Am Wendepunkt: Die Chronik der Familie Cazalet, Band 4 von 5 - Elizabeth Jane Howard

  • Elizabeth Jane Howard: Am Wendepunkt: Die Chronik der Familie Cazalet, Band 4 von 5, OT: Casting Off, aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Ursula Wulfekamp und Karl-Heinz Ebnet, München 2020, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-14732-3, Klappenbroschur, 621 Seiten, Format: 13,7 x 4,2 x 21,1 cm, Buch: EUR 16,90 (D), EUR 17,40 (A), Kindle: EUR 14,99.


    „Ich meine, wir haben uns so darauf gefreut, dass der Krieg endlich vorbei ist und das Leben ganz anders und richtig toll wird, aber so ist es nicht, oder? Erst haben wir uns nach Frieden gesehnt, aber ich habe nicht den Eindruck, als wäre jetzt irgendjemand deswegen glücklicher.“ (Seite 85)


    Essex und London 1945 bis 1947: Die Cazalet-Saga ist ein fünfbändiger Gesellschaftsroman über das Leben der Briten vor, während und nach dem zweiten Weltkrieg. Sie ist aber auch ein bisschen wie eine langlebige Fernsehserie: Der treue Fan kennt den Hauptcast und die Nebenfiguren und leidet, hofft und fiebert mit ihnen mit. Ein Quereinsteiger braucht sich gar nicht erst einzubilden, zehn Jahre voller Liebesgeschichten, Geheimnisse und Schicksalsschläge aufholen zu können, indem er die anderthalbseitige Zusammenfassung „Was bisher geschah“ liest, ehe er sich ins Getümmel des vorliegenden vierten Bandes stürzt. Man sollte schon bei Band 1 anfangen.


    Atemberaubende Action ist in dieser Reihe nicht zu erwarten, sondern die präzise Beobachtung von Menschen, ihren Beziehungen und dem, was der Krieg aus ihnen gemacht hat.


    Was Krieg aus den Menschen macht

    Von den Cazalet-Geschwistern Hugh (50), Edward (49), Rachel (47) und Rupert (43) hat der Krieg den Jüngsten am härtesten getroffen. Fünf Jahre war seine Familie praktisch ohne Nachricht von ihm. Er galt als vermisst. Außer seiner Tochter Clary (21) hat kein Mensch an seine Rückkehr geglaubt. Warum Rupert sich nicht gemeldet hat, obwohl er die Gelegenheit dazu gehabt hätte und wieso sich mit seiner Rückkehr so lange Zeit gelassen hat, weiß nur sein Studienfreund Archie Lestrange (43) – und der Leser. Dieses Geheimnis steht zwischen Rupe und seiner Frau Zoe. Kein Wunder, dass er Schwierigkeiten hat, sich wieder in sein altes Leben einzufügen.



    Die viktorianischen Schleier der Diskretion

    An einer Stelle spricht die Autorin von den „viktorianischen Schleiern der Diskretion“ (Seite 279). Die wabern auch in der Nachkriegszeit noch heftig und verdecken so manches. Vor allem bei Edward Cazalet. Der hat mit seiner Frau Villy vier Kinder und mit seiner Geliebten Diana zwei. Die findet nun, dass es für sie an der Zeit ist, Mrs. Cazalet zu werden. Edward soll sich scheiden lassen. Das ist ihm lästig, und so laviert er sich mit tausend faulen Ausreden zwischen den beiden Frauen durch.


    In diesem Band hat uns die Autorin so weit, dass wir Edward bemitleiden, während uns seine Frau Villy, der bislang unsere Solidarität gegolten hat, mit ihrem Selbstmitleid und ihrer Passivität auf die Nerven geht. Es wird klar, dass es ihr gar nicht um Edward geht, sondern dass sie nur ihren Status als Ehefrau erhalten will. Das kostet sie einige Sympathiepunkte. Ja, manchmal wechselt man in dieser Reihe als Leser*in die Seiten.


    Die Kinder suchen ihren Platz im Leben

    Die erwachsenen Kinder der Cazalets suchen mehr oder weniger erfolgreich ihren Weg im Leben. (Welches Kind zu welchem Paar gehört, muss man auch als Kenner*in der Saga immer wieder im Stammbaum nachschlagen. Die Cousins und Cousinen sind wie Geschwister aufgewachsen, da verliert man leicht den Überblick.)


    Die ängstliche Polly (21) ist zu einer wunderschönen jungen Frau herangewachsen, die erfolgreich für ein Londoner Innenarchitekturbüro arbeitet. Dieser Handlungsstrang beschert und so herrliche Nebenfiguren wie den ebenso bescheidenen wie unbeholfenen Lord Fakenham. Humor hat er: „Eigentlich sehe ich eher aus wie ein Frosch, was nicht so toll ist, wenn man nicht gerade einer ist.“ (Seite 360)



    Louise, 24, gescheitert als Schauspielerin, Ehefrau und Mutter, ist weit davon entfernt, ihren Platz im Leben gefunden zu haben. Sie weiß nur, dass sie die Ehe mit dem Porträtmaler Michael Hadleigh schnellstmöglich beenden muss. Aber was dann? Von ihren Eltern ist keine Hilfe zu erwarten.


