusive farblich abgestimmtem Mantelumhang. Dazu war meine Frisur ebenfalls magisch aufgebessert worden, mit geflochtenen aufgesteckten Zöpfen die ich in der Schaufensterscheibe gegenüber bewundern konnte. „DAS KANN DOCH NICHT EUER ERNST SEIN???!!!“

    Ich erntete verständnislose Blicke der beiden Helferlein. Ja, ich sah wirklich wunderschön darin aus, wie aus einem Märchen entstiegen. Aber wenn dieses Outfit eines eben NICHT war, dann für ein Vorstellungsgespräch geeignet. Ich nahm all meinen Mut zusammen, und versuchte es trotzdem. Natürlich, was sollte ich auch anderes tun, wo ich jetzt schon hier war?

    Kurz gefasst: Es war ein Desaster, ich erspare Ihnen die Details. Ich war enttäuscht und auf dem Weg nach draußen rechnete ich eigentlich schon fest damit, nun auch noch einen Strafzettel wegen Falschparkens am Schlitten zu finden. Sie denken jetzt vielleicht „Was für ein bescheuertes Ende für diese Geschichte!“, aber schenken Sie mir noch einen Moment ihrer kostbaren Zeit, noch ist es nicht ganz vorbei.


    Als ich wieder auf der Straße war, sah ich den Schlitten auf der anderen Straßenseite von einem großen Kreis von Kindern umringt, die alles mit großen Augen bestaunten. Ich näherte mich langsam, und als die Ersten mich bemerkten, wurden das Staunen, sowie die Augen, immer größer. Ein kleines Mädchen fragte schließlich fast atemlos „Bist du das Christkind?“. Bei näherer Betrachtung der Situation war diese Frage natürlich nachvollziehbar, aber das half nicht gegen die völlige Hilflosigkeit, die sich in mir breitmachte. „Nein, nein, das bin ich nicht, ich bin nur hier weil... ähm... ich suche...“ Es war schwer den Blicken aus diesen leuchtenden Augen standzuhalten und ich suchte verzweifelt nach einer Antwort, die sie nicht allzu sehr enttäuschen würde, als ich plötzlich eine Stimme hörte. „Sie ist hier, weil sie mir helfen soll.“ Ich drehte mich zu der Stimme um. Vor mir stand eine elegante, ältere Dame mit einem freundlichen Lächeln, aus deren Augen der Schalk blitzte. Ich hatte nicht mal den Hauch einer Ahnung, wer das sein konnte. „Oh! Frau Libuše!“ freuten sich die Kinder und machten ihr Platz. Sie wussten offenbar, um wen es sich handelte. „Entschuldigung, ich glaube hier liegt eine Verwechslung vor, ich war gerade bei der Firma dort drüben, um...“ „Oh nein, es ist schon alles in Ordnung so wie es ist, glauben Sie mir.“ Sie lächelte immer noch, und dann blinzelte sie ganz plötzlich der Eule und dem Pferd zu. „Es ist heutzutage nicht so einfach, das richtige Personal zu ausfindig zu machen...“ Die beiden nickten zurück.

    Und mir fiel das Kinn auf die Straße.


    Ich denke immer mit großer Freude zurück an unsere erste Begegnung, so unorthodox sie sich auch abgespielt hatte. Aber ab diesem Zeitpunkt hatte mein Leben sich zum Besseren gewendet und einen richtigen Sinn bekommen. Frau Libuše führt... nun, nennen wir es ein Unternehmen, das sich dem Wohl und Glück von Kindern verschrieben hat und ich bin stolz darauf, ein Teil davon zu sein und sie nach Kräften zu unterstützen.

    Und wenn es einmal so scheint, als gäbe es ein unlösbares Problem, dann geht Frau Libuše immer zu dem Haselnussstrauch der in ihrem Garten steht und in dem meist eine Eule sitzt.

    Von dort kommt sie dann immer mit einer zauberhaften Idee zurück...


    P.S. Falls Sie jetzt auf den Prinzen gewartet haben, lassen Sie mich Ihnen etwas sagen: Prinzen, die richtigen wahren Prinzen, so mit „glücklich bis an ihr Ende etc. etc.“, die gibt es nur im Märchen. Und das hier ist schließlich ein Tatsachenbericht.

  • Der 19. Dezember von Dieter Neumann



    Der Schafmann


    „Opa, dem Schaf fehlt ein Bein!“ Max hält mir das versehrte Tier vors Gesicht.

    „Hm. Liegt bestimmt im Karton. Wir kleben es einfach wieder dran.“

    „Das sieht man aber!“, stellt Pia fest, und das stimmt auch.

    „Ärgerlich. Ihr müsst beim Einpacken vorsichtiger sein. Die Figuren sind empfindlich, vor allem die dünnen Schafsbeine.“

    „Wir sind immer vorsichtig!“, erklären die beiden. „Und im Karton haben wir schon nachgeschaut, da ist nichts mehr drin, nur Heu!“

    Ich schütte das Heu aus, viel Heu. Ochs und Esel haben im letzten Jahr offensichtlich nur wenig Appetit gehabt. „Ihr habt recht, Kinder. Keine Körperteile drin. Wisst ihr was? Wir lehnen das arme Schaf einfach an den Zaun vor dem Stall, dann kann es nicht umfallen.“

    Pia ist nicht überzeugt. „Das ist jetzt das dritte Schaf mit Bein ab. Wir können die nicht alle gegen den Zaun lehnen. So viel Zaun hat die Krippe nicht!“

    „Außerdem: Wie sieht das denn aus?“, empört sich Max. „Voll unnatürlich! Schafe lehnen nicht an Zäunen, die stehen auf dem Deich!“

    Nun ja, sie sind eben Küstenkinder.

    „Wir haben letztes Jahr schon einen neuen Hund für den Schäfer gekauft!“, versuche ich es lahm.

    „Ja, aber der alte hatte auch nur noch zwei Beine“, erinnert mich Pia. „Da ging gar nichts mehr. Der ist ja immer umgefallen.“

    „Und Schäferhunde darf man auch nicht gegen einen Zaun lehnen“, belehrt mich Max. „Das ist noch voller unnatürlicher, total!“

    Ich resigniere. „Dann kaufen wir eben ein paar neue Schafe.“

    „Auch einen Schafmann, oder ist der zu teuer?“, will Max wissen.

    „Die heißen Widder“, berichtigt ihn seine Schwester. „Oder auch Schafbock.“ Pia stellt derlei Feinheiten gern heraus, sie ist eineinhalb Jahre älter als ihr Bruder.

    Die Krippe habe ich vor siebenunddreißig Jahren selbst gebaut. Aus Naturholz, das wir im Wald gesammelt hatten. Mit einem einjährigen Mädchen im Kindertragesack auf dem Rücken, das mir immer fröhlich glucksend seine Händchen auf den Hinterkopf klatschte, wenn ich mich nach einem Stück Holz oder Rinde bückte. Die Kleine ist inzwischen Pias und Max‘ Mutter, die Krippe haben wir schon mehrmals renoviert, und auch die Figuren haben nach und nach Zuwachs bekommen. Heute steht das alte Teil mit der mittlerweile energiesparenden Innenbeleuchtung (also total authentisch, was Bethlehem betrifft und so …) nicht mehr bei uns neben dem Weihnachtsbaum, sondern bei Pia und Max. Und – ich gebe es zu – das macht mir große Freude.

    Schon drei Tage später kommen die bestellten Schafe bei uns an. Man muss da sehr aufpassen, denn die Dinger sind teuer und es gibt sie in tausend verschiedenen Qualitäten, Materialen und Größen. Ich bin sehr penibel bei sowas und überprüfe meine Bestellungen mehrmals, bevor ich sie abschicke. Also, grundsätzlich …

    Ich setze mich ins Auto und fahre in den Nachbarort zu Pia und Max. Dort hocken wir uns vor die Krippe und ich öffne das Päckchen. Wir staunen! Sechs Schafe, natürlich inclusive Widder (man kann auch Schafbock dazu sagen), fördere ich zutage, allesamt wundervoll gearbeitet und von erstaunlicher Größe.

    „Boah! Der Schafmann kann dem Josef ja ins Gesicht spucken!“, freut sich Max.

    Pia ist entrüstet. Jegliche erzieherische Sprachkorrektur an ihrem Bruder außer Acht lassend, spricht sie die vernichtenden Worte: „Falscher Maßstab!“ und schaut mich kopfschüttelnd an.

    „Irgendwie wie Jurassic Park!“, begeistert sich Max und stellt das Lamm probeweise über den Schäferhund.

    Ich räuspere mich. „Da haben die wohl beim Versand einen Fehler gemacht.“

    „So wird´s wohl sein“, sagt Pia. Mehr nicht. Aber sie hat plötzlich dieses Grinsen im Gesicht, das kenne ich von ihrer Mutter.

    Nur gut, dass wir die Krippe diesmal so früh aufgebaut haben. Zeit genug, den unverzeihlichen Fehler der Krippenschafsfigurenherstellerfirma zu reklamieren. Oder einfach höflich den Austausch der Fehlbestellung zu erbitten. Ich entscheide mich für Letzteres, und wiederum drei Tage später herrscht auch maßstäblich wieder Frieden im energiesparend beleuchteten Stall. Weihnachten kann kommen.

    Nur Max findet, der riesige Schafmann sei doch voll cool gewesen.

  • Der 20. Dezember von Johanna



    Clarence & Antonius


    Antonius war verzweifelt. Nun versuchte er schon so lange, seine Flügel zu bekommen. Nur war es ihm noch nicht gelungen.

    Am liebsten hätte er sich einen Rat bei Clarence besorgt, doch hatte er es bisher nicht über sich gebracht, sein großes Vorbild, Clarence, anzusprechen.


    Wir erinnern uns an Clarence, der einst seine Flügel auf so wundersame Weise in einer Weihnachtsnacht erhielt, indem er einem Erdenbürger den Weg aus tiefster Verzweiflung zeigte und diesen wieder mit seiner Familie vereinte und ihm zeigte, ist das Leben nicht schön?.


    Nun ging Antonius in Gedanken versunken auf und ab – fliegen konnte er ja noch nicht – als er plötzlich über sich eine Stimme vernahm: „Was ist mit Dir? Du wirkst so traurig und abwesend, daß ich es gar nicht mit ansehen kann.“


    Erschrocken hob Antonius den Kopf und blickte direkt in die verschmitzten Augen von Clarence, der über ihm schwebte und mit den Flügeln schlug.

    Sprachlos vor Überraschung, sein großes Vorbild leibhaftig über sich zu sehen der ihn sogar mit seinem Namen ansprach, bekam er kein Wort heraus und starrte Clarence nur an.


    „Schon seit Tagen fällt mir auf, Antonius, wie traurig Du wirkst. Da dachte ich mir, ich spreche Dich einmal darauf an. Vielleicht magst Du mir ja erzählen, was Dich bedrückt?“ fragte Clarence.


    Leise erwiderte Antonius: „Ich wußte nicht, daß Du mich kennst, ja sogar meinen Namen weißt. Ich habe mich nie getraut, Dich anzusprechen.“


    „Du siehst, wir sind nicht nur auf Erden Engel, sondern auch hier im Himmel und kümmern uns umeinander.“, meinte Clarence daraufhin. „ Also, was bekümmert Dich so sehr? Sind es die Flügel, die Dir noch fehlen?“


    „Woher weißt Du“, stammelte Antonius erstaunt.

    „Weil mir das sehr bekannt vorkommt“, sagte Clarence lächelnd „Auch mir ging es dereinst wie Dir heute und ich wußte nicht weiter, bis ich meine große Chance bekam. Mir wurde damals Hilfe zuteil und ein Weg gezeigt. So will ich jetzt Dir helfen, daß Dein Wunsch sich erfüllen möge und Du Deinen Weg findest, Deine Flügel zu erhalten.“


    Clarence steuert auf eine riesige Plattform zu und deutete Antonius an, ihm zu folgen.

    „Hier“, meinte Clarence, „ist unsere Erdplattform. Von hier aus können wir die Geschehnisse auf der Erde genau verfolgen und sehen auch, wenn sich jemand in Not befindet.

    Paß auf, ich werde Dir jetzt etwas zeigen.“


    Auf einmal wirkte es als würden sie sich wie in Zeitlupe auf die Erde hinzubewegen, die Sicht wurde immer klarer, bis der Fokus auf einem kleinen Supermarkt stehenblieb. Dort stand eine junge Frau am schwarzen Brett und war gerade dabei, einen Zettel an die Pinnwand zu heften.


    „Das“, sagte Clarence „ist Anna. Sie wohnt alleine mit ihrem kleinen Sohn Max zusammen. Sie versucht sich und den Jungen so gut es geht, durchzubringen. Da Max bereits in der Grundschule ist, arbeitet sie halbtags in dem kleinen Supermarkt, den wir dort gerade sehen.

    Damit verdient sie zwar etwas, aber doch so wenig, daß es ihr immer schwerer fällt, Max und sich aus dieser Misere herauszubekommen.

    Dabei ist sie immer unglücklicher geworden und ist mittlerweile so verzweifelt, daß sie kaum noch weiter weiß.

    Sie würde viel lieber etwas anderes machen, bei dem sie mehr verdienen würde, dabei aber auch genügend Zeit für Max hat. Das ist im Moment unmöglich, da es in der Kleinstadt einfach nichts anderes gibt und sie nicht dort wegmöchte, um Max, der dort aufgewachsen ist, seine gewohnte Umgebung zu erhalten. Jetzt hat sie sich schweren Herzens entschlossen, ihr eigenes Schlafzimmer unter zu vermieten, um etwas Geld zu sparen.“


    Antonius, immer noch erstaunt über die Welt, die sich vor ihm eröffnete, sah die junge Frau an und las, was auf dem Zettel stand, den sie an der kleinen Wand befestigte.

    Kleines Zimmer zu vermieten.

    „Hier kommst Du ins Spiel, Antonius. Bevor sich jemand anderes auf die Annonce bewirbt, solltest Du es tun und dann versuchen, Anna und ihren Sohn wieder glücklich zu machen. Wie, das bleibt Dir überlassen, aber ich bin sicher, Du findest einen Weg.“ sagte Clarence geheimnisvoll.


    Es blitzte, Nebel kam auf und auf einmal fand sich Antonius auf der Erde wieder, vor einem kleinen hübschen Mietshaus stehend.

    Noch völlig überrumpelt, versucht er sich zu orientieren und suchte dann das Klingelschild nach dem Namen , den er auf dem Zettel von Anna gelesen hatte, ab.

    Fand ihn und drückt kurz entschlossen auf die Klingel.


    Als es summte, öffnete er die Tür und stieg in das erste Stockwerk hinauf, wo eine Tür geöffnet war und ein junge Frau – Anna, wie er gleich erkannte – im Türrahmen stand.


    „Guten Tag, gnädige Frau. Ich komme auf ihre Annonce hin. Das Zimmerchen würde ich gerne mieten. Ist es noch frei?“


    Anna sah den älteren Mann an und irgend etwas in ihr gab ihr das Gefühl, daß er ihr sympathisch sein würde. Trotz oder vielleicht auch wegen seiner altmodischen Anrede.

    Sie bat Antonius herein und sagte ihm, daß sie nur gemeinsam mit ihren Sohn entscheiden könne, ob sie ihn als Untermieter aufnehmen würden.

    Sie rief nach Max, der daraufhin aus seinem Zimmer kam.

    Antonius sah den Jungen an und wußte sofort, daß sie beide miteinander klar kommen würden. Auch bei Max zauberte sich ein Lächeln aufs Gesicht und er begrüßte Antonius.

    „Wohnst Du jetzt bei uns?“ fragte er gleich „und kannst Du genausogut Geschichten erzählen, wie Mama? Das ist wichtig, da ich Geschichten liebe.“

    „Ich werde mein Bestes geben“, meinte Antonius daraufhin mit einem Lächeln. „ Ein paar Geschichten weiß ich wohl zu erzählen, ob sie so gut wie die Deiner Mutter sind, das wird sich zeigen.“


    So zog Antonius in das kleine Zimmerchen ein. Die drei gewöhnten sich recht schnell aneinander und kamen gut miteinander aus.


    Jeden Abend, wenn Anna Max zu Bett brachte, erzählte sie ihrem Sohn eine Geschichte und mit der Zeit gewöhnte sich Antonius an, dieser ebenfalls zu lauschen und er bemerkte schnell, wie gut diese Geschichten waren.

    Besonders deutlich wurde es ihm nach einem Abend, als Anna ihn einmal bat, ob er nicht Max ins Bett bringen könne, weil sie abends lange arbeite müsse.

    Als er Max ins Bett brachte, forderte der sofort seine Geschichte. Antonius kramte in seinem Gedächtnis nach einer Geschichte und erzählte sie Max.

    Dieser meinte hinterher: „Duuu, Antonius, Deine Geschichte war schon schön, aber so gut, wie Mama kannst du nicht erzählen.“

    „Ich weiß“ seufzte Antonius daraufhin “aber Deine Mutter ist die beste Geschichtenerzählerin, die ich kenne. Da hat es selbst ein Engel schwer, mitzuhalten.“

    „Bist Du denn ein Engel?“ fragte Max neugierig.


    „Ja“, antwortete Antonius ihm „aber das muß unser Geheimnis bleiben. Ich bin hier auf die Erde gekommen um Euch zu helfen und erhoffe mir, dabei meine Flügel zu verdienen.

    Und gerade ist mir auch eine gute Idee gekommen.“

    Max hörte ernsthaft zu und meinte dann: „Das verraten wir aber nicht Mama. Erwachsene sind immer etwas komisch und glauben nicht an Engel. Auch wenn ich das nicht verstehen kann. Ist doch klar, daß es Engel gibt. Und jetzt wo Du da bist, wird sicher alles gut und Mama kann wieder mehr lachen.“

    Daraufhin drehte er sich um und schlief ein.


    Am nächsten Tag begann Antonius seinen Plan, der ihm bei Max gekommen war, in die Tat umzusetzen.

    Als er abends wieder der Geschichte zuhörte, die Anna ihrem Sohn erzählte, fragte er sie hinterher, ob er die schönen Geschichten, die sich ausdachte, aufschreiben dürfe, damit er sie sich immer wieder ansehen könne.

    „Ja, wenn Du meinst und Du sie gerne noch einmal lesen möchtest, ich habe nichts dagegen“, sagte Anna, erstaunt, daß außer ihrem Sohn noch jemand an ihren Geschichten Interesse hatte.



    Antonius begann sofort sämtliche Geschichten, die er bisher gehört hatte, aufzuschreiben. Und es waren viele. Jede Nacht erfand Anna eine neue Geschichte für ihren Sohn. Das war etwas, was sie wunderbar konnte. Die Geschichten flogen ihr einfach nur so zu und Max war ein begieriger Zuhörer, der nach immer mehr Geschichten verlangte.


    Mittlerweile war es Winter, die Weihnachtszeit rückte näher.

    Heiligabend nahte und man spürte die Aufregung. Max war ganz zappelig. Antonius tat schon seit Tagen geheimnisvoll, ließ niemanden in sein Zimmer.

    Anna bedauerte zwar, daß sie sich keinen Weihnachtsbaum kaufen konnte, dachte aber, daß das zu verschmerzen sei.

    Antonius meinte, er müsse noch einmal schnell etwas besorgen, sei aber in ein, zwei Stunden wieder da.

    Als er nach einiger Zeit wieder erschien, trug er einen kleinen Baum auf den Schultern. „Ooh, wie schön ist der, das wäre aber doch nicht nötig gewesen, daß Du uns einen Baum kaufst“ rief Anna entzückt und freute sich sichtlich.

    In einer stillen Minute fragte ihn Max, woher er denn den Baum hätte. „Ich bin in den Wald gegangen und hab ihn mit eigener Hand geschlagen. Das war bei uns so üblich. Da wäre niemand auf die Idee gekommen, Geld für einen Baum auszugeben und nicht selber zu schlagen.“ antwortete Antonius ihm.

    Max lachte: „Das behalten wir aber für uns, Mama könnte das bestimmt nicht verstehen.“


    Als es dunkelte und sie gemeinsam unter dem, mittlerweile schön geschmückten, Tannenbaum saßen, begannen sie, ihre Geschenke auszuwickeln.

    Da gab Antonius Anna ein dickes eingewickelte Päckchen in die Hand. Geheimnisvoll sagte er: „Das ist für Dich und gleichzeitig von Dir.“

    Überrascht wickelte Anna das Päckchen aus und hielt ein dickes, gedrucktes Buch in der Hand.

    Annas Geschichten stand auf dem Umschlag. Sie blätterte es durch und sah ihre eigenen Geschichten, gedruckt in dem wunderschön aufgemachten Buch.


    „Das ist noch nicht alles“, rief Antonius aufgeregt. „Kleinen Moment“, rief er und stürzte in sein Zimmer, aus dem er mit einem großen Karton wieder herauskam.

    „Die hier gehören auch noch dazu, das sind sogenannte Belegexemplare und hier ist der Vertrag mit dem Verlag, der von Deinem Buch so begeistert war, daß er es sofort drucken ließ und noch vor Weihnachten in die Läden brachte.“

    Anna sah ihn fassungslos an. „Meine Geschichten? Die haben das Interesse eines Verlages geweckt? Ich glaube es nicht. Ich hätte niemals gedacht, daß jemand außer Max und mir daran Interesse hätte.“


    „Oh doch“ sagte Antonius. „Du weißt gar, wie gut Deine Geschichten sind und welches Talent Du hast. Ich finde, es war an der Zeit, daß das mal jemand aufschreibt und die Welt dran teilhaben läßt.

    In Zukunft schreibst Du Deine Geschichten selber auf und schickst sie dem Verlag, der schon brennend darauf wartet, Naschschub zu bekommen. So kannst Du in Zukunft zu Hause schreiben und bist immer für Max da. Geld wird es Dir auch bringen, da Du an jedem verkauften Exemplar etwas verdienst. Und ich finde, nach all den Jahren, die Ihr so durchkommen mußtet, habt Ihr Euch das verdient.“

    Anna war immer noch fassungslos: „Das hast Du für mich getan? Du bist ja ein Engel.“, sagte sie mit leicht bebender Stimme

    Antonius und Max sahen sich nur an und grinsten breit.


    Einige Tage später meinte Antonius zu den beiden, er müsse nun weiter und werde ausziehen, das Zimmer werde jetzt ja auch für Anna benötigt, damit sie in Ruhe schreiben könne.


    Antonius vertraute Max an, daß er ein leichtes ziehen und jucken im Rücken spüre und es wirklich besser sei, wenn er jetzt wieder zurückkehre.

    „Das sind Deine Flügel, wetten?“ sagte Max. „Das wäre schön“, meinte Antonius darauf. „Euch beide, Dich und deine Mutter, werde ich nie vergessen.“

    „Wir Dich auch nicht“, sagte Max etwas traurig darüber, seinen Freund Antonius zu verlieren. Aber er wußte auch, wie wichtig dem Engel seine Flügel waren. So sagte er zu Antonius: „Ich werde immer in den Himmel gucken und sehen, ob ich Dich herumfliegen sehe.“

    „Und auch ich werde immer ein wachsames Auge auf Dich haben, Max“ , konnte Antonius noch sagen, als plötzlich ein kleines Glöckchenklingeln zu hören war, es blitzte, der Nebel aufkam und er sich wieder im Himmel befand.


    „Na“, sagte da eine Stimme neben ihm: „Wie ich sehe und es auch erwartet habe, warst Du erfolgreich.“

    „Clarence, ich kann fliegen“ jubelte Antonius mit einem Strahlen. „Ich danke Dir.“

    „Dank nicht mir, danke Dir selber“, meinte Clarence daraufhin.


    Und so flogen sie gemeinsam durch den Himmel und hielten Ausschau nach Menschen, denen sie helfen konnten und die an sie glaubten.