    Glücksgriffe und Fehlgriffe

    Gerade hatten wir uns daran gewöhnt, Schwager Raymond nicht mehr nur als unfähigen Gatten, Vater und Geschäftsmann wahrzunehmen. Wir haben seine Beweggründe zu verstehen und ihn als fürsorglichen Freund zu schätzen gelernt. Und nun vermasselt er wieder alles! Einmal ein Depp, immer ein Depp. Es ist einfach so!


    Wie geht’s weiter?

    Um die, die jetzt glücklich verheiratet sind und/oder beruflich ihren Weg gehen, müssen wir uns keine Sorgen machen. Aber es sind noch Fragen offen und ein paar Suchende unterwegs:

    • Was wird aus Louise, sobald sie geschieden ist? Unterhaltszahlungen scheint es damals noch nicht gegeben zu haben.
    • Bleibt Villy so wehleidig und verbittert, oder schafft sie es, ihrem Leben eine positive Wendung zu geben?
    • Kriegt Edward, die verlogene feige Socke, endlich mal die Quittung für sein Tun?
    • Wie sieht eigentlich Archie Lestranges berufliche Zukunft aus? Keiner seiner Pläne erscheint tragfähig.
    • Wie geht’s mit Rupert und Zoe weiter? Kann Rupe ein wichtiges Kapitel seines Lebens einfach so aus seinem Gedächtnis streichen?
    • Hat das Familienunternehmen noch Bestand? Und Ist Homeplace, der Familiensitz in Essex, finanziell zu halten?
    • War’s das jetzt mit dem legendären Familienzusammenhalt der Cazalets?


    Der Frieden löst nicht alle Probleme

    Nein, mit dem Frieden sind nicht alle Probleme gelöst. Die, die vorher schon bestanden haben oder durch den Krieg überhaupt erst entstanden sind, verschwinden nicht von allein. Um die werden sich die Cazalets schon aktiv kümmern müssen. Und sollten sie erwarten, dass jetzt alles wieder so wird wie früher, dann täuschen sie sich. Die Gesellschaft hat sich verändert und sie werden sich anpassen müssen.


    Ich finde es immer noch nervig, wenn man zu Beginn einer Szene erst eine halbe Seite lang raten muss, wer hier gerade mit wem spricht, aber an dieses Stilmittel der Autorin gewöhnt man sich mit der Zeit.


    Das Übersetzerteam hat sich auch in diesem Band die Mühe gemacht, im Anhang einzelne Begriffe zu kommentieren und näher zu erläutern. Nur erfährt man während des Lesens nichts davon, weil diese Textstellen nicht markiert sind. Woher soll man denn als Leser*in wissen, dass und was hinten erklärt wird? Aber das ist schon seit dem ersten Band so, das wird sich auch beim fünften und letzten nicht mehr ändern.


    Ich hoffe, dass sich im letzten Band die offenen Fragen klären. Vor allem Louises Schicksal! Diese Frau muss doch auch mal ein bisschen Glück im Leben haben!


    Die Autorin

    Elizabeth Jane Howard wurde am 26. März 1923 in London geboren. Sie arbeitete als Schauspielerin und Modell, bevor sie 1950 ihren ersten Roman, ›The Beautiful Visit‹, schrieb, für den sie 1951 mit dem John Llewellyn Rhys Prize ausgezeichnet wurde. Es folgten weitere Romane, eine Sammlung von Kurzgeschichten und Slipstream (2002), ihre Autobiographie. Bis 1983 war sie verheiratet mit Kingsley Amis und damit die Stiefmutter von Martin Amis, der es ihr, wie er sagt, verdankt, dass er zum Schriftsteller wurde. Im Jahr 2000 verlieh Queen Elizabeth II. ihr den Verdienstorden Commander of the British Empire. Am 2. Januar 2014 verstarb Howard mit 90 Jahren in ihrem Haus in Suffolk.


    Die Übersetzer

    Karl-Heinz Ebnet, geboren 1962, studierte Amerikanistik und Germanistik. Er arbeitet seit gut fünfundzwanzig Jahren als literarischer Übersetzer, u. a. der Werke von Reginald Hill, Mary Higgins Clark, Tobias Hill und Ayad Akhtar. Er lebt in Berlin.


    Ursula Wulfekamp, 1955 im südenglischen Salisbury geboren, wuchs in England und Deutschland auf und studierte Germanistik und Anglistik in Regensburg und Tübingen. Neben Tätigkeiten als Redakteurin und Lektorin in London und München übersetzt sie seit über dreißig Jahren Belletristik und kunsthistorische Sachbücher aus dem Englischen. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen gehören u.a. Elizabeth Jane Howard, Tracy Chevalier, Agatha Christie, Maeve Binchy, Annie Leibovitz und Joanne Harris. Ursula Wulfekamp lebt in Prien am Chiemsee.


    ASIN/ISBN: 3423147326

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner