Der Büchereulen-Adventskalender 2022

  • Der 1. Dezember von Breumel



    Der letzte Weihnachtsbaum


    Es war Heiligabend, kurz von Ladenschluss. Grauer Himmel, leichter Schneeregen und die dürftige Adventsbeleuchtung ließen keine rechte Weihnachtsstimmung aufkommen. Gelangweilt lehnte der Christbaumverkäufer an seiner Umzäunung.


    "Entschuldigung, haben Sie noch einen kleinen Baum?" erklang es da plötzlich zweistimmig. Verwirrt drehte er sich um. Eine junge Frau, vielleicht Mitte 20, und ein kaum älterer Mann blickten ihn erwartungsvoll an.

    "Äh - Moment, da muss ich erst schauen." Er lief in die hintere Ecke seines Standes und kam mit einem etwas mickrig aussehenden, etwa 1,10m hohen Tannenbaum zurück.

    "Das ist der letzte. Aber große Bäume hätte ich noch mehr, auch dichtere."


    "Ich nehme ihn!" Wieder riefen beide gleichzeitig. Dann funkelten sie sich an. Dem Verkäufer wurde schlagartig bewusst, dass es sich bei ihnen nicht um ein Paar handelte. Nein, sie waren eher so etwas wie Konkurrenz.


    "Ich brauche diesen Baum! Einen größeren bekomme ich nicht in mein Wohnzimmer!", erklärte die Frau.

    "Ich auch nicht! Ich habe einfach nicht mehr Platz!" Auch der junge Mann wollte den Baum.

    "Einen größeren bekomme ich gar nicht in mein Auto!"

    "Und? Ich bin mit dem Fahrrad hier. Auf den Anhänger passt nur so ein kleiner Baum."

    "Können sie nicht woanders einen holen? Ich habe es eilig."

    "Mit ihrem Auto können sie das viel besser. Und die Stände schließen jetzt alle."

    "Meine Mutter wird todtraurig sein, wenn ich keinen Baum habe. Wir feiern dieses Jahr bei mir."

    "Meine Nichten und Neffen werden genauso enttäuscht sein, wenn sie zu mir kommen und die Geschenke nicht unterm Baum liegen."

    "Meine Mutter ist schon 80 – wer weiß, wie viele Weihnachten wir noch zusammen feiern können!"

    "Meine Verwandtschaft kommt extra aus Hamburg angereist!"


    "Werfen sie doch eine Münze.", mischte sich der Verkäufer ein. "Sie waren ja gleichzeitig hier, da hat jeder das gleiche Recht auf den Baum."

    Man sah den Streithähnen an, dass ihnen der Vorschlag nicht gefiel, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig. Eine Einigung war jedenfalls nicht in Sicht.

    "Kopf", rief die Frau.

    "Dann hab ich wohl Zahl."

    Der Händler nahm eine Münze aus der Kasse, warf sie in die Luft und schlug sie auf seinen Handrücken.

    Als er die Hand herunternahm, lag Kopf oben. Befriedigt nahm die Frau den Baum entgegen, ließ ihn in ein Netz einwickeln, zahlte und zog mit ihrer Beute von dannen.


    ---


    Um 19 Uhr klingelte die Türglocke des kleinen Chinaimbiss. Der Koch sah auf und strahlte den Stammkunden an.

    "Frohe Weihnachten! Ich hatte telefonisch bestellt."

    "Wan Tan Suppe, Saté-Spieße mit gebratenem Reis und gebackene Banane mit Honig, richtig? Ist sofort fertig!"

    Der Kunde nickte und trat neben die junge Frau, die gerade zahlte.

    "Und bei ihnen Mini-Frühlingsröllchen, gebratene Nudeln mit Garnelen und gebackene Ananas. Das macht dann 18,90€."

    "Stimmt so", sagte sie und reichte einen 20€ Schein über die Theke, während sie ihre Bestellung in Empfang nahm.


    Als sie sich umdrehte, stockte sie. Und auch der junge Mann zuckte zusammen und starrte sie an.

    Mit sarkastischem Unterton sagte er: "Das sieht aber nicht nach Festessen mit Mutti unter dem Weihnachtsbaum aus!"

    "Und? Ihre Bestellung klingt auch nicht nach Familienfeier!"

    Sie funkelten sich noch einen Moment an, dann wurden beide rot.


    Stockend sagte die junge Frau: "Es tut mir leid, aber… Dieses Jahr ist mein erstes Weihnachtsfest ohne Familie. Ich habe sonst mit meiner Schwester gefeiert, aber die ist mit ihrem Freund nach Ägypten geflogen. Und meine Eltern leben nicht mehr. Da wollte ich wenigstens einen Weihnachtsbaum haben."

    Auch der junge Mann wirkte verlegen. "Ich war auch nicht ehrlich. Meine Verwandtschaft lebt in Hamburg, und weil ich morgen arbeiten muss, kann ich nicht hinfahren. Die kinderlosen Singles müssen immer die Feiertagsschichten übernehmen. Ich dachte, mit einem Weihnachtsbaum wäre es nicht ganz so trostlos…"


    Betretenes Schweigen. Dann wurde die junge Frau noch ein weniger röter.

    "Einen Weihnachtsbaum habe ich ja jetzt… Hätten sie vielleicht Lust, ihr Festtagsmenu bei mir zu essen und gemeinsam einen Weihnachtsfilm zu schauen?"

    Er strahlte sie an. "Meinen sie das ernst?" Sie nickte. "Das klingt wirklich super nett! Wenn es keine Umstände macht? Ich bin übrigens Sebastian."

    "Und ich bin Hannah. Umstände macht es nicht – ich muss ja nicht kochen…"

    Jetzt lachten beide. Und auf einmal fühlte es sich doch wie Weihnachten an.


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    Wenn jemand in den folgenden Jahren fragte, warum es bei Hannah und Sebastian an Heiligabend immer Chinesisch gab, oder warum sie nur so einen kleinen Weihnachtsbaum hatten, erzählten sie ihm diese Geschichte.


    Frohe Weihnachten!

  • Der 2. Dezember von Jeanette



    Zoom, die gute Weihnachtsfee

    Freitagnachmittag, 2. Dezember

    Zeit, Feierabend zu machen, beschließe ich mit einem Blick auf die Uhr. Schließlich möchte ich noch Plätzchen backen, damit meine Familie und ich an diesem Wochenende gemütlich den zweiten Advent feiern können. Doch, Halt! Auf meinem Dienstlaptop leuchtet eine Mitteilung auf.


    Gute Weihnachtsfee ruft an, steht dort. Was soll das denn? Ein Weihnachtsgruß aus der Personalabteilung? So kurz vor dem Wochenende? Verwundert nehme ich den Videoanruf an.


    Auf dem Bildschirm erscheint eine zierliche … ja, was eigentlich … eine Frau? Ich nehme an, dass es eine Frau ist, auch wenn sie merkwürdig aussieht. Unter ihren Kopfhörern lugen spitze Ohren hervor. Alles an ihr wirkt spitz, die Nase, das Kinn. Ein paar von meinen Weihnachtsplätzchen würden ihrer Figur guttun, schießt es mir durch den Kopf.


    „Hallo, ich bin die gute Weihnachtsfee. Du darfst mir drei Fragen zu deiner persönlichen Zukunft stellen, die ich dir wahrheitsgemäß beantworten werde. Wähle weise!“, leiert das Abbild dieser … dieser Person mit Fistelstimme herunter.


    Vor Überraschung bringe ich nur ein „Äh …“ heraus. Ich habe erstmal tausend Fragen zu dieser bizarren Situation, aber ich traue mich nicht, eine davon zu stellen. Ich habe nämlich schon oft in Büchern gelesen, wie das läuft: Eine unbedachte Frage gestellt, schon ist eine der drei verbraucht. Oder gilt das nur für Wünsche? Überhaupt, sollte diese Weihnachtsfee nicht eigentlich Wünsche erfüllen? Vor lauter Verwunderung bleibe ich stumm, aber die Fee scheint zu ahnen – oder gar zu wissen –, was in meinem Kopf vorgeht.


    „Ich beantworte Fragen, weil die Wunscherfüllung via Zoom oft nicht reibungslos funktioniert. Da ist es 2020 zu bedauerlichen Unfällen gekommen. Der arme Mann aus Hamburg hat immer noch mit der Schweinenase zu kämpfen, die ich versehentlich ihm statt seiner Schwiegermutter verpasst habe … Jedenfalls sind wir vom Weihnachtswunschverein zur Coronazeit wie alle Welt auf Videokonferenzen umgestiegen, weil die Menschen bei unserem Anblick immer panisch zurückgewichen sind und ihre Maske aufgesetzt haben. Einer hat mir sogar Desinfektionsmittel mitten ins Gesicht gesprüht!“


    Bei den letzten Worten schraubt sich ihre Stimme in eine unangenehm hohe Tonlage.


    „Entschuldigung, ich schweife ab. Jedenfalls behalten wir die Videokonferenzen jetzt bei. Das ist praktischer, als vom Nordpol aus die ganze Welt bereisen zu müssen, um die Leute im verwunschenen Winterwald zu überraschen. Außerdem war das sowieso immer schwierig, weil kaum jemand in den Wald geht. Der Schnee hat auch oft gefehlt und auf der Südhalbkugel mussten wir darauf eh fast überall verzichten. Diese ständigen Schneezauber kosten wahnsinnig viel Kraft und zum Dank beschweren sich die Leute über die Kälte … Oh, ich schweife schon wieder ab. Tut mir leid, wenn man den ganzen Tag im Homeoffice sitzt, wird man eben redselig, sobald man jemanden sieht. Jetzt aber zum Geschäftlichen: deine drei Fragen zu deiner persönlichen Zukunft, bitte.“


    „Äh“, gebe ich wenig intelligent von mir. Ich fühle mich gerade alles andere als redselig. Was möchte ich denn gerne erfahren? Meinen Todestag? Zu erwartende Ehemänner? Kinder? Krankheiten? Katastrophen? Hm, so genau will ich lieber nicht wissen, was auf mich zukommt. Ich lasse den Blick durch mein Arbeitszimmer schweifen. Es wäre schön, nicht mehr tagein, tagaus vor dem Computer sitzen zu müssen, um zu tun, was andere mir vorschreiben. Erst gestern habe ich im Radio von einem rekordverdächtig hohen Lotto-Jackpot gehört.


    Entschlossen frage ich: „Welche Lottozahlen muss ich diese Woche tippen, um den Rekordgewinn abzuräumen?“


    Ohne mit der Wimper zu zucken, nennt die Fee die Zahlen. Ich kritzele sie hastig auf meine To-do-Liste. So, damit sind Geldsorgen für den Rest meines Lebens Geschichte. Die Fee sieht mich erwartungsvoll an. Noch zwei Fragen. Was brauche ich noch, jetzt wo mir finanzielle Freiheit sicher ist? Geld allein macht nicht glücklich, heißt es.


    „Was sollte ich vermeiden, um nicht ins Unglück zu laufen?“ Ich rechne mit einer Information wie Fahre am 25.11.2035 auf keinen Fall nach München, sonst wird dich ein Auto überfahren.

    Doch zu meiner Überraschung sagt die Fee: „Du solltest auf keinen Fall einen Lottoschein mit den Zahlen ausfüllen, die ich dir gerade genannt habe.“


    Moment, die Fee rät mir davon ab, reich zu werden?




    „Aber was muss ich dann tun, um glücklich zu werden?“


    „Lebe weiter wie bisher. Hör auf dein Herz, es sagt dir, was gut für dich ist.“

  • Der 3. Dezember von magico



    Kehrseite



    Es stimmt schon, was man sagt: Jede Medaille hat zwei Seiten und es ist nicht alles Gold, was glänzt. Vor meinen Augen glänzt und leuchtet es wundervoll, doch habe ich die Kehrseite der Medaille erwischt.


    Verschleiert quillt warmes Licht durch die dunklen Gassen der Altstadt. Chorgesang dringt von Fern an meine frierenden Ohren. Ich ziehe die Ohrenklappen des ausrangierten Trapper-Hutes nach unten und puste mir in die hohlen Hände.

    Dick eingepackte Menschen laufen fröhlich an mir vorüber. Es duftet nach gebrannten Mandeln und Maronen.

    Ich greife nach der angelaufenen Cola-Flasche, schraube sie mit rotgefrorenen Fingerkuppen auf und nehme einen kräftigen Schluck der undefinierbaren Flüssigkeit zu mir. Für einen kurzen Augenblick schmecke ich Anis, dann Koriander und schließlich brennt es nur noch. Wohlige Wärme breite sich in der Magengegend aus.

    Als ich wieder aufblicke fällt eine Münze klimpernd auf das nasskalte Kopfsteinpflaster. Ich greife danach. Ein Mann mit brauner Ledertasche und harten Absätzen an seinen Schuhen läuft über meine Finger. Ich schreie auf, er geht unbeirrt weiter. Locker den Schal um den Hals und das Mobiltelefon am Ohr. Die anderen Menschen laufen ebenfalls weiter.

    Es wird kälter. Der einsetzende Nieselregen friert sogleich am Boden fest. Die enge Gasse wird zur Rutschbahn. Eltern brüllen ihre Kinder an, dass sie gefälligst aufpassen sollen, nur um dann selber hinzufallen.

    Schwerfällig und steifgefroren erhebe ich mich. Mein weniges Hab und Gut ist schnell geschultert und meine Schritte führen mich hinaus aus der Enge. Auf einen freien Platz, der mich mit seiner Lichterflut und einem unvorstellbaren Stimmengewirr empfängt ... erschlägt.

    Ich bleibe am Rand, bleibe im Schatten verborgen. Eine nasse Holzbank wird mein Lager. Durch einen glasigen Schleier dreht sich der bunte Schimmer im Takt der festlichen Trompetenklänge.

    Ein weiterer Schluck aus der Cola-Flasche. Nun ist sie leer.

    Mit dem Ärmel meiner graugrünen Tweed-Jacke wische ich mir zunächst die feuchten Wangen, dann den feuchten Mund ab. Die wildgewachsenen Barthaare erzeugen ein kratzendes Geräusch auf dem Stoff.

    Kinder tragen Zuckerwatte an mir vorbei. Erwachsene prosten sich mit Glühweinstiefeln zu, wobei sie die Hälfte verkleckern. Ein überdimensionaler lilafarbener Stoffesel kommt auf mich zu und biegt kurz vorher ab. Die kurzen Ärmchen, die ihn tragen, reichen kaum um dessen Hals herum.

    Sachte aber stetig sammeln sich kleine weiße Punkte auf meinen Ärmeln. Das Treiben geht weiter, geht immer weiter. Es wird kälter, wird weißer und schließlich endet alles abrupt.

    Die Lichter gehen aus, die Musik verstummt. Keine Menschen mehr. Ein paar Raben, Tauben und eine Katze. Alles ist weiß, alles ist still.

    Noch immer sitze ich auf der Bank. Es ist so unendlich kalt.

    Eine Hand legt sich von hinten auf meine Schulter. Ich drehe mich um und blicke in ein junges weibliches Gesicht, welches oben von einer blauen Schildmütze begrenzt wird.

    "Sie können hier nicht über Nacht bleiben", sagt die Polizistin.

    Ich packe meine Sachen und ziehe weiter. Quer über den verstummten Weihnachtsmarkt. Wohin? Ich weiß es noch nicht.


    Nun hat sie also begonnen, die frohe Zeit.

  • Der 4. Dezember von Batcat


    DER YETI


    Der Yeti fühlte sich schrecklich einsam.


    Die Menschen hatten Angst vor ihm, dabei war er eigentlich nicht böse. Doch seine Körpergröße und sein Fell ließen alle vor ihm zurückschrecken. Er bekam nicht einmal die Chance zu beweisen, dass er im Grunde seines Herzens nett war.


    Doch wer ihn sah, rannte panisch davon. Alle hatten Angst, von ihm gefressen zu werden. So ein Humbug, dabei war er Vegetarier.


    So vertrieb er sich die Zeit meistens im Internet oder mit Lesen und Fernsehen. Als er eines Tages die Werbung eines großen Onlinehänders sah, der die Chuzpe hatte, einen albernen Werbespot über Shampoo mit IHM (naja... eher einem drittklassigen Double) auszustrahlen, war er entrüstet.


    Doch dieser Spot ließ ihn nicht los und eine Idee keimte in ihm auf. Ja... es könnte funktionieren. Also legte er sich extra für seinen Plan ein Kundenkonto bei diesem Amazon an und gab eine größere Bestellung auf...


    Kaum war die Lieferung eingetroffen, legte er los. Hingerissen betrachtete er sein Spiegelbild: die Werbung hatte nicht zu viel versprochen. Das wilde, verfilzte Fell hatte sich dank des Wundershampoos und des Conditioners und mit Hilfe des Spezialföhns in eine duftige Mähne und einen imposanten Bart verwandelt.


    In seinem roten Mantel mit dem Pelzkrägelchen (natürlich fake fur!) fühlte er sich richtig schick und die großen, derben Stiefel passten wie angegossen.


    So aufgebrezelt ging er in die nächste Stadt. Dort schienen sie nur auf einen wie ihn gewartet zu haben. Gleich im ersten Geschäft bekam er Kaffee und Zuckerkringel, bevor er zu einer sehr bequemen Couch geführt wurde. Dort wurde er gebeten, für Fotos mit den Kindern zu posieren, was er natürlich gerne tat... normalerweise kreischten die Kinder bei seinem Anblick nämlich am lautesten. Heute war es anders. Schüchtern lächelnd kuschelten sie sich an ihn und steckten ihm verstohlen ihre Wunschzettel zu.


    Ab und an kamen auch kichernde Teenager vorbei, die an seinem Bart zogen um zu prüfen, ob er auch „der echte“ Weihnachtsmann war. Als sie festgestellt hatten, dass alles an ihm echt war, wollten auch sie sich mit ihm fotografieren lassen.


    So verging der Tag und der Yeti genoß es sehr, dass die Menschen endlich einmal seine Nähe suchten und nicht schreiend davonrannten.


    Kurz bevor der Laden sich anschickte, Feierabend zu machen, stürmte eine lärmende Bande anderer Weihnachtsmänner herein, um sich mit Dosenbier einzudecken. Als sie ihn erblickten, nahmen sie ihn gleich in ihre Mitte: „Zeit, Feierabend zu machen, Bruder!“


    Zusammen liefen sie durch die nun stillen Straßen und ließen sich ihr Wegbier schmecken. Nach einer Weile kamen sie zu einer Kneipe namens „Holy Moly“. Dort schien ihr Ziel zu sein. Als sie eintraten, fielen dem Yeti fast die Augen aus dem Kopf: sie waren in einer Stripteasebar gelandet und die Stripperinnen waren alle als Christkindchen und Engel verkleidet. Holy Moly!


    Das Bier war gut und die Stimmung noch besser. Jeder schmiss eine Runde und der Yeti, der Alkohol nicht gewohnt war, war sehr bald sehr lustig. Als die ersten Weihnachtslieder ertönten, sang er mit seiner tiefen Stimme lauthals mit. Der Abend begann, richtig abgefahren zu werden, als sich die Mädels zu den Tönen von „Jingle Bells“ und „White Christmas“ Stück für Stück entkleideten und seine Weihnachtsmannkumpane den Frauen Geldscheine in ihre Wäsche steckten. Als er kein Geld mehr hatte, nahm er einfach die ihm tagsüber zugesteckten Wunschzettel und nahm diese. Keiner bemerkte den kleinen Schwindel und die Mädels tanzten für sie, als gäbe es kein Morgen mehr.


    Doch irgendwann machte auch dieser Club zu. Am Horizont krochen bereits die ersten Streifen Tageslichts herauf.


    Hochzufrieden machte sich der Yeti auf den Heimweg in die Wälder, wo er sich müde in seiner Höhle in seinem Moosbett zusammenrollte. Was für ein Tag! Und er wußte heute schon, was er nächstes Jahr um diese Zeit unternehmen würde.

  • Der 5. Dezember von Breumel



    Die Weihnachtswunsch-Lotterie


    "Was wünscht du dir denn dieses Jahr zu Weihnachten?"

    Kurz dachte Jonas nach, dann strahlte er. "Schnee!"

    "Oh…" Bekümmert schaute Mama Jonas an. "Weiße Weihnachten wäre schön, aber ich glaube nicht, dass das dieses Jahr etwas wird. Der Winter ist einfach zu warm."

    "Aber ich möchte Schlitten fahren! Letztes Jahr konnte ich den Schlitten überhaupt nicht benutzen. Und davor nur im Urlaub."

    "Du kannst ja einen Brief ans Christkind schreiben."

    "Und das hilft?"

    "Es schadet jedenfalls nicht."

    "Hm. Okay, mach ich. Und an den Weihnachtsmann schreibe ich auch – der weiß wenigstens, wie viel Spaß Schlittenfahren macht!"


    Mit Feuereifer ließ sich Jonas Briefpapier geben und setzte sich an seinen Schreibtisch. Seine Mutter suchte derweil die Adressen von Christkind und Weihnachtsmann im Internet heraus, adressierte und frankierte zwei Umschläge und wartete auf die Briefe. Gemeinsam gingen sie dann zum Briefkasten und warfen sie ein.


    Heiligabend – 5°C, Nieselregen, und weit und breit kein Schnee in Sicht.

    "Jonas? Gleich beginnt die Bescherung!" Erwartungsvoll sah Jonas Mutter ihn an.

    "Ich krieg ja doch nicht, was ich mir gewünscht habe…"

    "Ach Jonas, für das Wetter kann jetzt echt keiner was! Du kriegst so viele tolle Geschenke. Und wenn es diesen Winter nicht schneit, fahren wir eben mal am Wochenende ins Sauerland. Also komm schon, alle warten auf dich!"

    Missmutig gesellte sich Jonas zur Familie und packte seine Päckchen aus. Es wurde doch noch ein schöner Abend, mit Weihnachtsliedern, leckerem Essen und gemeinsamem Spielen. Aber eben ohne Schnee…


    Als er schließlich im Bett lag, war er immer noch enttäuscht. Klar waren seine Geschenke toll, aber er hatte sich so doll Schnee gewünscht. Dafür hatte er sogar abends heimlich gebetet.

    Er schlief bereits, als ein Geräusch ihn aufweckte. Was war das gewesen? Irgendwas war ans Fenster gestoßen. Da! Da war es wieder! Das klang, als hätte jemand ans Fenster geklopft. Aber das konnte nicht sein, sein Zimmer war im Obergeschoss.

    Als es zum dritten Mal klopfte, stieg er aus dem Bett. Mit klopfendem Herzen zog er den Vorhang zur Seite. Und erschrak! Da war ein Schatten hinter der Scheibe. Und jetzt winkte der ihm zu!


    Undeutlich hörte er eine Stimme. Was sagte die? Er solle das Fenster öffnen?

    Ängstlich gehorchte er, aber er stellte es nur auf Kipp. Schließlich wollte er nicht, dass die unheimliche Gestalt in sein Zimmer kommen konnte.

    "Herzlichen Glückwunsch, Jonas! Du hast in der Weihnachtswunsch-Lotterie gewonnen!"

    "Ähh…" Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Bitte was?

    "Dein Wunsch ist ausgewählt worden! Du darfst heute Schlitten fahren!"

    Jonas versuchte, sich zu erinnern. Hatte er sich nicht Schnee gewünscht? Ach nein, er hatte geschrieben, dass er sich wünschte, an Heiligabend Schlitten fahren zu können.


    "Wie – wie meinen sie das? Es liegt doch gar kein Schnee! Und außerdem ist es mitten in der Nacht!"

    "Wir brauchen keinen Schnee! Du darfst mit dem Weihnachtsmann Schlitten fahren. Der fährt traditionell nur nachts. Aber du musst dich beeilen, wir können nicht ewig auf dich warten. Hol deine Jacke und deine Schuhe, und auf geht's!"

    Jonas war verwirrt. "Ich kann doch jetzt nicht mehr raus gehen! Meine Eltern hätten da bestimmt was dagegen. Die sind ja selber gerade ins Bett gegangen."

    "Keine Sorge, die bekommen nichts davon mit. Bei solchen Wünschen helfen uns die Sandmänner. Zieh dich einfach an, und dann komm hier zum Fenster und ich bringe dich zum Schlitten."


    Inzwischen hellwach, tat Jonas wie ihm geheißen. Zurück am Fenster öffnete er es weit. Zum ersten Mal konnte er seinen nächtlichen Besucher richtig sehen: Schmal und klein wie ein Kind, aber ein Gesicht wie ein Erwachsener, und aus den Locken ragten spitze Ohren empor. "Sind sie – ein Weihnachtself?"

    Schwungvoll verbeugte sich die Gestalt. "Gestatten – Resilius. Du kannst Res zu mir sagen. Und Du."

    "Hallo Res. Ich bin Jonas."

    Der Elf grinste. "Weiß ich doch. So, jetzt gib mir deine Hand, damit es losgehen kann."

    Unsicher gab ihm Jonas die Hand und kletterte auf die Fensterbank. Der Blick nach unten, auf die gepflasterte Einfahrt, gefiel ihm gar nicht.

    "Keine Sorge, dir passiert nichts. Du darfst nur nicht loslassen!"


    Mit einem Mal spürte Jonas, wie er ganz leicht wurde. Er blickte nach oben und sah, wie ein Mondstrahl auf sie fiel. Davon angezogen, schwebten sie dem Mond entgegen, bis ein Schatten den Blick verdunkelte. Der Schatten wurde immer größer und entpuppte sich als großer Schlitten! Vor den Schlitten waren neun Rentiere gespannt. Eine rote Nase hatte allerdings keines.


    Auf dem Kutschbock saß, wie erwartet, der Weihnachtsmann. Ein rundlicher, großer Mann mit weißem Bart, in einen warmen Mantel gekleidet. Der schien seinen Blick richtig zu deuten, denn er begrüßte ihn schmunzelnd mit "Hallo Jonas! Nein, ich trage keinen roten Samtmantel. Ich bin schließlich keine Werbefigur, und das Bischofsgewand überlasse ich dem Nikolaus. Steig ein! Und dann mach es dir unter der warmen Decke gemütlich, wir haben noch einen weiten Weg vor uns."

    "Fahren wir wirklich zu allen Kindern heute Nacht?"

    Der Weihnachtsmann lachte. Jonas kam sich dumm vor, aber es war ein freundliches Lachen, und gleich fühlte er sich wieder wohl.

    "Das kann kein Weihnachtsmann! Nein, wir Weihnachtsmänner erfüllen nur ganz besondere Wünsche. Solche, die man mit Geld nicht kaufen kann. Und weil es auch davon noch zu viele gibt, werden die Wünsche ausgelost. In der Weihnachtswunsch-Lotterie. Dieses Jahr bist du einer der Glücklichen, die gewonnen haben."

    "Weihnachtsmänner? Gibt es noch mehr so wie dich? Und habe ich deshalb nie den großen Bruder bekommen, den ich mir gewünscht habe?"

    Wieder musste der Weihnachtsmann lachen. "Für einen allein ist die Aufgabe viel zu gewaltig. Und große Brüder können wir nicht verschenken. Dafür müssten wir ja die Zeit umdrehen, und deine Eltern hätten da auch noch ein Wörtchen mitzureden."

    "Und Frieden auf der Welt? Das wünschen sich doch bestimmt viele Kinder."

    Jetzt schaute der Weihnachtsmann ernst. "Das wäre schön, aber so mächtig sind wir nicht. Und leider gibt es nicht nur Menschen, die sich Frieden wünschen, sondern auch Menschen, die sich wünschen, einen Krieg zu gewinnen. Auf zehn friedliche Menschen kommt ein dummer, der lauter schreit als die zehn zusammen…"

    Beide schwiegen.


    Aber dann hob der Weihnachtsmann die Zügel, rief laut "Ho ho ho!", und der Schlitten flog los. Schneller und immer schneller flogen sie, und die Zeit schien stillzustehen. Es war, als würden sie mit Lichtgeschwindigkeit von einem Haus zum nächsten fliegen, in Städte und Dörfer, zu Hochhäusern, Wohngegenden, Zeltansammlungen, wo auch immer Menschen lebten. Überall erfüllte der Weihnachtsmann Herzenswünsche. Verschwundene Katzen fanden den Weg nach Hause, ein Hund wurde gesund, ein schmerzlich vermisster Mensch rief nach langer Zeit wieder an, jemand bekam die Chance auf eine neue Liebe, Menschen versöhnten sich, Glück lag in der Luft.

    Jonas genoss die Fahrt im Schlitten, aber schließlich wurde er unter der weichen, warmen Decke immer müder, bis ihm vollends die Augen zufielen.


    Als er aufwachte, schien die Sonne in sein Zimmer. Er erschrak. Wo war der Weihnachtsmann? Hatte er das alles nur geträumt?

    Da stürmte seine kleine Schwester in sein Zimmer. "Jonas, Jonas, hast du das gesehen! Es hat geschneit!"

    Ungläubig starte Jonas zum Fenster. Und wirklich, da war ein dünner weißer Schleier auf dem Dach des Nachbarhauses. Schnee! Dann wurden seine Augen noch größer: Er war sich sicher, dass er sein Fenster vorm Schlafengehen geschlossen hatte. Doch jetzt war es nicht mehr verriegelt, sondern nur angelehnt. Und seine Jacke, die an der Garderobe sein sollte, hing über seinem Stuhl, neben dem ordentlich aufgestellt seine Schuhe standen…

  • Der 6. Dezember von Marlowe



    Wichtelgeschichte Nr. 6


    Nikolaus und die verschwundenen Rentiere


    Vor der Terrassentür lauerte der dicke Kater Schnurr meines Nachbar und beobachtete gierig meinen Hauswichtel Kasimir. Der hüpfte und tanzte dem Kater etwas vor und machte sich über ihn lustig. Kasimir war jetzt zweihundertundzweiundfünfzig Jahre alt, aber Wichtel werden tausende Jahre alt und leider bleiben sie sehr lange sehr kindisch und albern.


    Aber Kasimir und ich hatten uns arrangiert und das Zusammenleben funktionierte inzwischen ganz gut. Dafür ärgert er heimlich meine Nachbarn oder deren Haustiere. Ich werde es ihm nicht verbieten, allerdings bin ich mir auch nicht sicher, ob ich das überhaupt könnte.


    Plötzlich stürmten mehrere kleine Wichtel unter dem großen Busch neben der Terrasse hervor, angeführt von Frederic von Hicksenstein, der mit seinem kleinen Degen herumfuchtelte und mit Gebrüll verjagten sie Kater Schnurr, der so einen Angriff bestimmt noch nie erlebt hatte. Ich ahnte nichts Gutes und lief zur Terrassentür, öffnete sie schnell und die drei sprangen herein. Dicht hinter ihnen schwebte nun auch noch Dorlefee ins Wohnzimmer.


    Da standen sie nun alle nebeneinander und sahen mich an. Frederic, Fridolin, Fridolar, Kasimir und Dorlefee. Alle fünf öffneten gleichzeitig ihr Münder und ich rief: „Stopp! Kein Ton jetzt. Was habt Ihr nun wieder angestellt? Dorlefee, was ist los und ihr anderen haltet den Mund.“


    Kasimir murrte: „Ich wollte nur hallo sagen.“


    Dorlefee holte tief Luft. „Also, wir brauchen Deine Hilfe, unbedingt und sofort. Die Rentiere sind weg.“ Als wäre damit alles gesagt,schaute sie mich erwartungsvoll an.


    „Aha,“ sagte ich und versuchte nun witzig zu sein. „Sind halt Renntiere, wollten vielleicht ein bisschen Auslauf haben. Da sind doch so viele Wichtel, Trolle, Elfen und sonst noch wer, die werden sie schon finden. Und der Nikolaus..“


    „Der Nikolaus ist nicht da und weiß auch noch nichts davon, der ist wie jedes Jahr mit dem Alltagsschlitten und den Schimmeln unterwegs, Geschenkpapier holen. Im Rentierstall hing ein Zettel, auf dem stand: zehn Millionen Goldstücke bis Montag Abend, Übergabeort wird per Boten mitgeteilt, keine Polizei, keine Erzengel, keine Suchaktion oder es gibt Rentiergulasch!“


    „Okay, jetzt mal langsam, das kann doch nur jemand gewesen sein, der sich im Weihnachtsland gut auskennt.“ Kasimir rief aufgeregt: „Troll Zumbur mit seiner Gang!“


    Dorlefee schüttelte den Kopf. „Nein, die helfen seit drei Tagen in der Holzspielwarenproduktion. Da wurden sie dauernd gesehen und hatten keine Gelegenheit für so etwas.“


    Ich dachte nach. „Das kommt mir komisch vor. Kasimir hat mir doch erzählt, die Trolle sind für die Ställe zuständig, wer kümmert sich denn jetzt darum?“


    Frederic von Hicksenstein räusperte sich kurz. „Als die Arbeit immer mehr wurde, haben die Trolle sich angeboten zu helfen und Zumbur meinte, die vier Zwerge, die aus Düsterland geflohen sind und seitdem im Weihnachtsland leben,könnten das solange übernehmen. Die haben ja immer wieder dort ausgeholfen.“


    „Immer noch seltsam,“ meinte ich, „die Trolle melden sich freiwillig für diese Produktionsarbeit? Das passt doch überhaupt zu ihnen.“


    „Doch, das würde passen, wenn sie sich dadurch ein Alibi verschaffen,“ sagte Fridolin und sein Bruder Fridolar nickte eifrig. „Richtig, richtig, die Zwerge und Zumbur kannten sich schon, als sie ins Weihnachtsland kamen. Ich hörte sie mal über alte Zeiten sprechen, was sie so erlebt hatten. Aber ich hatte es eilig und habe nicht weiter zuhören können. Ich war ja nur für eine Woche dort und bin jetzt wieder in Bayern.“


    Wir beschlossen,erst einmal heiße Schokolade zu trinken und zu beratschlagen, was nun zu tun sei.


    „Hat der Nikolaus überhaupt 10 Millionen Goldstücke?“ Ich sah Dorlefee an. Die nickte nur. „Hat er. Sammelt sich mit der Zeit so an. Ich frage mich allerdings, wer kann damit etwas anfangen?“


    „Im Düsterland wird doch mit Goldstücken bezahlt, habt ihr mir erzählt. Und wenn ich mich richtig erinnere, hat der Nikolaus einige Trolle und Gnome, die es zu wild getrieben haben, dorthin verbannen lassen. Wenn die Zwerge und Zumbur sich von früher kennen, ist das doch ein genialer Plan. Ohne Rentiere keine Geschenkeschlittenfahrten, der Nikolaus wird also zahlen. Zumbur hat bestimmt wieder die Hohoho-Schachtel mitgehen lassen, damit haben die Zwerge die Rentiere entführen können und wahrscheinlich werden sie mit den Rentieren die 10 Millionen Goldstücke abtransportieren und sie dann zu Gulasch verarbeiten. Und Zumbur und seine Trolle stehen als Unschuldsengel da. Und brauchen die Ställe nicht mehr zu reinigen.“


    „Oh nein,“ rief Dorlefee entsetzt, „was für ein Frevel. Das darf nicht passieren! Was können wir tun?“


    „Also überlegt doch, neun Rentiere und nur vier Zwerge, die haben alle Hände voll zu tun, weit weg sein können sie auch nicht, ich würde ein paar Eisbären zu Hilfe holen, das fällt dort ja nicht weiter auf. Die finden sie im Handumdrehen. Und dann auf sie mit Gebrüll und die Rentiere zurück in den Stall. Fertig.“ Ich guckte sie an.


    Dorlefee klatschte in die Hände. „Das machen wir, kommt Wichtel, wir organisieren das.“ Kasimir schaute mich bettelnd an. „Ja, Kasimir, geht schon mit, Du liebst doch Abenteuer.“


    Dorlefee schwang ihren Feenstab und WUTSCH – weg waren sie. Aber der blaue Feenring in dem sie verschwanden, blieb im Wohnzimmer in der Luft hängen und wie in einem Fernseher konnte ich zusehen, was dort im Weihnachtsland passierte. Es war schon praktisch, immer eine Fee in der Nähe zu haben, die Wünsche erfüllen konnte.


    Zwanzig oder ein paar mehr Eisbären konnte ich sehen, die die Witterung aufnahmen und im Bärengalopp in eine Richtung eilten. Auf ihnen saßen viele Wichtel und klammerten sich in ihren Fellen fest. Dazu noch einige Gnome und Elfen schwirrten hinterher und um sie herum. Ganz vorne auf dem ersten Eisbär war Frederic, schwang mit einer Hand seinen Degen und mit der anderen hielt er sich am Ohr des Bären fest. Ich konnte nichts hören, aber die Bilder sprachen für sich. Hinter mehreren hohen Schneewehen lagerten die Rentiere und die vier Zwerge hüpften lustig herum.Ein Greif hockte in der Nähe und nagte an einem Pinguin. Der Greif war wohl der Bote, der die Nachrichten überbringen sollte.


    Die Eisbären stürmten mitten in dieses Lager hinein, Frederic und sein Eisbär sausten direkt zum Greif und der Bär drückte ihn mit seinem Gewicht auf den Boden. Die Wichtel stürzten sich auf die Zwerge, die eingekreist von den Bären vor Angst starr standen, es war keine große Kunst, sie mit Schnüren einzuwickeln und auf die Bären zu binden. Der Greif bekam noch einen gewaltigen Hieb mit der Bärentatze und fiel bewusstlos auf die Seite.


    Frederic packte die Hohoho-Schachtel und brav folgten die Rentiere ganz ohne Angst den Bären und Wichteln und Elfen und Feen zurück ins Weihnachtsland.


    Da war die Freude natürlich groß und viele standen vor dem Tor und winkten und lachten. Genau da kam der Nikolaus, früher als erwartet, mit seinem Schimmelschlitten zurück, umfuhr einen Schneeberg und glitt vor das große Tor, wo Dorlefee ihm anscheinend Bericht erstattete.


    Er sah durch den Feenring direkt zu mir und winkte mir zu. Dann verschwanden alle zusammen ins Weihnachtsland und das Tor ging zu.


    So, jetzt wisst ihr, was für ein Glück wir alle hatten, dass es nochmal gut gegangen ist. Kasimir ist gerade zurück gekommen und hat mir von Nikolaus zehn Goldstücke mitgebracht. Dabei habe ich doch eigentlich gar nichts gemacht. Die Zwerge wurden wieder zurück ins Düsterland verbannt, Zumbur beteuerte, er hätte nichts damit zu tun gehabt und beweisen konnte man es ihm nicht.


    Ach so, die Goldstücke. Schön verpackte Vollmilchschokolade. Schauen fast echt aus, schmecken total lecker. Aber zehn Millionen davon, nein Danke.

  • Der 7. Dezember von belladonna



    Es geht auch anders


    Es war der Morgen des 17. Dezember. Clara saß gerade in der Küche und schrieb an ihren diversen Einkaufs- und To-Do-Listen für die kommende Woche, als es an der Tür klingelte. Wer konnte das sein? Vermutlich nur wieder ein bemitleidenswerter Zusteller mit einem Paket für die Nachbarn. Ungehalten schlurfte sie zur Tür und öffnete. Draußen stand ein junger Mann mit einer großen Tasche und strahlte sie an. „Hallo, bist du Clara? Ich bin Chris und für die nächste Woche dein Betreuer!“ Clara fiel alles aus dem Gesicht. „Wie, Betreuer? Ich hab zwar Urlaub, aber ich brauche doch keinen Betreuer! Ich bin weder krank noch sonst irgendwie bedürftig und kann gut auf mich selbst aufpassen! Das muss ein Missverständnis sein! Und jetzt gerade hab ich echt keine Zeit für sowas, auf Wiedersehen!“ Clara wollte die Tür schon wieder schließen, doch der junge Mann stellte schnell seinen Fuß dazwischen. „Halt, nicht so schnell! Das hat schon alles seine Richtigkeit!“ Er hielt ihr eine Visitenkarte entgegen. Chris T. Mas stand darauf, und darunter Agentur für angewandte Entschleunigung. Clara verstand gar nichts mehr. Was sollte das denn sein? Erlaubte sich da jemand einen schlechten Scherz mit ihr? Doch da redete Chris schon weiter: “Wenn du mir nicht glaubst, kannst du uns auch googeln. Ich wurde für dich gebucht – von wem, kann ich dir leider nicht sagen, die meisten unserer Auftraggeber wollen anonym bleiben, aber es ist alles legal. Alles weitere würde ich dir gerne drinnen bei einer Tasse Tee erklären, es ist nämlich doch ziemlich frisch hier draußen, findest du nicht?“ Clara war so überrumpelt, dass ihr nichts Besseres einfiel als „Aber ich hab doch gar keinen Tee im Haus.“ Doch da stand Chris schon in ihrer Küche und ehe sie es sich versah, saßen sie beide am Küchentisch, vor sich dampfende Becher mit einem lecker weihnachtlich duftenden Tee, den Chris aus seiner Tasche geholt und ihr mit den Worten: „Hier, bitteschön, dein Begrüßungsgeschenk!“ überreicht hatte.


    „So“, sagte Chris nach einem ersten Schluck Tee. „der Grund, warum ich hier bin, ist, dass du offensichtlich ein wenig Entschleunigung dringend nötig hast.“ Er blickte kritisch auf den mit Listen und Zetteln übersäten Küchentisch. „Darum kommen die hier auch gleich mal weg.“ Er schob die Papiere zusammen und verstaute sie ganz unten in seiner Tasche. „Hey, was fällt dir ein?“, protestierte Clara. „Die brauche ich noch, ich hab doch noch so viel zu erledigen bis Weihnachten! Und ohne meine Listen vergesse ich wieder die Hälfte und dann gibt es noch mehr Stress…“ Sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen. „Nichts da!“, entgegnete Chris. „Hier geht es jetzt ganz allein um dich – du brauchst Ruhe und keine To-Do-Listen, denn wenn du Weihnachten mit Burn-out unterm Baum liegst, hat auch keiner was davon – Burn-out ist nur was für Weihnachtskerzen, aber nicht für Menschen!“ „Aber wie soll denn das gehen? An Weihnachten fahre ich zu meinem Bruder und seiner Familie und die erwarten von mir, dass ich wie jedes Jahr Plätzchen mitbringe und Geschenke habe ich auch noch nicht besorgt!“ Jetzt weinte sie wirklich. Eigentlich hatte Chris ja recht, sie fühlte sich wirklich total erschöpft und ausgelaugt, aber wenn sie jetzt nicht in die Hufe kam, was würde es dann für ein Weihnachtsfest werden? Sie mochte gar nicht an die enttäuschten Gesichter und die unausgesprochenen Vorwürfe ihrer Familie denken, wenn sie mit leeren Händen dort auftauchte.


    „Hey, nicht weinen, das wird schon!“, Chris reichte ihr ein Taschentuch. „Vertrau mir einfach, wir kriegen das schon hin, aber eben so, dass du dabei auch Spaß hast und nicht nur durch die Gegend hetzt! Und wenn du ganz ehrlich bist, was würdest du jetzt am liebsten machen?“ Clara musste nicht lange überlegen: „Nach Island fliegen?“ Chris musste lachen: „Das ist leider in meinem Budget nicht drin, fällt dir noch was anderes ein?“ „Drei Monate Winterschlaf?“ „Ohje, du bist aber echt ein schwieriger Fall.“, Chris seufzte. „Wie wäre es damit: du machst ein Nickerchen und wenn du dich ausgeruht hast, übernehme ich hier die Regie!“ Clara erkannte, dass Widerstand zwecklos war und verschwand in ihr Schlafzimmer, wo sie auch nach kurzer Zeit tief und fest eingeschlafen war.


    Als sie zwei Stunden später wieder in die Küche kam, staunte sie nicht schlecht: Chris hatte alles piccobello aufgeräumt und ein Blick ins Wohnzimmer verriet ihr, dass auch der Wäscheberg vom Sofa verschwunden war und die Wäsche nun ordentlich gefaltet im Korb lag. „Na, geht’s dir besser?“ Chris lächelte sie an. „Dann können wir ja jetzt einen Spaziergang machen!“ „Spazierengehen?“, Clara machte ein zweifelndes Gesicht. Wie lange war sie schon nicht mehr einfach so durch die Gegend gelaufen? War das nicht Zeitverschwendung? Doch sie sah ein, dass Chris nicht nachgeben würde, und so liefen sie los, durch die Straßen und hinunter zum Fluss. Chris machte sie auf dies und jenes aufmerksam, die Eichhörnchen, die durch die Bäume turnten, hier ein Rotkehlchen auf einem Stein, dort ein bizarr geformtes Blatt, das noch einsam an einem Zweig hing. Allmählich machte sich in Clara ein erstes Gefühl der Entspannung breit, auch wenn sie immer noch nicht wusste, wie sie an Weihnachten ihrer Familie gegenübertreten sollte. Doch Chris strahlte eine so überzeugende Ruhe aus, dass Clara beschloss, die nächsten Tage einfach zu nehmen, was kam – denn dass sie Chris nicht so einfach wieder loswerden würde, das hatte sie mittlerweile begriffen.


    Am nächsten Morgen stand Chris mit einer prall gefüllten Einkaufstüte vor ihrer Tür: „Heute backen wir Plätzchen!“, verkündete er freudestrahlend. Clara sah ihn entsetzt an – Plätzchen backen und Entschleunigen, war das nicht ein Widerspruch in sich? Nicht mit Chris! Er ließ Clara den Teig mit den Händen kneten, weil das seiner Meinung nach gut für die Seele war, und dann weihte er sie in die Welt der Rollenkekse und Cookies ein. Kein stundenlanges Teig-Ausrollen und Ausstechen, sondern einfache Rezepte, bei denen der Teig zu Rollen geformt und in Scheiben geschnitten oder, noch einfacher, gleich als kleine Häufchen aufs Blech gesetzt wurde. Bald duftete das ganze Haus verführerisch nach Weihnachtsgebäck und Clara fragte sich, warum sie nicht schon früher auf diese Idee gekommen war – so macht ihr das Backen auch Spaß!


    Und so ging es die nächsten Tage weiter. Chris erschien pünktlich jeden Morgen und dann war der Tag ausgefüllt mit langen Spaziergängen, gemeinsamem Kochen, Spielen und Vorlesestunden, bei denen Clara gemütlich auf der Couch liegen durfte, während Chris ihr alte Weihnachtsgeschichten vorlas. Clara begriff, dass Entschleunigen nicht gleichzusetzen war mit Nichtstun, und auch wenn sie es nicht offen sagte, so war sie Chris doch dankbar dafür, dass er sie dazu brachte, das Leben wieder mit allen Sinnen wahrzunehmen und auch die kleinen Dinge wieder wertzuschätzen, an denen sie sonst achtlos vorbeirannte.

    Am 23. Dezember fiel ihr siedend heiß ein, dass sie immer noch keine Weihnachtsgeschenke für ihre Familie hatte. „Kein Problem!“, meinte Chris. „Du schenkst ihnen Zeit!“ „Zeit?“, fragte Clara ratlos, „aber wie soll das gehen?“ „Ganz einfach“, erwiderte Chris, „wir basteln Gutscheine für einen gemeinsamen Nachmittag oder einen Abend oder eine bestimmte Aktivität, und die überreichst du ihnen dann als Geschenk!“ „Basteln???“, Clara bekam Schnappatmung, „ich hasse Basteln, ich kann das nicht und ich will das nicht!“ Mit Schaudern dachte sie zurück an die Bastelstunden ihrer Schulzeit, das Herumklecksen mit Farbe und Kleister und die missbilligenden Blicke ihrer Lehrerin angesichts ihrer mickrigen Werke. „Dann nenn es eben kreatives Gestalten und vertraue mir, du kannst das!“ Chris‘ Zuversicht war unerschütterlich. „Wo ist deine Altpapierkiste?“ Clara gab auf, gegen Chris kam sie einfach nicht an. Und sie staunte nicht schlecht, als er ihr zeigte, wie sie aus alten Umverpackungen von Fertiggerichten (von den sie leider viel zu viele konsumierte, wie sie jetzt mit schlechtem Gewissen feststellte) Karten schneiden und diese mit den Weihnachtsmotiven aus den Werbeblättchen der letzten Wochen ruckzuck in sehr ansehnliche Gutscheine verwandeln konnte – und es machte ihr sogar Spaß!

    An diesem Abend verabschiedete sich Chris zum letzten Mal: „Ich wünsche dir schöne Weihnachten, liebe Clara - genieß die Zeit mit deiner Familie! Und wenn dich jemand hetzen will, dann denk an mich und lass dich nicht stressen. Du weißt ja jetzt, dass es auch anders geht!“ „Danke für alles!“, Clara musste sich ein Tränchen verdrücken, denn im Laufe der Woche hatte sie Chris richtig liebgewonnen. „Und du kannst mir wirklich nicht verraten, wem ich dich zu verdanken habe?“ „Leider nein! Und jetzt mach’s gut, ab jetzt schaffst du es auch ohne mich! Frohe Weihnachten!“


    Am nächsten Tag fuhr Clara zu ihrem Bruder und seiner Familie, und zu ihrer grenzenlosen Erleichterung durfte sie feststellen, dass Chris recht behalten hatte und ihre Sorgen vollkommen unbegründet gewesen waren. Die Kekse schmeckten wunderbar und auch ihre Zeit-Gutscheine kamen gut an. „Da hattest du mal eine richtig gute Idee!“, meinte ihr Bruder, „wir sehen dich eh viel zu selten, weil du immer so im Stress bist!“ Clara freute sich sehr und ihr wurde ganz warm ums Herz. Doch sie sagte weiter nichts dazu, denn sie hatte beschlossen, lieber niemandem von ihrer Woche mit Chris zu erzählen. Nicht dass man sie noch für verrückt erklärte, weil sie einfach einen wildfremden Mann ins Haus gelassen hatte.


    Und diese Entscheidung war auch gut so, denn wann immer Clara später Google befragte, einen „Chris T. Mas“ konnte sie nirgends finden und beim Suchbegriff „Agentur für angewandte Entschleunigung“ landete sie jedes Mal wieder im Adventskalender eines Bücherforums.


  • Der 8. Dezember von magico


    Eine gute Idee


    "Eine Hammer-Idee! Wirklich." R schlug seinem Chef etwas zu hart auf den Rücken. Dieser verschluckte sich und begann sogleich zu husten. Sein teurer Cocktail hatte sich einem Sprühregen gleich über den feinen weißen Sand verteilt. Er blickte R vorwurfsvoll an.

    "Hoffentlich klappt das mit dem Nachsende-Auftrag."

    "Wird schon schief gehen." R winkte ab und sog an seinem Strohhalm, während die nächste weißgekrönte Welle heranrollte.

    "Das könnte ich mir nicht verzeihen und die Kinder sicher auch nicht."

    "Trotzdem! Guck doch mal." R holte weit aus und ließ seinen Blick über den Horizont schweifen. "Das Meer, der Strand, die Sonne … es ist warm. Ganz anders, als bisher. Nass, kalt, dunkel … bäh."

    "Ja schon …" W seufzte. "Aber es ist nicht dasselbe."

    "Eben! Es ist viel besser."

    Ein riesiges Schiff bog um den sattgrünen Felsvorsprung am Eingang der Bucht und zerstörte die Idylle augenblicklich.

    "Vielleicht bringt es die erste Post", philosophierte R.

    "Eventuell transportiert es auch bloß die Krabbenkadaver ab, die noch immer quer über die Insel verstreut liegen", entgegnete W pessimistisch. "Wie machen wir das eigentlich mit dem Schlitten?", fragte er sich leise.

    "Der fährt auch auf dem Sand hier. Sieht doch sowieso fast aus wie Schnee."

    W sah seinen engsten Mitarbeiter und besten Freund an. "Du hast auch für alles eine Ausrede parat, was? So langsam glaube ich, du hast mir diese fixe Idee untergejubelt." Er hielt kurz inne. "Ja, genau … jetzt erinnere ich mich. Anfang des Jahres. Da hatte uns C doch die Karte aus seinem Urlaub geschickt. Damit fing es an. Du hast geredet und geredet und auf mich eingeredet. Bestimmt auch während ich schlief …"

    "Das ist doch albern", unterbrach R seinen Chef.

    "Nein, ist es nicht. Du hast immer wieder erwähnt, dass der Inselname kein Zufall sein könne und dass es doch sowieso niemandem auffallen würde, wenn wir dorthin ziehen würden. Dann hast du Ruhe gegeben und alles wirken lassen. Du kennst mich und wusstest, dass es in mir arbeiten würde."

    R zuckte mit den Schultern. "Ist doch schön hier." W nickte.

    "Stimmt, aber wider unserer Natur. Ich werde dieses Schiff nehmen, um wieder nach Hause zu kommen."

    "Aber …" Mehr kam R zunächst nicht über die Lippen. "… das ist doch jetzt unser Zuhause."

    Das Rauschen des Meeres wurde stärker. Die Bugwelle reichte beinahe bis zu ihren Füßen.

    "Ist es nicht. Es ist ein netter Ort, der allerdings so viel mit Heimat zu tun hat, wie dieser Cocktail mit Weihnachten." W erhob sich von seinem Liegestuhl und lief zum Pier.

    R folgte ihm. "Und wieso heißt es dann Weihnachtsinsel?"

    "Weil die Namensgeber sie zu Weihnachten erreichten", erklärte W während er geradewegs auf die Landungsbrücke zuhielt.

    "Ist doch egal, wenn die Kinder ihre Briefe an die Weihnachtsinsel, statt ans Weihnachtsdorf schicken. Wir sind doch nicht auf die Osterinseln gezogen."

    W rollte die Augen und drehte sich zu R um. "Hör mir mit dem Kram auf. Komm' jetzt, wir haben viel zu tun. Außerdem habe ich meinen Sack am Nordpol vergessen …"


  • Der 9. Dezember von belladonna



    Die Weihnachtskatze


    Es war der 24. Dezember. Mein erstes Weihnachten ganz allein und ganz ehrlich, mir graute vor diesem Heiligabend und den darauf folgenden Feiertagen. Meine Eltern, mit denen ich sonst immer die Weihnachtstage verbracht hatte, waren vor einigen Monaten kurz nacheinander friedlich eingeschlafen und bestimmt saßen sie jetzt gemeinsam auf ihrer Wolke und schauten auf ihr einziges Kind hinunter, aber so richtig konnte mich dieser Gedanke nicht trösten. Zu einer eigenen Familie hatte ich es nie gebracht, nicht mal zu einer dauerhaften Beziehung, und so saß ich nun an diesem 24. Dezember allein auf meinem Sofa und starrte trübsinnig hinaus in den Garten. Wie sollte ich Weihnachten nur so ganz allein überstehen, wenn alle Welt so fröhlich und mit sich selbst beschäftigt war? Nicht einmal einen Job mit der Option, an den Feiertagen zu arbeiten, hatte ich; erst am 27.12. durfte ich wieder ins Büro. So saß ich also da und versank immer tiefer in Selbstmitleid, als mich ein Geräusch an der Terrassentür aufschreckte. Dort draußen saß eine kleine schwarze Katze und schaute auffordernd zu mir herein.


    Ich stand auf und öffnete die Tür. „Na, wer bist du denn?“, fragte ich sie. „Und wo kommst du her? Du bist ja ganz nass, hast du kein Zuhause?“ Die kleine Katze schlüpfte an mir vorbei ins Wohnzimmer, wobei sie vorwurfsvoll miaute, als sei ich schuld an ihrem Zustand. Zielstrebig lief sie Richtung Küche und sah mich auffordernd an. „Hast du Hunger, kleine Katze? Soll ich mal schauen, ob ich was für dich finde?“ Die Kleine miaute zustimmend. Also ging ich in meine Vorratskammer und sah mich um. Zum Glück stand hinten im Regal noch eine Packung laktosefreier Milch, die ich mal für einen Besuch besorgt und dann doch nicht gebraucht hatte, und weiter unten fand sich sogar noch eine Beutel Brekkies. Die hatte ich in einem Anfall von Motivation vor einiger Zeit gekauft, um sie der Katzennothilfe zu spenden, aber dann hatte ich es nicht mehr geschafft, sie auch tatsächlich dort abzugeben. Nun gut, dann würde ich jetzt eben Nothilfe hier zu Hause leisten.


    Ich füllte Milch und Brekkies in zwei kleine Schälchen und stellte sie der kleinen Katze hin, die sich sofort darauf stürzte, als hätte sie seit Tagen nichts zu fressen bekommen. Vielleicht war dem auch so? Ich betrachtete sie genauer. So richtig ungepflegt sah sie eigentlich nicht aus, aber wer wusste schon, wie lange sie schon unterwegs war. Jetzt an Weihnachten hatte natürlich auch kein Tierarzt mehr offen, der hätte kontrollieren können, ob sie gechipt war. Aber mangels Transportkiste hätte ich ohnehin nicht gewusst, wie ich die Katze zu einer Praxis hätte hinbringen sollen.


    Ich ließ die Katze in Ruhe fressen und setzte mich wieder ins Wohnzimmer. Es dauerte nicht lange und die kleine Katze kam aus der Küche stolziert, sprang zu mir aufs Sofa und begann, sich ausgiebig zu putzen. Als sie damit fertig war, rollte sie sich schnurrend neben mir zusammen und schlief ein. „Was machen wir denn nun mit dir?“, fragte ich die leise schnarchende Katze. Sie wieder vor die Tür zu setzen, brachte ich nicht übers Herz. Draußen war es kalt und neblig, das wollte ich ihr nicht antun, und vielleicht würde sie ja von allein wieder gehen, wenn sie ausgeschlafen hatte. Wenn ich ehrlich war, war ich für ein bisschen Gesellschaft sogar richtig dankbar, denn ich fühlte mich schon nicht mehr ganz so einsam, seit mir das Tier ins Wohnzimmer geschneit war. In Gedanken nannte ich sie schon „Flocke“, auch wegen des kleinen weißen Flecks, der neben ihrer Nase auf ihrem sonst tiefschwarzen Fell prangte, als hätte sich eine kleine Schneeflocke dort hingesetzt.

    Also entschied ich, die Katze fürs erste schlafen zu lassen, kochte mir noch eine Kanne Tee, kramte meinen neuesten „Nordic Noir“-Krimi aus dem Regal (nichts half besser gegen den Weihnachtsblues als problembeladene skandinavische Ermittler, die in düsterer Atmosphäre komplizierte Mordfälle lösen mussten) und machte es mir neben Flocke gemütlich. Doch die kleine Katze schlief und schlief, bis auch ich irgendwann kaum noch die Augen offen halten konnte und einsehen musste, dass es Zeit war, selbst schlafen zu gehen. Nur wohin mit der Katze? Drinnen behalten konnte ich sie nicht, denn ich besaß kein Katzenklo und auf ein Malheur auf dem Teppich hatte ich wenig Lust. Seufzend ging ich in die Abstellkammer und kramte eine alte Kiste und eine noch ältere Decke hervor. Flocke, die inzwischen wieder wach geworden war und sich ein weiteres Mal in der Küche gestärkt hatte, beäugte mich misstrauisch. „Tja, Miezelkatz, es tut mir ja leid, aber du wirst wohl draußen übernachten müssen!“, erklärte ich ihr.


    Ich baute einen provisorischen Unterschlupf in einer geschützten Ecke der Terrasse und setzte Flocke hinein. Sie protestierte lautstark und wollte zurück ins Wohnzimmer, doch ich blieb hart. „Das Jesuskind musste auch draußen im Stall übernachten, da schaffst du es auch hier in deiner Kiste, meine Liebe! Wenn du morgen früh noch da bist, lasse ich dich wieder rein!“. Flocke warf mir einen vernichtenden Blick zu, als wolle sie sagen, was geht mich das Jesuskind an, aber ich schlüpfte schnell zurück ins Wohnzimmer, schloss die Tür zu und ging schlafen.

    Zugegeben, ich schlief nicht so wirklich gut in dieser Nacht. Ich habe einfach ein zu weiches Herz, träumte von frierenden Katzen und war am nächsten Morgen sehr früh wach. Ein Blick durch die Terrassentür zeigte mir eine leere Katzenkiste, Flocke war verschwunden. Hatte sie es mir doch übelgenommen, dass ich sie ausgesperrt hatte? Ich beschloss, erst einmal duschen zu gehen und Frühstück zu machen. Und siehe da, als ich eine halbe Stunde später wieder ins Wohnzimmer kam, saß mein Gast vom Vorabend wieder draußen vor der Tür und blickte auffordernd durch die Scheibe. Kaum hatte ich sie hereingelassen, spazierte sie auch schon in die Küche um zu frühstücken und machte es sich anschließend wieder auf meinem Sofa gemütlich.


    So verbrachten wir einträchtig die Weihnachtstage miteinander und dank Flocke fühlte ich mich auch gar nicht mehr einsam. Im Gegenteil, es war richtig heimelig, auf der Couch zu sitzen und zu lesen, Tee, Stollen und eine Kerze auf dem Tisch davor und neben mir die schlafende Katze. Ich vermisste keinerlei menschliche Gesellschaft mehr und war sogar richtig dankbar, dass nicht einmal das Telefon läutete, denn mein Krimi war so spannend, dass jeder Anruf nur gestört hätte. Am Abend des zweiten Feiertags wurde mir richtig schwer ums Herz, als ich meinem kleinen Gast erklären musste, dass unsere gemeinsam Zeit nun zu Ende ging. Am folgenden Tag musste ich ja wieder zur Arbeit und eine fremde Katze wollte ich doch nicht den ganzen Tag unbeaufsichtigt in meinem Haus haben. Flocke schaute mich lange an, ließ sich dann aber widerspruchslos in ihre Kiste auf der Terrasse setzen, denn das kannte sie ja nun schon. Ich wünschte ihr noch eine gute Nacht und ging zu Bett.


    Als ich am nächsten Morgen in aller Frühe das Haus verließ, traf ich Flocke draußen auf dem Gehweg. Sie begleitete mich noch ein Stück Richtung Bushaltestelle, bog dann aber bald rechts ab, sprang über einen Zaun und verschwand in die Gärten der Reihenhaussiedlung.


    Ich habe Flocke nicht wiedergesehen. Keine Ahnung, was aus ihr geworden ist – vielleicht hat sie eine neue Familie gefunden oder sie ist in ihr altes Zuhause zurückgekehrt? Vielleicht waren ihre eigentlichen Besitzer ja über die Feiertage verreist und hatten sie aus Versehen ausgesperrt? Ich weiß es nicht, aber ich hoffe, es geht ihr gut, wo auch immer sie jetzt ist. Und manchmal denke ich mir, vielleicht war Flocke auch einfach nur ein Geschenk des Himmels – und dann schicke ich einen dankbaren Gruß in Richtung Wolken.

  • Der 10. Dezember von Batcat



    WEIHNACHTEN BEI KÖNIGS


    Wer die Adventszeit als „stille Zeit“ und „Zeit der Besinnlichkeit“ bezeichnete, hatte keine Ahnung von der Realität, fanden die Königs.


    Wie immer war die Vorweihnachtszeit die geschäftigste Zeit des Jahres bei Ihnen. Was da alles anstand: Eröffnungen, Ordensverleihungen, Ausstellungen, Auszeichnungen… ein Termin jagte den anderen, ein Galadinner reihte sich ans Nächste… gefühlt lebten sie in dieser Zeit nur noch im Auto und fielen Abends ermattet ins Bett. Gut, das Auto war meist ein Bentley oder Rolls, sie fuhren also sehr komfortabel, aber das ständige Lächeln, Nicken und Händeschütteln ermüdeten doch enorm und selbst im Auto waren sie nicht vor Blicken geschützt, so dass auch ein erholsames, kleines Nickerchen zwischendurch entfallen musste.


    Doch endlich war es geschafft: am Abend des 23.12. war schließlich auch der letzte Termin absolviert.


    Gut gelaunt winkten Königs ihren Bediensteten nach, die skeptisch in die Feiertage fuhren. So etwas hatte es ja noch nie gegeben: die Herrschaften wollten 2 Tage für sich sein und gaben allen Angestellten frei. Lediglich der MI6 durfte wie üblich den Palast bewachen, bekam aber die strikte Order, sich der kleinen Handvoll wirklich privater Privaträume nur auf Aufforderung oder bei Gefahr im Verzug zu nähern. Erst zum feierlichen Weihnachtsgottesdienst am 25.12. sollten alle wieder auf ihren Posten sein.


    Zufrieden hängte der König seine Krone an ihren Platz an der Garderobe und sortierte seine Orden der Reihe nach in die Ordensschublade. Die unbequemen Lackschuhe tauschte er sofort gegen seine geliebten Cordpuschen aus, die so bequem waren, wie Hausschuhe nur sein konnten. Ein karierter Flanellpyjama und der Morgenmantel mit den lila Punkten komplettierten das Feierabendoutfit. Glücklich ließ er sich auf die durchgesessene Couch im kleinen Wohnzimmer plumpsen, das überhaupt nicht pompös, sondern sehr behaglich eingerichtet war.


    Nur wenig später öffnete sich die Türe und seine Frau trat ein. Im Freizeitanzug, ungeschminkt und mit ungestylten Haaren sah sie glatt 20 Jahre jünger aus. So liebte er sie am meisten. Sie trug eine Familienpizza vor sich her… Scott vom MI6 war so reizend gewesen und hatte sie für sie geholt. Der Abend konnte starten.


    Die beiden kuschelten sich auf der Couch aneinander, mampften sehr zufrieden ihre Pizza und suchteten die erste Staffel von „The Crown“ am Stück durch. Gut, manches hatte sich natürlich anders zugetragen, aber die Macher hatten ihre Infos ja schließlich auch nicht aus erster Hand.


    Den nächsten Morgen begannen sie mit einem ausgiebigen Frühstück im Bett. Anschließend drehten sie ein paar Runden im Park und spielten Karten: Rommé, Canasta, aber auch einige Partien Poker, bei denen der König etliche Pfund an seine gewiefte Frau verlor, die ihn ohne mit der Wimper zu zucken, kräftig abzockte. Sie hatten einen Heidenspaß.


    Am Abend gab es Bockwürstchen und Kartoffelsalat, dazu Bier aus der Flasche. Nach all den Gelagen der letzten Zeit schmeckte ihnen dieses bescheidene Mahl besser als jeder Festtagsbraten. Zufrieden prosteten sie sich zu. Selbst für die Hunde, die ständig um ihre Füße wuselten – eine Art von Erbe, das ihnen seine Mutter hinterlassen hatte – und ihnen hungrige Blicke zuwarfen fielen ein paar Wurstzipfel ab. So freuten sich alle über ihr Essen.


    Danach gab es – nach Art ihrer deutschen Familie – Bescherung am Heiligabend. Der „offizielle“ Weihnachtsbaum in der großen Eingangshalle war etliche Meter hoch und überbordend geschmückt. Doch ihr eigener kleiner Weihnachtsbaum war keinen Meter hoch und um ehrlich zu sein, war er auch ein bisschen krumm gewachsen. Doch er war vom König in einer kleinen Nacht- und Nebelaktion eigenhändig im Park gefällt worden und von seiner Frau mit viel Liebe mit von den Enkeln selbstgebastelten, kleinen und schiefen Anhängern bestückt worden. In den Augen der Königs war es der schönste Baum, den sie je gehabt hatten.


    Eigentlich hatten sie ja alles, aber dennoch schenkten sie sich Jahr für Jahr eine Kleinigkeit. Dieses Jahr schenkte er seiner Frau pinkfarbene Wellington Gummistiefel, während seine Frau ihm rote Ohrenwärmer gehäkelt hatte.


    Nach dem Abendessen hörten sie poppige Weihnachtslieder und tanzten gemeinsam durch ihre Privaträume, verfolgt von einer munter kläffenden Hundeschar. Dabei sangen sie ebenso laut wie falsch mit. Was für ein wunderbarer Abend!


    Zum Abschluß machten sie es sich mit einem Krug Weihnachtspunsch vor dem Fernseher bequem und sahen sich seine Weihnachtsansprache an, die natürlich bereits am 23.12. aufgezeichnet worden war. Danach zappten sie umher und blieben bei „Tatsächlich Liebe“ hängen, ein unbedingtes Muss zur Weihnachtszeit.


    Der Krug mit dem Punsch war groß, der Abend wurde entsprechend lang und lustig. Sehr zufrieden und glücklich sanken Königs am frühen Morgen leicht angeheitert in ihre Betten. Das Leben konnte so wunderbar sein.


    Doch kaum hatten sie die Augen geschlossen, wurden die Vorhänge zurückgezogen und der König wurde von der strahlenden Wintersonne geweckt. „Guten Morgen, Herr König… oder sollte ich sagen: Guten Mittag? Es ist 11 Uhr und wenn Sie rechtzeitig zum Weihnachtsgottesdienst kommen möchten, sollten Sie – mit Verlaub – mit der Morgentoilette beginnen!“


    Seufz. Der Alltag hatte sie wieder.

  • Der 11. Dezember von Dieter Neumann



    Uwe und Ulyana kennen sich nicht.


    Uwe wohnt mit seiner Frau in einer Mietwohnung im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses irgendwo in Deutschland. Er ist achtundfünfzig Jahre alt und Lagerist in einem Möbelhaus. Und sauer ist er, stinksauer. Auf sehr viel, zum Beispiel auf die Klimaaktivisten, die Lügenpresse und die Spritpreise, auf die Flüchtlinge und die Gendersternchen. Vor allem aber auf die da oben, die Politiker. Die Winnetou verboten haben und das Zigeunerschnitzel. Die dafür sorgen, dass man seine Meinung nicht mehr sagen kann, und die ihm nun auch noch zumuten, fast das Dreifache für Strom und Gas zu bezahlen.

    Gerade hat er seiner Frau erklärt, dass sie zu Weihnachten den Gürtel enger schnallen müssen. Sie hat einen schrägen Blick auf seinen Bauch geworfen, aber er hat sich dadurch nicht beirren lassen. Keine teuren Geschenke in diesem Jahr!, hat er kategorisch gesagt.

    So schlimm sei es doch gar nicht, hat sie gewagt zu widersprechen. Sie hätten doch gerade die dreihundert Euro vom Staat bekommen, und die Gasrechnung für Dezember müssten sie auch nicht selbst bezahlen, und ab dem Frühjahr würden ja die Gas- und Strompreise gedeckelt.

    Alles nur Almosen von denen da oben!, brüllt Uwe, geht in die Küche und holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Und was ist mit der Inflation?, ruft er wütend. Alles wird teurer, sogar die Butter. Und Brot vom Bäcker kann man sich gar nicht mehr leisten. Hast du selbst gesagt, als du gestern vom Einkaufen kamst.

    Sie nickt.

    Sie arbeiten gegen das eigene Volk, das ist die Wahrheit!, sagt er, kommt zurück ins Wohnzimmer, lässt sich in seinen Fernsehsessel fallen und trinkt einen Schluck aus der Flasche. Aufhören werden sie erst, wenn sie uns umgevolkt haben.

    Was für ein Weihnachten soll das diesmal nur werden?, fragt seine Frau verzagt.

    Ein beschissenes, sagt Uwe, jedenfalls für uns. Nur den Ukrainern, die sie gegenüber einquartiert haben, denen geht´s prächtig. Kriegen alles vorn und hinten reingesteckt. Brauchen sich um ihr Fest keine Sorgen zu machen. Zahlen alles wir.


    Ulyana ist fast achtzig und wohnt mit ihrer Familie ebenfalls im dritten Stock eines Mietshauses. In Kyjiw in der Ukraine. Besser gesagt, sie wohnte dort. Heute lebt sie zwar immer noch an derselben Adresse, allerdings im Keller. Die Wohnung ihres Enkels ist seit Wochen eine Schuttwüste. Alles über dem Keller ist unbewohnbar. In dem, was einst Großmutter Ulyanas Zimmer war, liegen aufgetürmt Betonbrocken, verbogene Eisenträger und verkohltes Holz. Und durch die Löcher in den Wänden fährt der Wind. Der immer kälter wird.

    Ulyanas Enkel ist Soldat, was sonst. Jeden Tag betet sie für ihn. Und natürlich für seine Frau und die drei Urenkelkinder, die jetzt in Deutschland sind. In Sicherheit.

    Ulyana wollte die lange Reise nicht mehr auf sich nehmen. In ihrem Alter und mit dem schweren Rheuma. Hier wolle sie bleiben, hat sie gesagt, auf alles aufpassen, bis der Krieg vorbei und alle wieder zu Hause seien.

    Jetzt hockt sie, eingehüllt in zwei Wolldecken, vor einem Holzherd, den jemand in den Keller geschleppt hat, und rührt gewissenhaft im Topf, damit die dicke Suppe nicht anbrennt. Der blasse Schein der Neonröhre an der Kellerdecke fällt auf ein halbes Dutzend dunkler Gestalten. Alle ebenfalls in Decken gewickelt, niemand jünger als Ulyana. In sich zusammengesunken sitzen sie auf Stühlen um den warmen Herd herum. Und schweigen.

    Fernes Grollen der Geschütze, dauernd. Plötzlich kracht es laut, ganz in der Nähe. Wieder ein Einschlag.

    Wenigstens ein Dach über dem Kopf, jetzt, wo Weihnachten kommt, denkt Ulyana. Sie hat schon Schlimmeres erlebt.


    Uwe und Ulyana kennen sich nicht.

  • Der 12. Dezember von Gummibärchen



    Der ungewöhnliche Weihnachtshelfer


    "Wie, Toni kommt nicht mehr? Das ist doch nicht dein Ernst?!" Der Ober-Weihnachtsmann schrie beinahe vor Verzweiflung. Nicht mal zwei Wochen bis zum Heiligabend und der nächste seiner früher mal zahlreichen Weihnachtsmänner hatte von einem Tag auf den anderen gekündigt. Es war zum Haareraufen - der so oft zitierte "Fachkräftemangel" erreichte auch das Weihnachtsdorf, obwohl hier die Arbeit noch Spaß machte und auch sehr gut entlohnt wurde.


    Doch immer mehr Weihnachtsmänner wurden krank, bekamen Rückenschmerzen vom Schleppen der immer schwereren Pakete oder wurden einfach zu alt für die Belastung. Anderen wurde der Schlittenführerschein aufgrund zu hoher Geschwindigkeit oder des Fahrens mit 5 Glühweinen intus abgenommen. Zudem fehlte es einfach an Nachwuchskräften.


    Der Ober-Weihnachtsmann berief ein Krisentreffen ein - er, das Ober-Christkind, einiger seiner besten Weihnachtsmänner und der besten Christkinder sowie ein paar auserwählte Elfen waren anwesend.


    "Hallo zusammen. Ich mache es kurz - die Lage ist ernst. Wenn wir uns nicht was einfallen lassen, werden einige Menschen dieses Jahr ihre Geschenke erst nach Weihnachten bekommen, vielleicht erst im nächsten Jahr oder im schlimmsten Fall gar nicht. Also los, Brainstorming, was können wir tun?"


    "Wir könnten unsere Digitalisierung vorantreiben und die Geschenke mit Hilfe von Drohnen verteilen."


    "Weihnachtsfrauen sind die Lösung, predige ich hier schon seit Jahren!"


    "Wir sollten wieder mehr ausbilden, das haben wir sehr lange etwas vernachlässigt."


    "Vielleicht auch Menschen einstellen, die nicht unbedingt am Nordpol geboren sind, da wird die Auswahl schlagartig größer"


    "Die Höchstgeschwindigkeit für Schlittenfahrten aufheben, dann geht das Ganze auch schneller voran."

    "Nachwuchsakademie - das mit der Vernachlässigung der Ausbildung ist leider wahr, lieber Chef."


    Die Gruppe überschlug sich nur so mit Vorschlägen. Der Ober-Weihnachtsmann sah allerdings nicht ganz glücklich aus.


    "Das sind teilweise gute Ideen dabei, da sollten wir auf jeden Fall darüber bald reden, aber wir brauchen aktuell kurzfristige Lösungen - für Geschwindigkeitsänderungen, Einsatz von Weihnachtsfrauen oder Einstellung von Nicht-Einheimischen benötigen wir Gesetzänderungen. Der Aufbau einer Nachwuchsakademie braucht Zeit. Das muss jetzt einfach viel schneller gehen." Der Ober-Weihnachtsmann seufzte und kratzte sich am Bart. Einfach eine Stellenanzeige zu schreiben und zu veröffentlichen kam nicht in Frage, er müsste diskreter vorgehen. Aber es war dringend notwendig, möglichst schnell Unterstützung zu erhalten.


    "Wie wäre es," überlegte das Ober-Christkind laut "wenn alle Weihnachtsmänner mindestens zwei-drei weitere Weihnachtsmänner im Freundes- und Bekanntenkreis sozusagen anwerben? Meine Christkinder könnten zusammen mit den Elfen eine Vorauswahl treffen, damit Du dann ein paar Kurzinterviews führen kannst, so dass wir zumindest 10 neue Weihnachtsmänner zusammen bekommen."


    "Die Anzahl würde auf jeden Fall helfen. Traut ihr euch das denn zu? Die Interviews würde ich ja gerne spätestens übermorgen führen."


    Trotz der Kurzfristigkeit stimmten alle Beteiligten sofort zu. Eine bessere Idee hatte aktuell niemand und man war sich einig, dass es wichtig war, das Weihnachtsfest zu retten - inkl. der Auslieferung der Geschenke. Also trennte sich die Gruppe und machte sich an die Arbeit.


    --- 2 Tage später ---


    "Sie sprechen also mehrere Sprachen und können somit viele Wunschzettel auch übersetzen? Das ist sehr gut." Der Ober-Weihnachtsmann lächelte den etwas lässig dreinschauenden Herrn an. "Und Sie machen einen sehr sportlichen Eindruck, was durchaus Vorteile beim Kaminrunterrutschen bieten könnte. Hm... Warum möchten Sie denn als Weihnachtsmann arbeiten?"


    "Nun ja," fing er an und grinste. "Ich habe einen ziemlich großen Sack. Das passt doch zum Beruf, oder?"


    Der Ober-Weihnachtsmann und das Ober-Christkind sahen sich kurz verwirrt an.


    "Außerdem hab ich recht große Kugeln." Er lachte laut und zwinkerte das Ober-Christkind an. "Für den Weihnachtsbaum und so."


    "Wir melden uns", sagte dieses und öffnete demonstrativ die Tür. Es guckte angewidert ihren Chef an und bat den letzten Bewerber rein.


    --


    "Sie würden mit Ihrer Statur natürlich wunderbar durch den Kamin passen", sagte der Ober-Weihnachtsmann zu dem schmächtigen Mann vor ihm. "Aber haben Sie auch genug Kraft, um schwere Geschenkpakete auszuliefern?"


    "Ich liefere keine Geschenke aus."


    "Wie bitte?"


    "Sie haben mich schon richtig gehört. Ich singe und bete mit den Kindern, ich helfe beim Übersetzen der Wunschzettel, ich verfüge über wunderbare Ortskenntnisse auf der ganzen Welt. Aber Geschenke! Vergessen Sie es!"


    "Ab...aber...das gehört doch zu Weihnachten irgendwie dazu."


    "Das gehört irgendwie dazu! Wenn Sie sich nur zuhören würden! Die Menschen haben auch Sie schon versaut! Nee, lieber Herr Ober-Weihnachtsmann, ohne mich! Diesen Konsumwahnsinn unterstütze ich nicht. In jedem Haus zwei Fernseher und vier Spielekonsolen, dann sitzen sie alle davor, essen den gesamten Adventskalender an einem Tag leer , jammern, wie schlecht es ihnen geht und statt sich mal in Verzicht zu üben, häufen sie immer mehr an. Und dann soll mal solchen Leuten noch was schenken? Nee, nee, da mache ich nicht mit." Der schmächtige Herr redete sich in Rage, bis das Ober-Christkind und der Ober-Weihnachtsmann ihn sanft unterbrochen und erstmal verabschiedet haben.


    Sie sackten etwas ratlos zusammen. 40 Bewerber hatten sie gesprochen und waren entsetzt, was sie sich alles angehört haben.


    "Das war wohl nichts."


    "Nee, leider. Wobei der letzte fast schon witzig war. Wie der sich immer mehr aufgeregt hat. Dem glühten ja regelrecht die Ohren." Das Ober-Christkind musste selbst ein wenig kichern. Doch der Weihnachtsmann dachte kurz nach. Ohren...klar, das war die Lösung!


    "Ober-Christkind, ruf bitte den Osterhasen an. Der soll sofort seinen Urlaub abbrechen und zu uns kommen."


    --


    "Wie bitte? Du hast Dich nicht früh genug um den Nachwuchs gekümmert und jetzt sollen alle meine Hasen das Weihnachtsfest retten? Schlimm genug, dass jedes Jahr die übrigen Schoko-Osterhasen eingeschmolzen werden, um Eure Majestät draus zu machen, jetzt sollen wir in unserem Urlaub eure Geschäfte erledigen? Vom Haus zum Haus hoppeln und Geschenke verteilen, nur weil wir schneller und zahlreicher sind? Was kommt als nächstes? Werden wir am Silvester mit den Raketen in die Luft gejagt?"


    "Es ist doch nicht für mich. Tut es doch für die Kinder. Und ihr müsst ja auch nicht alles austragen, nur die vielen kleinen, leichteren Geschenke. Wenn Du möchtest, helfen wir euch auch an Ostern aus."


    "Okay," stimmte der Osterhase zu, "aber wir machen das auf unsere Weise und Du laberst da nicht rein. Die Geschenke werden ankommen, dafür gebe ich Dir mein Wort. Rest überlässt Du mir und meinen Hasen."


    "Okay", stimmte der Ober-Weihnachtsmann zu und lächelte das Ober-Christkind erleichtert an. Das Weihnachtsfest war gerettet.


    --


    25.12.2022:


    Und zum Schluss der heutigen Tagesschau noch eine amüsante und zugleich verwirrende Meldung:


    Dieses Jahr erlebten die Kinder auf der ganzen Welt ein ganz besonderes Weihnachtsfest. Einige Geschenke fanden sie unter dem Weihnachtsbaum, aber eine Menge anderer (meist kleinerer) Geschenke mussten bzw. durften die Kinder unerwartet z.B. im Garten, im Wald oder im Park suchen, teilweise im tiefsten Schnee. Wie es zu diesem Ereignis kam, ist unklar. Noch mysteriöser erscheint das Ganze im Zusammenhang mit einer Nachricht, die jedes Geschenk erhielt. "Versetzt dich dein Geschenk in Ekstase? Denk daran, geholfen hat hier der Osterhase. Ein besinnliches Weihnachtsfest für dich und deine Familie."

  • Der 13. Dezember von Magico


    Und wieder war es Weihnachten


    Und wieder war es Weihnachten. Es war immer Weihnachten. Jedes verdammte Mal, wenn er aus dem Schlaf erwachte, war es Weihnachten. Das ermüdete ihn so schrecklich. Schon kam jemand um die Ecke, klatschte geschäftig in die Hände und rief: "Guten Morgen, Chef, ich habe bereits alle Kleider bereitgelegt. Sie müssen nur noch angezogen werden."

    Oh nein! Immer diese Arbeitskleidung, immer dieselbe, abgetragene Uniform. Er war so unendlich müde. Wieso musste er immer wieder dieses alberne Kostüm anziehen? Und dann diese furchtbare Farbe. Die stand ihm überhaupt nicht. Überhaupt würde er viel lieber Grün tragen. Oder Petrol. Diesen Farbton mochte er sehr.

    Behäbig stand er vom knarzenden Bett auf und schlurfte zum Badezimmer. Als er die Tür öffnete, stieß ihm eine Dampfwolke entgegen, denn man hatte ordentlich geheizt.

    Das warme Bad tat ihm wirklich gut. Eines der wenigen Dinge, die er nicht oft genug haben konnte.

    "Chef! Das Frühstück wird kalt!"

    Er verdrehte die Augen. Nicht mal in Ruhe baden konnte man hier. So erhob er sich aus dem Wasser, tropfte beim Heraussteigen die flauschige Fußmatte voll und griff zur Zahnbürste, auf der schon Zahnpasta verteilt war. Mit seiner knubbeligen Hand wischte er den beschlagenen Spiegel ab und betrachtete die dunklen Augenringe, die ihm traurig entgegenblickten. Wie viele Jahre machte er das jetzt schon? Er konnte sie nicht mehr zählen, aber er wünschte sich, dass die Tage für ihn gezählt wären. Doch da hatte er sich den falschen Beruf ausgesucht. Eigentlich hatte er sich den gar nicht selbst ausgesucht, sondern er war hineingeboren worden. So wie Angehörige einer Adelsfamilie. Ein verdammter Mist war das.

    "Chef! Die Eier …" Mehr hörte er nicht, denn er schrubbte nun so laut seine Zähne, dass alle Geräusche um ihn herum verblassten. Bald hatte er nicht nur den Belag runter, sondern fast auch den Zahnschmelz. Es war ohnehin beachtlich, dass er noch seine Originalzähne hatte. Beinahe ein Wunder. So, wie er selbst eines war. Ein übles Wunder allerdings. So befand er die Situation zumindest.

    Mit einem tiefen Seufzer schlüpfte er in seine Arbeitskleidung, trat aus dem Badezimmer und lief dem Duft des Kaffees hinterher ins Esszimmer. Er setzte sich ans kleine runde Fenster, an den reichlich gedeckten Tisch. Frisch gebackene Brötchen, gekochte Eier, Honigmelone mit Parma-Schinken, Couscous-Salat, rote, gelbe und grüne Marmelade, Lachs … es ging ewig so weiter.

    Draußen, vor dem Fenster tanzten dicke Schneeflocken. Sonst war es stockfinster. Hier war es immer stockfinster. Jedenfalls zu Weihnachten, aber genau dann musste er raus. Oh, wie ermüdend das alles war. Wer hatte sich eigentlich diesen Standort ausgesucht? Diejenige Person verfluchte er jedes Mal auf's Neue. Immer dunkel, immer kalt. Wenigstens war es in seinem Haus ordentlich warm und ordentlich gemütlich.

    "Chef, wie schmeckt das Frühstück?"

    Er sah auf den kleinwüchsigen Koch herab und machte eine kreisende Handbewegung, denn er hatte den Mund voll.

    "Hm … guter Kaffee", sagte er schließlich und sah wieder aus dem Fenster.

    "Chef, die Inspektion wartet."

    Auch frühstücken konnte man hier nicht in Ruhe. Er trat in die Produktionshalle. Geschäftiges Treiben, lautes Gehämmer, quietschende Förderbänder, wuselnde Mitarbeiter. Stichprobenartig kontrollierte er die Produkte und nickte sie allesamt ab. Noch nie hatte er einen Fehler entdeckt. Eigentlich war es total überflüssig, aber es gehörte zum Ritual. Man wollte den Schein waren. Den Schein, dass das hier alles total besonders und total wichtig war.

    Die Stunden zogen sich dahin. Dauernd Termine, dauernd wollte irgendwer irgendwas und dauernd war eins noch wichtiger als das vorherige.

    Schließlich wurde es Abend und man rief ihn in den Stall oder wie er zu sagen pflegte: Die Garage. Dort standen sie. Seine Zug- und Lastentiere. Schnaufend, kauend und Futter wieder ausscheidend.

    Er seufzte tief, streichelte jedes Einzelne von ihnen, kontrollierte die Arbeit der Mitarbeiter und begab sich dann ins Gefährt.

    "Auf ein Neues", sprach er zu sich selbst, nahm die Zügel in die Hand, schmiss sie schnalzend durch die Luft und schon hoben sie ab. Die Wichtel winkten ihm fröhlich hinterher, er winkte gespielt fröhlich zurück. Immer diese aufgesetzte Fröhlichkeit. Fast so schlimm wie Fasching.

    Ein lautes "HOHOHO" verließ seinen Mund. Und wieder war es Weihnachten.




  • Der 14. Dezember von Doc Hollywood



    Der Raum


    Wie jeden Tag saß er in dem zerschlissenen, karierten Sessel nahe am Fenster. So nah, dass seine Knie beinahe die Glasscheibe des raumhohen Fensters berührten. Der Sessel hatte 214 Quadrate, abwechselnd in rot und grün gehalten. Vielleicht sogar eins mehr. Er war sich darüber mit Viktoria uneins. Sie hatte mit ihm eines Tages den Sessel auf den Kopf gedreht, damit sie keines der Quadrate beim Zählen übersehen würden. Viktoria hatte auf ein unvollständiges Quadrat gedeutet, dass hinter einer umgeschlagenen Naht beinahe vollständig verschwand und es einfach mitgezählt. Er war strikt dagegen. So etwas war kein Quadrat, ein Dreieck bestenfalls. Ein sehr kleines Dreieck noch dazu. Sie waren darüber furchtbar in Streit geraten. Seitdem reagierte er kühl und distanziert auf sie. Ein grummelndes Seufzen entfuhr ihm. Er ließ die Schultern sinken und sah hinaus. Über Nacht hatte sich eine dicke Schneedecke über die Welt da draußen gelegt.


    "Es hat geschneit", sagte Biru leise. An manchen Tagen konnte er ihren asiatischen Akzent nicht ertragen. Heute war so ein Tag. Er antwortete nur mit einem unwirschen, kehligen Brummen. Er sah sie nicht an, musste er auch nicht. Er konnte sie vor sich sehen, wie sie da hinten in der Ecke saß. Immer am gleichen Platz, auf einem dieser Stühle mit den verchromten Metallbeinen und den orangefarbenen Plastikschalensitzen, die immer nach Desinfektionsmitteln rochen. Stets saß sie dort, zusammengekauert und verdorrt wie ein Blumenstrauß, der seit Jahren kein Wasser bekommen hatte. Manchmal stellte er sich vor, dass er sie nur anzustupsen brauchte und sie vor seinen Augen zerbröseln würde. Sie hatte vor sich auf dem Tisch bestimmt wieder das Puzzle liegen, bei dem das eine Teil mit dem halben Kopf der Freiheitsstatue fehlte. Man konnte so ihr Gesicht nicht sehen, das machte ihn wütend.


    Die Tür hinter ihm wurde schwungvoll geöffnet. Er konnte Viktoria riechen. Sie hatte wieder dieses Parfüm aufgetragen und wie immer war es dieser Tick zu viel davon. Sie konnte es nicht lassen. "Oh, wie wundervoll!", sagte sie und tippelte mit kleinen Schritten, die ihr zu eigen waren, neben ihn an das große Fenster. Er rümpfte hörbar die Nase und ließ sich etwas tiefer in den Sessel sinken.

    "Wir sollten diesen schönen Tag nutzen und einen Spaziergang durch den Park machen", schlug sie vor.

    "Ja, ich werde da raus gehen und mir ein Bein oder Schlimmeres brechen. Das würde Dir so passen", entgegnete er missmutig. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Viktoria hinüber zu Biru schielte und mit den Augen rollte.

    "Aber Du kannst Dich doch bei Biru und mir unterhaken", sagte Viktoria. "Dann passiert Dir schon nichts." Biru lachte leise auf. Er sah zu der asiatischen Greisin hinüber, die wie in Zeitlupe ein Puzzleteil aufnahm und es zittrig über den Tisch hielt. "Die stirbt uns doch schon beim Anziehen ihres Wintermantels unter den Händen weg", murmelte er und blickte wieder hinaus auf die weiße Landschaft. Viktoria seufzte, tätschelte seine Schulter und ging hinüber zu Biru. Geräuschvoll zog sie einen der Metallstühle hervor und setzte sich zu ihr an den Tisch.


    Soviel Schnee hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Als Kind vielleicht. Er versuchte sich zu erinnern, doch heute schien wieder so ein Tag zu sein, an dem es in seinem Kopf neblig war. Dichte, undurchsichtige Schwaden, die stets dann, wenn er gerade einen Blick auf eine Erinnerung erhaschen wollte, sich weiter zuzogen und eine Wand bildeten. Undurchdringbar. Einen Schneemann bauen, Schneebälle mit den bloßen Händen formen, bis die Finger rot wurden und kribbelten vor Taubheit. Und dann war mit einem Mal wieder der weiße Nebel da. Er starrte hinaus.


    Ein zaghaftes Klopfen am Türrahmen und ein dünnes "Hallo" erklangen. Seine Gesichtszüge hellten sich auf. Er stemmte sich aus dem Sessel soweit hoch, dass er sich bequem der Tür zuwenden konnte und lächelte. "Komm rein, Tristan", rief er dem Jungen zu, der einen gelben Spielzeugbagger in der Hand hielt und ihn erwartungsvoll ansah. Als Tristan eintrat, nickte er freundlich den zwei Frauen am Tisch in der Ecke zu.

    "Na, wo drückt der Schuh, Tristan?", fragte er sanft, während er sich wieder in den Sessel sinken ließ.

    Der Junge hielt ihm den Bagger hin und kramte mit der anderen Hand in seiner Hosentasche, aus der er ein abgebrochenes Rad fischte. "Ist gestern Abend passiert, als ich drüber gestolpert bin", erklärte er. "Kannst Du das in Ordnung bringen?"

    Er nahm den Bagger und das Rad und sah sich den Schaden an. "Da ist nur die Achshalterung etwas ausgebrochen und hat jetzt zuviel Spiel." Er deutete auf den Riss im Plastikgehäuse. "Das bekommen wir mit etwas Klebstoff wieder hin", konstatierte er zuversichtlich.

    "Bring mir mal den Kleber aus der oberen Schublade." Sein ausgestreckter Daumen zeigte auf die Regalwand hinter ihnen. Der Junge lief los, kramte in der Schublade und stand erwartungsvoll im Nu wieder neben ihm und schraubte vorsichtig die Verschlußkappe ab. Er nahm Tristan die Klebstoffflasche aus der Hand und gab ein paar Tropfen auf die gebrochene Stelle. Während er mit einer Hand die so reparierte Fläche fest zusammenpresste, durchsuchte er mit der anderen seine Hosentasche und holte ein rotes Gummiband hervor. Er lächelte triumphierend den Jungen an und schlang den Gummi mehrmals um den Bagger. Danach ließ er das Rad wieder einrasten. "Du musst den Kleber jetzt ein paar Stunden trocknen lassen, aber heute Abend kannst Du das Gummiband entfernen und wieder damit losspielen, ok?"

    "Ok!" Tristan nickte freudig und strahlte ihn an. "Vielen Dank!" Er rannte mit dem Bagger in den Händen zur Tür.

    "Kommst Du heute Abend kurz zur Bescherung vorbei?", rief er dem Kleinen hinterher, doch der hörte ihn schon nicht mehr.


    Er schaute wieder hinaus auf die Welt, die erstarrt schien, als ob jemand mitten im Film die Stopp-Taste gedrückt hätte. Manchmal hatte er das Gefühl, dass sein Leben auch mittendrin angehalten worden wäre. Stillstand. Als ob die Zeit nicht vergehen, oder sie manchmal unbemerkt vor seinen Augen verrinnen würde. Er blinzelte. Es dämmerte bereits. Ein paar wenige Lampen im Park malten blassgelbe Kreise auf die schneebedeckten Wege. Hatte er sich nicht gerade erst in den Sessel gesetzt, kurz nach dem Frühstück?

    "Vincent? Wie geht es Ihnen heute?", fragte eine sanfte Stimme direkt neben ihm.

    Er wandte seinen Kopf zu ihr. "Frau Doktor", er nickte der Frau, die neben ihm in die Hocke gegangen war, mit einem schiefen Lächeln zu.

    "Heute Abend ist es soweit, Vincent, wie besprochen."

    Er sah wieder hinaus in den Park und nickte langsam.

    "Nach dem Abendessen, bekommen Sie die letzte Dosis, dann haben Sie endlich Ruhe, Vincent."

    Er wandte sich in die andere Richtung und sah hinüber in die Ecke, in der Biru und Viktoria immer noch zusammen an dem Puzzle saßen und sich leise kichernd unterhielten.

    "Und morgen?", fragte er, ohne seinen Blick von den beiden Frauen abzuwenden.

    "Morgen sind Sie ein anderer Mensch, Vincent, dann gehört dieser Raum nur Ihnen alleine."

    Er wandte sich um und sah die Ärztin an. Mit dem ausgestreckten Daumen deutete er hinter sich in die Ecke. "Und Biru und Viktoria?"

    Sie blickte dem Handzeichen entlang über seine Schulter. Er bemerkte an ihren Augen, dass sie dort niemanden sitzen sah.

    "Biru und Viktoria gibt es dann nicht mehr, Vincent. Aber Ihnen wird es besser gehen, viel besser."

    Er schluckte kurz und nickte.

    Sie drückte seinen Unterarm und erhob sich. "Bis nach dem Abendessen, Vincent."


    In der einen Ecke des Raumes stand ein kleiner, künstlicher Weihnachtsbaum, der mit bunten Lichtern und ein paar silbernen Girlanden geschmückt war. Er saß mit Biru und Viktoria am Tisch, sie hatten gerade aufgegessen und sich gegenseitig mit amüsanten Geschichten unterhalten. Sogar Viktoria war an so einem Abend halbwegs erträglich gewesen und hatte sich einen Großteil ihrer üblichen Besserwisserei gespart. Sie klatschte aufgeregt in die Hände. "So, jetzt aber zu den Geschenken!", rief sie fröhlich aus und zauberte eine kleine Schachtel unter dem Tisch hervor. Biru kicherte und legte ihm einen Briefumschlag mit Weihnachtsmotiven hin. Er sah beide Frauen an und seufzte. "Ich habe leider nichts vorbereitet und das ist mir jetzt ein bisschen peinlich", sagte er und kaute dabei auf seiner Unterlippe.

    Viktoria schob ihm milde lächelnd die kleine, braune Schachtel hin, die mit einer roten Schleife umbunden war. "Na, mach schon auf."

    Er löste die Schleife, hob den Deckel an und schaute auf ein rotes Stoffquadrat.

    "Selbst gemacht, nur für Dich. Damit sind es 215 Quadrate", erklärte sie freudestrahlend.

    "Und Du hattest recht", erwiderte er lächelnd. "Es sind also jetzt wirklich 215." Er nahm das Quadrat aus der Schachtel und drückte es liebevoll mit den Fingern. Viktoria erwiderte stumm sein Lächeln und gab ihm mit ihren Augen einen Wink auf den Briefumschlag von Biru.

    Er öffnete den Umschlag und sah hinein. Kein Brief, keine Karte. Er lachte kurz auf und schüttelte den Inhalt des Umschlags auf den Tisch. Ein Puzzleteil mit dem Gesicht der Freiheitsstatue fiel heraus. Er hatte mit einem Mal einen Kloß im Hals. Seine Hände streckten sich zu Biru und Viktoria aus. Eine Träne floß über seine Wange, als die Beiden seine Hände ergriffen und fest drückten. Er blickte hinüber zur Tür, in der schüchtern Tristan stand, ihm zulächelte und den reparierten Bagger in seinen Händen hielt.

    Nacheinander sah Vincent alle drei noch einmal an. "Ich werde euch vermissen", flüsterte er.


    ENDE

  • Der 15. Dezember von imandra777



    Zwei Welten


    Still und starr ruht der See -

    Menschen eilen, hetzen -

    Meisen am Knödel -

    Menschen eilen, hetzen.


    Nicht ruht die Arbeit -

    ein Reh steht still im Feld -

    mehr Arbeitskräfte ersehnt -

    Eiskristalle glitzern.


    Leise rieselt der Schnee –

    Der Messenger kreischt –

    Die Sterne funkeln –

    Funkelnd verrinnt das Geld.


    Kostbar der Augenblick –

    Kostbar der Lebensunterhalt –

    Sehnsucht nach Geborgenheit -

    Sehnsucht nach Sicherheit.


    Sorgen um Gesundheit und Geld –

    Hetzen durch Geschäfte,

    Geschenke suggerieren Freude,

    müde, gereizte Familienzeit.


    Sterne, Mond, See und Tiere,

    Tankstelle für die Seele,

    Wahrer der Ruhe und Kraft

    im Alltag doch oft
    verkannt

  • Der 16. Dezember von Annabas



    Millie wusste nicht mehr, wie lange sie schon allein im Haus war. Früher gab es noch die Eltern, ihre kleine Schwester Lisi und Martha, die Zugehfrau, aber die Erinnerung an sie alle war mit der Zeit verblasst. Manchmal war Millie deswegen traurig, aber es gab immer etwas, mit dem sie sich ablenken konnte. Ihre Spielsachen musste sie jeden Abend aufräumen, sonst schimpfte die Mutter, und sie hatte in den letzten Tagen das Haus ganz alleine festlich geschmückt. Die Weihnachtszeit war die schönste im Jahr und zuhause war sie am allerschönsten.


    Schon lange war Millie nicht mehr draußen vor der Haustür gewesen. Manchmal schaute sie durch die blanken Fensterscheiben hinaus ins Sonnenlicht, aber im Haus fühlte sie sich sicher.


    An diesem Morgen war es anders als sonst, jemand machte sich am Schloss der Eingangstür zu schaffen. Millie hatte gerade die Schachtel mit dem Weihnachtsengel, der die Spitze des Tannenbaumes im Wohnzimmer schmücken sollte, geöffnet und ihn herausgenommen, als zwei wildfremde Männer und eine Frau hereinpolterten. Erschrocken versteckte sich Millie hinter der alten Garderobe, an der noch Vaters Jacke hing.


    „Man muss natürlich alles einmal richtig sauber machen“, sagte der Mann, der das Haus zuerst betreten hatte. Er hielt einen Schlüsselbund in der Hand. „Lange hatte niemand Interesse daran, hier zu wohnen, Sie können es sich ja denken.“


    Die Eindringlinge gingen die geschwungene Treppe hinauf zu den oberen Zimmern. Millie beobachtete, wie die Frau, nachdem sie die Hand auf das Geländer gelegt hatte, ihre Handfläche naserümpfend ansah und an ihrem Mantel abwischte. Millie wunderte sich darüber, Martha hielt das Haus normalerweise blitzsauber. Wo sollte der Schmutz herkommen?


    „Bis Neujahr sind wir fertig und im Januar können Sie einziehen.“, sagte der Mann mit dem Schlüsselbund, nachdem die drei das Haus inspiziert hatten. „Und es ist ein wirklich gutes Angebot.“ Wieder unten angekommen öffnete er die Eingangstür, so dass die helle Wintersonne in den Flur und auf die in der Luft tanzenden Staubkörnchen fiel. Der Mann und die Frau hatten das Haus schon verlassen und der Mann mit dem Schlüsselbund war gerade dabei, die Eingangstür von außen zu schließen, als Millie sich aus ihrem Versteck traute und ihm hinterher rief: „Das ist unser Haus, niemand sonst darf hier wohnen!“


    Die Tür fiel ins Schloss und die Schritte des Mannes mit dem Schlüsselbund entfernten sich.


    Als die Tür zugeknallt war, kroch Furcht in Millie hoch. Etwas ging hier vor, etwas, das sie nicht verstand. Sie hielt immer noch den großen Weihnachtsengel in der Hand. Sie drückte ihn an sich und fühlte sich etwas getröstet.


    Wenig später drangen wieder Menschen ins Haus. Sie räumten die Möbel – die Möbel von Millies Eltern! – aus den Zimmern, hängten die Vorhänge ab, rollten die Teppiche auf und schafften alles nach draußen.


    Millie lief aufgeregt zwischen den Arbeitern durch und schrie sie an, aber keiner von ihnen nahm Notiz von ihr. Tränen liefen ihr übers Gesicht und als sie sie wegblinzelte, stand sie in der Küche. Wie war sie hierhergekommen? Der große helle Küchenschrank, worin immer die frisch gebackenen Kekse in bunten Metalldosen aufbewahrt worden waren, stand nicht mehr an seinem Platz. Zwei Männer in blauen Arbeitshosen machten sich am großen Gasherd zu schaffen und rückten ihn ein Stück von der Wand ab, während sie sich unterhielten. Der ältere der beiden kroch mit seinem Werkzeugkasten hinter den Herd und trennte die Leitungen ab. Das Mädchen hörte die Unterhaltung der beiden Männer nur in Bruchstücken. „Eine furchtbare Tragödie“, hörte sie den älteren Mann dem jüngeren erzählen, „Gas ausgetreten, ganze Familie tot in ihren Betten gefunden“.


    „Nein“, schrie Millie, „niemand ist tot, sie sind nur kurz weg und werden zurückkommen, und dann ist alles wie früher.“ Sie hielt sich die Ohren zu, drehte sich auf dem Absatz um und rannte die Treppe hinauf in das Zimmer, das sie sich mit Lisi geteilt hatte. Hierhin waren die Männer noch nicht gekommen, alles stand noch an seinem Platz, auch ihr Kleiderschrank. Millie öffnete die Tür, um sich im vertrauten Geruch zwischen ihren Kleidern zu verstecken, aber der Schrank war leer, die Schubfächer voller Staub und auf dem Schrankboden lag eine vertrocknete Maus. Kreischend warf Millie die Schranktür zu und drehte sich um, um sich unter der Bettdecke zu verkriechen, doch das weiche Bett, aus dem sie am Morgen aufgestanden war, bestand nur noch aus dem Gestell und verrosteten Federn. Sie schaute auf den Weihnachtsengel, den sie immer noch in der Hand hielt. Er erwiderte den Blick und lächelte. „Du darfst loslassen“, flüsterte er.


    Millie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, ging nach unten ins Wohnzimmer und hielt überrascht den Atem an. Dort war alles in ein wunderbares Licht getaucht, in der Mitte stand der Weihnachtsbaum, prachtvoll geschmückt, mit dem Engel an der Spitze. Ihr Vater stand davor, er hielt Lisi auf dem Arm und lachte, während ihre Mutter Millie ansah und voller Freude ihre Arme ausbreitete. Millie rannte auf sie zu, und als sich die Arme ihrer Mutter um sie schlossen, wurde die Welt um sie herum ganz hell. Sie war zuhause.

  • Der 17. Dezember von R. Bote



    Ferne Weihnachten


    Als sein Handy mit einem kurzen Ping-Ton eine eingehende Nachricht signalisierte, ahnte Emilio nichts Böses. Er hatte viele Freunde, die ihm gelegentlich über WhatsApp schrieben, erst recht in der letzten Zeit, wo sie sich nicht persönlich treffen konnten. Emilio hatte sich dafür entschieden, die erste Hälfte seines zehnten Schuljahres im Ausland zu verbringen, und nach einigem Überlegen war die Wahl auf Frankreich gefallen. Er hatte sich bei einer Organisation beworben, die Gastfamilien für Austauschschüler vermittelte und für ihn eine passende Familie in der Bretagne gefunden hatte. Seit Ende August lebte er bei den Aubertins, jetzt hatten gerade die Weihnachtsferien begonnen. Emilio war vor einer halben Stunde aus der Schule gekommen und hatte eben begonnen, seinen Rucksack zu packen für die Weihnachtstage, die er zu Hause verbringen wollte. Er würde am nächsten Morgen, einen Tag vor Heiligabend, mit dem Zug nach Hause fahren und zum Jahreswechsel zurückkehren. Viel brauchte er nicht einzupacken, denn er hatte nicht seinen gesamten Besitz mit nach Frankreich genommen.

    Er nahm sein Handy vom Schreibtisch und sah, dass es keine WhatsApp war, sondern eine E-Mail. Von der Bahn? Was wollten die denn von ihm?

    Emilio las den kurzen Text, der fast unterging zwischen Links auf Serviceportale und Apps, und unterdrückte einen Fluch. Streik!

    Dass die Angestellten der französischen Staatsbahn gerade um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen kämpften, hatte er mitbekommen, sich deswegen aber bisher keine großen Sorgen gemacht. Bis Paris würde er schon irgendwie kommen, und von dort aus würde er ohnehin den ICE nehmen, der vom Streik nicht betroffen war.

    Das war jedenfalls der Plan, doch jetzt schrieb ihm die Bahn, dass sie für die nächsten drei Tage alle Zugverbindungen von und nach Frankreich gecancelt hatte. Die Verantwortlichen befürchteten, dass der Streik auf französischer Seite auch bei den ICE für große Verspätungen sorgen würde, die in der Folge auch in Deutschland Chaos verursachen würden.

    Emilio ließ das Handy aufs Bett fallen und sich selbst daneben. Und jetzt? So gern er die Aubertins mochte, so gut er sich mit seinem Gastbruder Léo verstand und auch mit dessen Schwester Lina – über Weihnachten wollte er zu Hause sein. Er liebte einfach die ganze Stimmung der Weihnachtszeit, und bei den Aubertins war davon nichts zu spüren. Sie feierten kein Weihnachten, warum, das wusste Emilio nicht. Léo hatte ihm gesagt, dass seine Eltern nichts dafür übrig hatten, ihm war klar gewesen, dass sein Gast sich wundern musste, wenn überall die Vorbereitungen fürs Fest in vollem Gange waren, nur bei seinen Gasteltern nicht. Aber warum seine Eltern Weihnachten nicht mochten, hatte er Emilio nicht verraten, und Emilio hatte nicht nachgefragt, weil er glaubte, dass es ihm nicht zustand. Er war ja auch gekommen, um Land und Leute kennenzulernen, und dass er sich etwas anpasste, durfte man von ihm erwarten, das wusste er. Aber Weihnachten war eben auch ein besonderer Fall, deshalb hatte er sich um ein Zugticket nach Hause gekümmert, als sich herausgestellt hatte, dass die Aubertins nicht feierten. Immerhin nahmen seine Gastgeber ihm das nicht übel, und er spürte, dass sie meinten, was sie sagten. Auch wenn sie selbst das Fest nicht mochten, vergaßen sie nicht, dass es anderen etwas bedeutete.


    ***


    Emilio brauchte ein paar Minuten, um die Nachricht halbwegs zu verdauen. Was sollte er machen? Erst mal zu Hause anrufen, beschloss er, vielleicht hatten seine Eltern ja eine Idee. Und dann musste er auch seinen Gasteltern Bescheid sagen, die hatten ihn schließlich nicht eingeplant für die Feiertage. Hoffentlich gab es keine Schwierigkeiten, wenn er doch blieb!

    Er überlegte kurz und wählte dann die Nummer seines Vaters. Der musste schon Feierabend haben, wenn nichts Ungewöhnliches passiert war, seine Mutter arbeitete dagegen wahrscheinlich noch.

    Tatsächlich meldete sein Vater sich rasch, und seine Stimme klang leicht besorgt. Es war nicht die Zeit, zu der Emilio normalerweise zu Hause anrief, meist meldete er sich nach dem Abendessen, sodass sich zu Hause die gesamte Familie vor der Webcam versammeln konnte. „Ich kann nicht fahren“, berichtete Emilio. „Hier streiken sie, und die Bahn lässt deshalb jetzt auch den ICE ausfallen.“ Er las seinem Vater die E-Mail vor. „Die machen sich’s leicht!“, schloss er bitter. „Und ich stehe doof da.“ „Das ist wirklich Mist“, stimmte sein Vater ihm zu. „Auch wenn’s natürlich stimmt, wenn der ICE mit wer weiß wie viel Verspätung aus Frankreich kommt, dann müssen sie hier auch wieder eine Lücke finden. Das bringt ihnen mit etwas Pech eine Menge durcheinander.“ „Und jetzt?“, fragte Emilio. „Abholen könnt ihr mich nicht, oder?“

    Sein Vater schüttelte den Kopf. Das konnte Emilio nicht sehen, aber er wusste es. „Schwierig“, sagte sein Vater. „Die Strecke hin und zurück, da sind wir einen Tag und eine Nacht unterwegs. Da müsste Mama mitkommen, damit wir uns ablösen können, und das heißt, wir müssten auch Cara und Eloi mitnehmen.“ Das waren Emilios Geschwister, Cara war zehn, Eloi sieben. Klar, die konnten nicht so lange allein zu Hause bleiben, zumal Emilio selbst schätzte, dass seine Eltern vor der Rückfahrt eine längere Pause brauchen würden, selbst wenn sie sich gegenseitig ablösten. Da hätten sie direkt losfahren müssen, um Heiligabend wieder zu Hause zu sein, und Emilio hatte schon befürchtet, dass das nicht funktionieren würde. Blieb noch das Flugzeug, aber daran verschwendete er keinen Gedanken. Mal ganz abgesehen von den Klimafolgen – er war noch nie geflogen, und seine Eltern würden sich nicht auf ein Experiment einlassen. Außerdem würde das auch verflixt teuer werden, so kurzfristig kosteten die Tickets bestimmt ein paar Hundert Euro.

    Sein Vater atmete tief durch. „Ich werde nachher noch mal mit Mama sprechen“, kündigte er an. „Aber ich fürchte, du musst über Weihnachten in Frankreich bleiben. Vielleicht können wir das verschieben, dass du dafür über Silvester ein paar Tage kommst. Ich weiß, das ist nicht das Gleiche, aber…“ Er schien nicht zu wissen, was er Emilio Tröstendes sagen konnte, und letztlich gab es wohl auch wirklich nichts. Weihnachten würde dieses Jahr für Emilio ausfallen, daran gab es nicht zu rütteln.


    ***


    Mit den Aubertins gab es zum Glück keine Probleme wegen der unfreiwilligen Planänderung. Sie würden zu Hause sein, und sie hatten Emilios Bett auch nicht anderweitig verplant für die Zeit, die er eigentlich zu Hause hatte verbringen wollen.

    Ein Tag blieb Emilio noch, um sich auf ein Weihnachten einzustellen, das keines war. Aber ein Vorteil war das nicht, im Gegenteil, er hatte viel zu viel Zeit, sich über die Eisenbahner zu ärgern, die ihm mit ihrem Streik das Fest versauten.

    Seiner Gastfamilie gegenüber versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen. Die Aubertins konnten nichts für den Streik, der ihm die Heimfahrt über die Feiertage unmöglich machte, und er konnte nicht erwarten, dass sie seinetwegen jetzt doch feierten.

    Zum Glück hatten sie Verständnis für seine Situation und taten das Beste, was sie tun konnten: Sie gingen nicht ständig darauf ein. Dass es ihnen leidtat, dass er nicht nach Hause fahren konnte, war nicht nur so dahergesagt, das wusste er, aber was hätte es geholfen, es ihm immer wieder aufs Neue zu versichern? Emilio war ihnen dankbar, dass sie nicht versuchten, ihn mit hektisch aus dem Boden gestampften Unternehmungen abzulenken oder gar seinetwegen doch irgendwas Weihnachtliches zu machen. Das hätte nicht funktioniert, denn wenn er wusste, dass sie sich nur für ihn bemühten, Weihnachtsstimmung aufkommen zu lassen, dann würde er sich nur zu allem Überfluss auch noch schuldig fühlen.


    ***


    An Heiligabend brach Emilio am frühen Nachmittag, als überall das Festessen auf den Herd gesetzt und der Weihnachtsbaum ein letztes Mal geradegerückt wurde, zu einem Spaziergang auf. Die Aubertins wohnte nicht weit weg von der Küste, und außerhalb der Stadt hatte er seine Ruhe. Das Wetter war garstig, kalt, aber nicht kalt genug, um statt des leichten Nieselregens Schneeflocken fallen zu lassen, und ein scharfer Wind pfiff über die Weiden. Doch Emilio war nicht aus Zucker, und irgendwie tat es gut, so die Elemente zu spüren.

    Er lief gut zwei Stunden, nicht sehr schnell, aber es kam doch eine nicht gerade kleine Strecke zusammen. Kaum jemand begegnete ihm unterwegs, hier mal jemand mit einem Hund, dort ein Bauer, der natürlich auch an Weihnachten nach dem Vieh sehen musste, mehr nicht.

    Als er sich wieder dem Haus der Aubertins näherte, war es fast schon dunkel. Viele Fenster waren festlich erleuchtet, mit Lichterketten und elektrischen Kerzen in den verschiedensten Formen. Dass bei den Aubertins nur die normalen Deckenlampen brannten, und die Schreibtischlampe in Léos Zimmer, fiel dazwischen gar nicht auf, wenn man nicht genau hinschaute.

    Als er noch zwei Häuser entfernt war, sah Emilio eine schmale Gestalt in der Gasse vor dem Haus seiner Gastfamilie stehen. Nanu, wer war das? Die Person wirkte so, als würde sie auf jemanden warten – war sie eingeladen, aber zu früh dran und wollte die Gastgeber nicht stören?

    Ein paar Augenblicke später erkannte er, wer es war. Er hatte gar nicht damit gerechnet, dass er die Person kennen könnte, denn er kannte nach vier Monaten bei den Aubertins zwar einige von den Nachbarn, aber nicht deren Freunde und Verwandte. Aber zu sehen, wer es war, machte die Sache erst richtig rätselhaft – was machte Lina hier draußen?

    Lina entdeckte ihn und setzte sich in Bewegung, um ihm entgegenzugehen. Hatte sie auf ihn gewartet? Es schien fast so, aber Emilio hatte keine Idee, warum. Sie verstanden sich gut, sie war auch nur etwas über ein Jahr jünger als ihr Bruder und damit ein knappes Jahr jünger als Emilio, aber Emilio unternahm doch deutlich mehr mit Léo.

    „Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr“, sagte sie zur Begrüßung, aber sie lächelte dabei. Sie sprach Französisch, Emilio antwortete auf Deutsch. „Hab ich was verpasst?“, fragte er. Lina schüttelte den Kopf. „Ich will auch noch ein bisschen raus“, erklärte sie. „Hast du Lust, noch mal mitzukommen?“ Emilio zuckte mit den Schultern. Er war nicht ganz sicher, was er davon halten sollte, allein mit ihr hatte er noch nie irgendwas unternommen, aber warum nicht? Sonst würde er doch nur in seinem Zimmer sitzen und rausstarren auf die Fenster der Nachbarn, die Weihnachten feierten.

    „Prima!“, freute Lina sich. „Musst du vorher noch mal rein?“ Emilio schüttelte den Kopf. „Wir können“, sagte er.

    „Erzähl doch mal ein bisschen!“, forderte Lina ihn auf, als sie sich ein Stück von ihrem Elternhaus entfernt hatten. „Wie ist das, wenn ihr zu Hause Weihnachten feiert?“

    Emilio zuckte zusammen, so sehr überraschte ihn die Frage. „Du musst nicht, wenn du nicht willst“, sagte Lina, als er nicht direkt antwortete. „Ich meine, das ist für dich ja auch blöd alles gerade.“ „Da könnte ihr ja nichts für“, beruhigte Emilio sie. „Wundert mich nur, dass du fragst. Interessiert dich das wirklich?“ Er würde ihr gern erzählen, was bei ihm zu Hause an den Weihnachtsfeiertagen los war, aber nur, wenn sie es wirklich hören wollte. Dass sie aus Höflichkeit zuhörte und sich dabei zu Tode langweilte, wollte er auf keinen Fall.

    Aber Lina meinte es ernst, und so erzählte er von den Traditionen seiner Familie zu Weihnachten. „Das stelle ich mir schön vor“, sagte Lina, als er erzählte, wie sich am ersten Weihnachtstag immer die ganze Familie traf, mit Großeltern, Onkeln und Tanten, Cousins und Cousinen. „Auch wenn es manchmal nicht so einfach ist.“ Emilio hatte ihr nicht verschwiegen, dass es gelegentlich auch zu kontroversen Diskussionen kam, wenn die Familie an Weihnachten zusammenkam. Aber das gab es in vielen Familien, und Lina kannte das auch von Geburtstagen und anderen Familienfeiern. Entscheidend war, wie man dann damit umging, und wirklich ausgeartet war es in Emilios Verwandtschaft noch nie.


    ***


    Emilio achtete kaum darauf, wohin sie gingen, er war davon ausgegangen, dass Lina einfach nur durch den Ort und die Umgebung schlendern wollte. Doch nach und nach bekam er das Gefühl, dass Lina ein klares Ziel hatte, vielleicht, weil sie an keiner Kreuzung, keiner Abzweigung auch nur einen Augenblick überlegte, in welche Richtung sie sich wenden sollte. Oder hatte sie eine feste Route, auf der sie regelmäßig spazieren ging? Auch wenn er schon vier Monate bei den Aubertins lebte, war er sich nicht sicher, ob er das auf jeden Fall hätte mitbekommen müssen.

    Irgendwann bog Lina ab auf einen schmalen Pfad, der direkt zur Küste führte. Die bestand an dieser Stelle – eigentlich überall in der Gegend – aus einem steilen Kliff mit einem Streifen Kiesstrand davor. Der Pfad schlängelte sich durch eine Scharte nach unten, im Licht der Taschenlampe, die Lina anknipste, erkannte Emilio hier und da Stufen, die in den Stein gehauen worden waren. „Ist das nicht gefährlich?“, fragte er unsicher. „Bei Dunkelheit da runter?“ Das Kliff war kein Wolkenkratzer, zehn Meter hoch, schätzte Emilio, aber das reichte, um sich bei einem Absturz den Hals zu brechen. „Nicht, wenn man sich auskennt und aufpasst“, beruhigte Lina ihn. „Vertrau mir!“

    Was blieb Emilio auch anderes übrig? Er hätte sich höchstens umdrehen und zurückgehen können, aber das wollte er natürlich nicht. Außerdem waren sie jetzt schon fast zur Hälfte unten, und wenn der Weg so blieb wie im oberen Teil, dann brauchte man sich wohl wirklich keine Sorgen zu machen. Wie Lina gesagt hatte: gucken und aufpassen, wohin man den Fuß setzte.

    Wenig später waren sie unten, und Lina wandte sich zielsicher nach links. Im Schatten des Kliffs war es noch dunkler als oben, aber Lina schien jeden Stein zu kennen. Emilio sah, dass sie manchem Felsen, der aus dem Kies herausragte, schon auswich, bevor der Schein der Taschenlampe ihn erreichte.

    Wenn er zur Seite schaute, konnte er weit draußen vereinzelte Lichter erkennen, Schiffe, die in sicherem Abstand die Küste entlangfuhren. Wie sich wohl die Seeleute fühlten, die jetzt an Weihnachten auf ihren Schiffen Dienst tun mussten? Sicher, sie waren es gewohnt, lange von ihren Familien weg zu sein, aber an Weihnachten war es bestimmt auch für sie nicht so leicht.

    Unvermittelt fiel der Lichtstrahl der Taschenlampe auf eine weiß lackierte Wand. Im ersten Moment wusste Emilio nichts damit anzufangen, ein Haus hier unten, das konnte er sich nicht vorstellen. Dann wurde ihm klar: Es musste ein Boot sein. Lina ließ den Lichtkegel etwas wandern, jetzt war auch die Reling zu sehen, und links von ihnen der Bug. Ein Fischerboot, vermutete Emilio, nicht sehr groß und vermutlich auch nicht das neueste Modell, soweit er das als Laie beurteilen konnte, aber es sah auch nicht so aus, als würde es im nächsten Moment auseinanderfallen. Zehn oder zwölf Meter mochte es lang sein, viel kleiner als die modernen schwimmenden Fischfabriken.

    „Da wären wir!“, sagte Lina. „Hier stört uns niemand.“ Sie sprang an der Bordwand hoch und griff zwischen den Stangen der Reling durch. Als ihre Füße wieder auf den Kies trafen, hatte sie das Ende einer Strickleiter in der Hand. Die Leiter rollte sich von allein aus, und Lina machte einen Schritt zur Seite. „Nach dir!“, sagte sie lächelnd. „Es ist sicher“, fügte sie hinzu, als er kurz zögerte.

    Immer noch unsicher, griff Emilio nach der Leiter. Es war gar nicht so leicht, nach oben zu kommen, weil die Leiter so wackelte. Das obere Ende war zwar festgemacht, und Lina hatte kurz daran geruckt, um sich zu vergewissern, dass sie hielt, aber davon ab gaben die Seile in alle Richtungen nach. Lina schien das nicht das Geringste auszumachen, sie enterte das Boot, als hätte sie zeit ihres Lebens nie etwas anderes gemacht. Wahrscheinlich war sie tatsächlich ziemlich oft hier, ohne dass er bislang etwas von ihren Ausflügen mitbekommen hätte.

    „Mein geheimer Platz“, erklärte sie, als sie neben ihm an Deck des kleinen Kutters stand. „Hierher komme ich immer, wenn ich mal wirklich meine Ruhe haben will.“ „Darfst du das?“, fragte Emilio. „Ich meine, das Boot muss doch irgendjemandem gehören, oder?“ „Na ja, so halb“, antwortete Lina. „Der Fischer, dem es gehörte, ist vor drei Jahren gestorben. Er hatte sich aber schon Jahre vorher zur Ruhe gesetzt. Zum Schluss hat es sich auch nicht mehr gelohnt, mit dem kleinen Boot kannst du nicht bestehen gegen die großen Schiffe, die viel weiter rausfahren können. Deshalb hat sich auch niemand gefunden, der es kaufen wollte. Ich war früher oft am Hafen, ich wäre gerne mal mit rausgefahren, aber als ich endlich alt genug war, dass Maman und Papa es erlaubt hätten, da hatte Monsieur Moreau schon aufgehört. Ich bin dann immer wieder hergekommen, weil ich es so schade finde, dass das Boot hier liegt und niemand es mehr haben will. Madame Moreau findet es gut, sie meint, solange ich herkomme, hat die Mademoiselle Marie noch eine Aufgabe. Sie hat mir sogar den Schlüssel zur Kajüte gegeben.“

    Das klang traurig, aber es war auch irgendwie tröstlich, dass Lina dem Boot noch einen Nutzen gab. Er hatte das Gefühl, sie würde das Boot nicht aufgeben, auch wenn es irgendwann anfing, zu verfallen.

    Lina führte ihn zum Deckhaus und schloss die Tür auf. Der Schlüssel kratzte nicht im Schloss, offensichtlich gönnte sie dem Schloss von Zeit zu Zeit einen Tropfen Öl. „Vorsicht, Kopf!“, warnte sie ihn, weil die Tür ziemlich niedrig war. „Halt mal bitte!“ Sie drückte ihm die Taschenlampe in die Hand, und während er ihr leuchtete, entzündete sie eine Petroleumlampe, die an einem Haken von der Decke hing. Es gab auch elektrisches Licht, aber das funktionierte wahrscheinlich nicht mehr. Emilio kannte sich nicht besonders gut aus mit Schiffstechnik, aber er vermutete, dass die Elektrizität an Bord von einem Generator kam, der vom Schiffsmotor angetrieben wurde, und wenn es Batterien gab, dann hatten sie schon lange ihre Ladung verloren.

    Er traute Lina zu, dass sie es genauer wusste, wurde aber abgelenkt, ehe er fragen konnte. Das Licht der Petroleumlampe holte etwas aus der Dunkelheit, mit dem er im Leben nicht gerechnet hätte: eine weihnachtliche geschmückte Brücke. Das Frontfenster, das sich über die ganze Breite des Deckhauses erstreckte, war mit Tannengrün eingerahmt, über der Tür hing eine Lichterkette, die einen eigenen Akku haben musste, und auf dem Instrumentenpult stand sogar eine kleine Krippe.

    „Wow!“, entfuhr es Emilio. „Das geheime Weihnachts-Hauptquartier!“ Lina wurde rot. „Du bist der Erste, der davon erfährt“, erklärte sie. „Wovon?“, fragte Emilio, der sich nicht ganz sicher war, ob er den Zusammenhang richtig verstanden hatte, obwohl er sich wohl inzwischen in den Lebenslauf schreiben durfte, dass er fließend Französisch sprach. „Davon, dass du hier ein kleines Versteck hast?“

    Doch Linas Geheimnis war viel größer: Sie feierte heimlich Weihnachten. Sie fand Weihnachten schön, und weil ihre Eltern alles von sich wiesen, was mit dem Fest zu tun hatte, feierte sie für sich an ihrem ganz privaten Rückzugsort. Davon wusste niemand etwas, nicht die Eltern, nicht der große Bruder, nicht mal ihre beste Freundin, mit der sie sonst über alles reden konnte.


    ***


    Jetzt überlegte Emilio doch, ob er Lina fragen sollte, warum ihre Eltern so überhaupt nichts mit Weihnachten zu tun haben wollten. Aber würde er ihr damit nicht zu nahe treten? Doch seine Schweigsamkeit reichte Lina, sie schien ganz genau zu wissen, was ihn bewegte. „Für dich ist es schwer zu verstehen, was Maman und Papa gegen Weihnachten haben, oder?“, stellte sie sehr treffend fest. Emilio nickte. „Ich meine, es kann ja sein, dass jemand keine Lust darauf hat, aber…“ Er verstummte, er wollte keine Mutmaßungen äußern, die Lina vielleicht verletzten.

    „Ich glaube, sie haben Angst“, versuchte Lina zu erklären. „Weil sie…“ „Du musst mir das nicht erzählen“, warf Emilio ein. „Wenn du nicht willst, dann ist es völlig okay, wenn du nichts sagst.“ „Doch, du darfst es wissen“, versicherte Lina. „Aber erzähle ihnen nicht, dass ich es dir erzählt habe, ja?“

    Emilio versprach es, und Lina begann zu erzählen. Früher, als Léo und sie noch nicht geboren gewesen waren, da war wohl alles anders gewesen, und ihre Eltern hatten Weihnachten gefeiert wie viele andere auch. Doch ein Autounfall hatte alles verändert, auf der Rückfahrt von einer Weihnachtsfeier mit Freunden. Linas Vater, der am Steuer gesessen hatte, hatte keine Schuld getroffen, er war vollkommen nüchtern gewesen und vorsichtig gefahren. Ein Raser – die Polizei hatte später ausgerechnet, dass er fast doppelt so schnell gefahren war wie erlaubt – hatte sie geschnitten und den Wagen beim Einscheren touchiert. Linas Vater hatte keine Chance gehabt, den schleudernden Wagen auf der Straße zu halten, das Auto war in den Acker gerutscht und hatte sich überschlagen. Obwohl Linas Eltern überlebt und sich körperlich vollständig erholt hatten, hatte der Raser, der selbst nur ein paar Kratzer abbekommen hatte, ein Menschenleben auf dem Gewissen: Léos und Linas Bruder, der gestorben war, ohne zuvor das Licht der Welt zu sehen. „Das haben sie nie richtig überwunden“, schloss Lina. „Vielleicht kann man das auch gar nicht, zumindest nicht ganz. Und deshalb wollen sie kein Weihnachten mehr feiern, weil Weihnachten für sie immer mit diesem Unfall verbunden ist.“


    ***


    Lina war stark, denn sie schaffte es trotz des traurigen Hintergrunds, echte Weihnachtsstimmung aufkommen zu lassen. In einem Rucksack, den Emilio gar nicht richtig wahrgenommen hatte unterwegs, hatte sie eine große Tüte Weihnachtsplätzchen mitgebracht, und eine Thermosflasche voll heißem Tee. Tassen fanden sich an Bord, und aus einer Koje holte Lina eine dünne Matratze und Decken. Emilio ging durch den Kopf, dass das kleine Schiff fast ein zweites zu Hause für sie war, sie hielt die Einrichtung offenbar in Schuss.

    Es war wohl das merkwürdigste Weihnachten, das er je erlebt hatte, an diesem Ort, mit Lina neben sich, ein bisschen aus der Welt gefallen irgendwie. Und so sehr er sich über den Streik geärgert hatte, der ihn zwang, über Weihnachten in Frankreich zu bleiben, so sehr gefiel es ihm, zusammen mit Lina auf der Matratze zu liegen, gut zugedeckt gegen die Kälte, Plätzchen zu essen, Tee zu trinken und auf YouTube nach Weihnachtsliedern zu stöbern. Er suchte und fand einige deutsche Lieder, die er Lina vorspielen konnte, Lina suchte französische heraus, und manche gab es ja auch in mehreren Sprachen. So sangen sie „Stille Nacht, heilige Nacht“, und „Douce nuit, sainte nuit“, „Nun freut euch, ihr Christen“, „Come all you Faithfull“ und „Peuple fidèle“, und Lina probierte genauso, die deutschen Texte zu singen, wie Emilio sich an den französischen versuchte.

    Emilio hatte gerade eine schöne Version von „Hark! The Herold Angels Sing“ gefunden, als sein Handy klingelte. Die Verbindung war nicht allzu toll, er war zu weit draußen und noch dazu umgeben von Stahl, aber als er aufstand und an die Tür ging, funktionierte es einigermaßen.

    Am anderen Ende war seine ganze Familie, sie wollte ihm trotz allem frohe Weihnachten wünschen und nachfragen, wie es ihm ging, so ganz ohne alles Weihnachtliche. „Wo steckst du?“, erkundigte sich sein Vater. „Nicht bei den Aubertins zu Hause, oder?“ „Nein“, antwortete Emilio. In zwei Sätzen beschrieb er die Überraschung, die Lina ihm bereitet hatte, und schwenkte das Handy, sodass die Kamera die geschmückte Brücke einfangen konnte. Er wusste, dass das okay war, und Lina konnte sicher sein, dass seine Eltern ihren nichts erzählen würden.

    „Dann ist es ja doch nicht so schlecht, dass du nicht kommen konntest“, stellte sein Vater fest. „Nicht, dass wir dich nicht gerne hier haben würden, aber wie es aussieht, habt ihr beiden ja doch schöne Weihnachten, und für Lina bist du ein Geschenk, wenn sie zum ersten Mal jemanden hat, der mit ihr Weihnachten feiert.“

    Emilio wurde rot, aber irgendwie hatte sein Vater ja recht. Ja, seine Weihnachten waren völlig anders, als er es von zu Hause kannte, anders, als er sie sich je hätte vorstellen können, aber sie waren trotzdem wirklich schön. Er war Lina dankbar dafür, dass sie ihr Geheimnis mit ihm teilte, und es war nicht zu übersehen, wie glücklich sie war, Weihnachten mit ihm zusammen feiern zu können. Diese Freude würde Folgen haben, davon war er überzeugt, denn die Stimmung, die sie hier in sich aufsog, würde ausstrahlen, wenn sie später am Abend nach Hause gingen. Linas Eltern würden spüren, dass sich etwas verändert hatte, und Emilio hatte plötzlich das sichere Gefühl, dass der Funke der Weihnachtsfreude überspringen würde.

  • Der 18. Dezember von Johanna & Fipsi



    Der verschwundene Weihnachtsmann


    Mathilde saß im Klassenzimmer, in dem gerade ein Streit ausgebrochen war.

    Ihre beste Freundin Amalia erzählte ganz begeistert, wie sie sich auf Weihnachten freut und was ihr der Weihnachtsmann wohl bringen würde. Da lachte der freche Anton ganz laut und meinte hämisch:„Den Weihnachtsmann gibt’s doch gar nicht, Du bist ja noch ein Baby.“

    Amalia war stinksauer und erwiderte: „Du bist ja blöd und hast keine Ahnung.“

    So ging es in der Klasse weiter. Nur Mathilde saß still auf ihrem Platz und lächelte vor sich hin. Wußte sie es doch besser als die Skeptiker. Sie kannte den Weihnachtsmann schließlich persönlich und hatte bereits zweimal Abenteuer mit ihm erlebt.

    Als sie mittags nach Hause kam, saßen ihre drei Schwestern Juliana, Madita und Marianne schon im Wohnzimmer und naschten Weihnachtskekse und genossen dabei heißen Kakao.

    Aufgeregt berichtete Mathilde von dem Streit in der Schule. Die Mädchen amüsierten sich und schwelgten in Erinnerungen an die letzten beiden Jahre.

    „Na, mal sehen, ob wir unseren Freund, den Weihnachtsmann, dieses Jahr wieder treffen werden.“ sinnierte Juliana.

    Kaum hatte sie das laut ausgesprochen, als ein bekanntes Knistern erscholl und das Rauschen begann.

    Die Mädchen sahen sich an, grinsten und schon plumpste der kleine Engel, den sie letztes Jahr kennengelernt hatten, auch schon durch den Kamin und landete auf dem Teppich.

    „Hallo, das ist ja schön Dich wiederzusehen, kleiner Engel.“ jauchzte Marianne: „Gibt’s wieder keine Kekse und ich darf wieder mit der tollen Maschine welche backen?“


    „Nein, nein, also doch, das auch, jedenfalls scheint es so, als würden die sich nach dem backen direkt in Luft auflösen – sehr mysteriös, aber das schaffen wir schon dieses Jahr, alle Wichtel sind wieder da und backen rund um die Uhr. Der Grund warum ich hier bin, ist viel schlimmer“, seufzte der kleine Engel und raufte sich die goldenen Locken.

    „Der Weihnachtsmann ist verschwunden. Einfach weg. Seit zwei Tagen ist er nicht mehr aufzufinden und wir machen uns alle große Sorgen.

    Und, naja, da dachten wir“, stotterte der Engel:„Ihr seid doch so gut im helfen und Probleme lösen und da haben sie mich zu Euch geschickt, ob Ihr uns wieder helfen könnt.“

    Nun schluchzte der kleine Engel bitterlich.

    Mathilde, die gerade das lesen für sich entdeckt hatte und ein spannendes Buch nach dem anderen verschlang, besonders Krimis hatten es ihr angetan, sagte sogleich: „oh, oh, bestimmt ist er entführt worden und sitzt jetzt ohne Essen und Trinken in einem Kerker und verhungert langsam. Habt Ihr schon ein Erpresserschreiben bekommen?“

    Der Engel wurde ganz blaß :„Nein, soweit ich weiß, nicht.“

    „Quatsch, Du liest zu viele Krimis“, warf Madita ein. „Wer soll denn den Weihnachtsmann entführen, das macht doch niemand. Alle wissen doch, daß sie dann nie wieder Geschenke bekommen werden, wenn sie dem Weihnachtsmann etwas Böses wollen.“


    „Oh nein, ich glaube ja“, rief Marianne dazwischen, „der Weihnachtsmann ist im Wald gestürzt und von den bösen Wildschweinen erwischt worden und die haben ihn aufgefressen. Die sind ganz gefährlich und fressen die Menschen auf“, meinte Marianne im Brustton der Überzeugung.

    Sie war in der letzten Zeit felsenfest davon überzeugt, daß in ihrem Wald ganz viele böse Wildschweine hausten, die gefährlich sind und alles auffressen, was ihnen vor die Hauer kommt.

    „Ach ne“, fuhr Madita dazwischen:„Die Wildschweine tun doch dem Weihnachtsmann nichts. Die wären ja schön blöd, dann bekommen ja auch die Frischlinge nix mehr zu Weihnachten.“


    „Genug der Spekulationen“, rief da Juliana laut.

    „Wir gehen da jetzt pragmatisch ran.“ An den kleinen Engel gewandt, meinte sie:„ Natürlich helfen wir Euch, ist doch Ehrensache. Wir gucken uns jetzt erst einmal bei Euch um und entscheiden dann weiter.“

    Und schon flogen sie auf die altbekannte Methode durch den Kamin und gingen schnurstracks in das Zimmer des Weihnachtsmannes.

    Juliana fiel gleich auf, daß es doch ungewöhnlich unordentlich war und auf dem Boden überall Krümel herumlagen.

    „Wie sieht’s denn hier aus?“ rief Mathilde empört. „Wenn wir so viele Krümel auf dem Boden hinterlassen, bekommen wir aber eins auf den Deckel.“

    „Vor lauter Sorge kam noch niemand zum aufräumen.“ fiepste der kleine Engel.

    „Ok, hier ist er nirgends, auch kein Hinweis, wo er sein könnte“ konstatierte Juliana.

    „Dann machen wir uns jetzt erst einmal auf die Suche. Falls Ihr ein Entführungsschreiben bekommen solltet, was ich zwar nicht glaube, aber man soll ja nix ausschließen, dann sag uns bitte gleich Bescheid.

    Und sei so nett, uns jetzt schnell wieder in unser Wohnzimmer hinunter zu bringen, damit wir sofort mit der Suche loslegen können“ instruierte Juliana den kleinen Engel.

    Und auf ging es.

    So machten sich die vier Mädels als erstes auf in den Wald, vorsichtig, denn allzu begierig auf eine Begegnung mit den Wildschweinen waren sie nun auch nicht.

    Im Wald angekommen, fanden sie weder den Weihnachtsmann noch Wildschweine.


    Als sie an einer Stelle im Wald ankamen, meinte Mathilde: „ Ach, guckt doch mal, hier haben wir vor zwei Jahren den Weihnachtsmann getroffen.“ „Ja“, meinte Juliana, „ da war Rudolph ausgebüxt und wir haben ihn dort hinten bei den Pilzen gefunden. Laß uns dort sicherheitshalber auch noch einmal nachsehen.“


    Aber auch dort war weder der Weihnachtsmann, noch das Rentier anzutreffen. Nur die Pilze wuchsen noch vor sich hin. Madita steckte sich direkt ein paar davon in die Tasche. „Man kann ja nie wissen, wozu wir die noch brauchen können“, war ihre Antwort auf die überraschten Blicke ihrer Schwestern.


    Sorgenvoll sagte Juliana: „Vielleicht ist ihm ja wirklich etwas Ernstes passiert und er hängt irgendwo hilflos fest und kommt nicht weiter. Wir müssen unsere Suche unbedingt intensivieren. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er wirklich entführt wurde.“

    Mathilde ging zu dem höchsten Baum: „Ich klettere mal eben rauf, vielleicht sehe ich von dort oben mehr.“

    Oben angekommen sah sie sich um und auf einmal winkte sie ganz aufgeregt und zeigte in eine Richtung.

    Die Schwestern konnten nichts verstehen und mußten warten, bis Mathilde wieder heruntergeklettert war.

    „Und, hast Du etwas entdeckt?“ fragte Madita.

    „Ihr werdet es nicht glauben, aber dort ganz hinten, auf dem schneebedeckten Dach des Hauses, steht ein Schlitten mit einem Rentier. Ganz einsam und verlassen. Vom Weihnachtsmann ist zwar nichts zu sehen, aber da sollten wir auf jeden Fall hin und nachgucken. Vielleicht finden wir dort ja noch Spuren.“ Erklärte Mathilde ganz aufgeregt.

    Schon ging’s los, die Mädels liefen in Richtung des Hauses, klettern dann am Spalier hoch und erreichten das Dach, auf dem Rudolph ganz friedlich stand und ihnen treu entgegensah.

    Marianne rannte auf den Schornstein zu, guckte hinein und rief:„Hier, hier ist er. Ich helfe Dir, Weihnachtsmann“, rief sie und flink wie sie war, verschwand sie ebenfalls im Schornstein da sie die Idee hatte, wenn sie auf ihn hinauf hüpft, dann kommt er unten wieder heraus.

    Aber – es geschah – nichts.

    Im Gegenteil, nun saßen schon zwei Personen im Schornstein fest.

    Da kam Juliana der rettende Einfall. „Wartet mal kurz, ich hab da eine Idee.“ Schon lief sie zum Schlitten, wühlte etwas darin herum und kam dann mit einem langen Seil zurück.


    „Hier“ rief sie triumphierend. „Wie gut, daß der Weihnachtsmann das immer auf dem Schlitten verstaut hat.“

    Sie knotete rasche eine Schlinge, jahrelange Pfadfinder Erfahrung macht sich eben bemerkbar, ließ diese hinunter und schrie Marianne zu: „ Wenn Du schon da hockst, dann binde dem Weihnachtsmann die Schlinge unter die Achseln und klettere anschließend am Seil hoch, damit Du uns helfen kannst, ihn gemeinsam heraufzuziehen.“

    „Sitzt das Seil?“, schrie sie . „Ja“ hustete Marianne.

    Kurz darauf kam eine schwarz verfärbte Marianne aus dem Schornstein herausgekrabbelt.

    „Dann mal los alle Mann, Verzeihung, alle Mädels natürlich. Zugleich mit aller Kraft ziehen.“ rief Juliana den drei Schwestern zu.

    Die Drei zogen kräftig am Seil.

    Von unten kam ein „Aua, ohh, das kitzelt. Hatschie“

    Sonst passierte nichts.

    „Mist“, meinte Madita, das schaffen wir nicht allein. „Wartet mal, ich versuch mal etwas.“ Griff in ihre Tasche und puhlte ein paar der im Wald mitgenommenen leckeren Rentierpilze heraus.

    „Rudolph, komm mal her, wir brauchen Deine Hilfe.“ rief sie und streckte dem Rentier die Pilze entgegen.

    Das schnupperte, roch die Pilze und trabte auf die vier Mädchen zu.

    „Super Idee“ rief Mathilde und band schnell das Ende des Seils um Rudolph.

    „So, noch einmal ziehen und Du, Rudolph, lauf los.“


    Diesmal klappte es. Plötzlich gab es ein lautes *Plopp* und aus dem Schornstein flutschte ein doch sehr rundlich gewordener Weihnachtsmann und flog in hohem Bogen auf das schneebedeckte Dach.

    Und so lagen auf einmal vier Mädchen und ein Weihnachtsmann im Schnee und ein Rentier stand daneben und mopste sich die restlichen Pilze aus Maditas Tasche.

    „Hm“, meinte Madita lakonisch zu Rudolph: „Das hast Du auch nicht von Fremden, das dauernde Naschen.“ Und sah dabei den Weihnachtsmann streng an.

    Dieser errötete, soweit man das im rußverschmierten Gesicht erkennen konnte. „ Ja, ich weiß ja, daß ich in letzter Zeit etwas sehr viel genascht habe, aber die Kekse waren eben so lecker“ meinte er verschämt.

    Um dann gleich fortzufahren:„Erst mal aufwärmen und etwas erholen, das haben wir uns jetzt alle verdient, meine lieben Retterinnen.“

    Und schnell hüpften sie alle auf den Schlitten und ab ging es Richtung Weihnachtsmannrefugium.


    Dort angekommen, saßen sie später, nachdem sie ein wenig aufgeräumt hatten, alle zusammen gemütlich im Zimmer des Weihnachtsmannes.

    „Ich bin so froh, meine lieben Freundinnen, daß Ihr mich befreit habt und aus diesem furchtbar engen Schornstein herausbekommen konntet“ begann der Weihnachtsmann:„Langsam gewöhne ich mich daran, daß ihr mich immer wieder rettet und meine Helfer in der Not seid.“

    Automatisch griff er zu der Keksdose, die neben ihm stand und wollte sich ein leckeres Plätzchen herausfischen.

    Da schoß Marianne vor, und entriß ihm die Dose:„Ne, ne, Du bekommst dies Jahr keine Kekse mehr, du hast ja gesehen, was dann passiert. Die eß ich jetzt alle auf.“, lachte sie.

    Da mußten nicht nur die Mädchen lachen, auch der Weihnachtsmann fiel dröhnend mit ein.




  • Der 19. Dezember von Tante Li



    Kalenderbild


    Auf dem Foto ist zentral eine kleine Wegkapelle zu sehen, die von einer Lichtquelle von außerhalb warmgelb angestrahlt wird. Sieht wie von Autoscheinwerfern aus, die entweder von einer nahen Straße oder von einem speziell dafür angelegten Parkplatz aus strahlen.


    Das Licht trifft von der rechten Seite in einer klaren Winternacht auf die drei weiß getünchten Wände und das rote Ziegeldach. Der umliegende Schnee wird auch teilweise beleuchtet. Hinter der Kapelle stehen dicht vier bis fünf schlanke, kahle Bäume, die auch noch von dem künstlichen Schein getroffen werden.


    Dahinter erstreckt sich eine bläuliche Ebene bis zum schwarzen Waldrand, der sich auf die Höhe des roten Satteldachs erhebt und mit ihm eine breite Linie bildet. Die Nadelbäume sind leicht beschneit. Darüber ist nachtblauer Himmel – sternenlos.


    Der Betrachter sieht frontal in das unverschnörkelte Heiligenhäuschen: kahle Wände, schlichtes, verputztes Mauerwerk. Nur eine durchgehende Bank aus geraden Brettern. Dahinter mittig eine Kniebank mit einer Vorrichtung für Andachtskerzen: ein schlichtes Gestell mit offener Lade, in der wahrscheinlich Kerzen zum Erwerb und ein Opferstock sind. Auf dem oberen Brett stehen zwei kleine Kerzen. Eine ist aus, die andere brennt und gibt ihren mageren Schein zu dem dominierenden Außenlicht dazu.


    Das Kernstück bildet ein dichtes, goldenes Gitter, das eingefasst in einen schmiedeeisernen Rahmen in einer flachen Mauernische der Rückwand mit dunklen Verankerungen angebracht ist. Es wirft das Scheinwerferlicht so stark zurück, dass nur ganz schwach und schemenhaft das dahinter verborgene Kreuz zu sehen ist. Ob noch andere Figuren daneben stehen, ist nicht zu erkennen.


    Um eindeutig zu zeigen, worum es sich bei diesem Bauwerk handelt, ist unter dem First ein Kruzifix angebracht.


    Dieser Landschaftsausschnitt macht auf den ersten Blick einen sehr einsamen Eindruck. Das kleine Andachtsgebäude steht allein auf weiter Flur. Nur das schwache Licht der Kerze und das starke künstliche Licht von außerhalb lassen auf Menschen schließen – zumindest auf den Fotografen, der (vielleicht) diese Beleuchtung so arrangiert hat.


    Sind die Fußspuren im Schnee nur von ihm? Oder gibt es tatsächlich noch Gläubige, die in dieser offenen Kapelle mit wager Hoffnung ein Kerzlein anzünden und in eisiger Nacht im Gebet versinken?

  • Der 20. Dezember von Booklooker



    Liebe Emma, liebe Sarah,


    heute möchte ich euch von meinem Weihnachten des Jahres 2022 erzählen. Ich bin Jonte und ich bin ein Wichtel. Ursprünglich komme ich aus Schweden, aber manche von uns lassen uns auch bei besonders netten Leuten auch im Ausland nieder, zumindest für kurze Zeit. Ich habe mir sagen lassen, dass die Menschen in Deutschland Wichtel besonders gern mögen.

    Oma und Opa, so hießen die Leute bei denen ich kurze Zeit gewohnt habe, mochte ich besonders gern. Ich weiß gar nicht genau, ob das deren richtiger Name ist, denn manchmal nennen sie sich gegenseitig anders. Ich hatte sie schon lange von einem Baum in deren Garten beobachtet und hatte beschlossen, für die Winterzeit bei ihnen einzuziehen. Ich dachte, ich könnte nichts falsch machen, weil sie bei allen Menschen, die sie besucht haben, sehr beliebt waren. Ich musste mich erst ein wenig an ihre seltsame Sprache gewöhnen, aber wir Wichtel lernen schnell.

    Eines Abends huschte ich ungesehen vom Garten in die Wohnung und sobald die Menschen in ihrem Bett verschwanden, fing ich an mein Lager zu bauen. Dabei musste ich sehr vorsichtig und leise sein, damit mich niemand schon vor meinem Einzug bemerkte. Zuerst war ich überwältigt von der schönen weihnachtlichen Deko. Überall waren kleine Lichter, die nicht nur die Krippe und die Tannenzweige und Sterne zur Geltung brachten. Ich merkte sofort, dass die Menschen in diesem Haus mit viel Liebe dekoriert hatten.

    Am nächsten Morgen lag ich müde von der schweren Arbeit in meinem Bett und wurde durch aufgeregtes Flüstern geweckt. Ich schälte mich aus meiner warmen Decke und zuckte zusammen, als ich die Kälte des Fußbodens spürte. Ein verführerischer Duft nach heißer Schokolade umwehte meine Nase. Ich öffnete die Tür einen kleinen Spalt, spähte hinaus und schlug die Tür sofort wieder zu. Ein riesiges braunes Auge hatte mir entgegengesehen. Ich kannte Menschen, aber niemand war mir bisher so nahegekommen. In Schweden ist es so, dass man uns Essen und Trinken hinstellt und uns ansonsten in Ruhe lässt. Hier scheint das nicht so zu sein.

    Ich öffnete also noch mal die Tür, sah hinaus und das Auge guckte mich immer noch an. “Berta, komm mal schnell. Hier ist ein Wichtel!” Der Wind, der während des Redens aus dem Mund des Mannes kam, wehte mich fast davon. Ich musste mich an der Tür festhalten und sah, wie der zweite Mensch in meine Richtung kam. “Oh, sieh mal, wie schön er sein Lager hergerichtet hat!” Da die Frau ein Stückchen weiter weg war, konnte ich ihr entzücktes Gesicht nicht sehen, aber ich hörte es aus ihren Worten heraus.

    “Entschuldigung, ich wollte Sie nicht stören.” Mir stand der Schweiß auf der Stirn. Was sollte ich denn jetzt machen? Ich hatte noch nie mit Menschen gesprochen und wusste nicht, ob sie Wichtel gerne als Snack essen. Ich schätze mal, dass ich das bald herausfinden würde. “Ich werde gleich alles zusammenpacken und woanders hinziehen. Vielleicht in den Wald? Der ist ja hier ganz in der Nähe. Oder ich gehe einfach zu Ihren Nachbarn, falls die Wichtel mögen. Aber bitte essen Sie mich nicht! Ich helfe doch dem Weihnachtsmann beim Verpacken der vielen Geschenke für das Weihnachtsfest und musste mich nur von der anstrengenden Nacht ein wenig erholen...” Wenn ich aufgeregt bin, rede ich immer so viel.

    “Liebe Herr Wichtel, Sie dürfen gerne hier bei uns bleiben. Wir lieben Besuch und freuen uns immer darüber, wenn wir neue Leute kennenlernen.” Die Worte purzelten aus der Frau schneller heraus als ich meine Worte beenden konnte. “Können wir etwas für Sie tun? Ihnen vielleicht etwas zu Essen oder zu Trinken bringen?” Die freundlich zwinkernden Augen zeigten mir sofort, dass ich diesen Menschen vertrauen konnte.

    “In meiner Heimat stellen Menschen uns Wichteln während der Weihnachtszeit Lebensmittel und Getränke hin und ansonsten hat man wenig miteinander zu tun. Ich muss zugeben, dass ich ein wenig Angst vor Ihnen habe.” Meine Schultern sackten herunter und ich wartete gespannt auf die Antwort des weiblichen Menschen.

    Die freundlichen Augen des männlichen Menschen sahen mich an. “Lieber Herr Wichtel, das ist gar kein Problem. Wir können das genauso halten. Wir wollen ja nicht mit ihren Traditionen brechen. Allerdings bekommen wir heute Besuch von unseren Enkelinnen. Es könnte also etwas lauter werden.”

    Das war eine gute Nachricht, denn ich liebe Kinder und die meisten Kinder lieben uns Wichtel. Also sagte ich: “Das ist gar kein Problem. Ich werde von hier aus beobachten, wie die kleinen Menschen sich verhalten und wer weiß, vielleicht ziehe ich ja auch zu ihnen um? Ich liebe es, Kinder während der Weihnachtstage zu beobachten und die Vorfreude auf Weihnachten mitzuerleben. Erwachsende verlieren diese Vorfreude leider meistens.”

    Einige Zeit später klingelte es an der Tür. Ich war schon so gespannt, wie die kleinen Wesen sich verhalten würden, wenn sie mein Lager sehen würden. Aber erst mal passierte nichts. Fußgetrappel war das Einzige, was ich über eine lange Zeit wahrnahm. Ich guckte immer wieder durch den Türspion, der so klein ist, dass ein Menschenauge ihn wohl nicht wahrnehmen würde. Dann geschah es. Eins der kleinen Menschen jauchzte auf. Es hatte mich entdeckt.

    Könnt ihr euch vorstellen, dass es für ein Wichtel überlebenswichtig ist, strahlende Kinderaugen zu sehen, vor Freude kreischende oder ehrfürchtig wispernde Stimmen zu hören? Wir sind ja vor allem dafür da um Glück und Freude zu verbreiten.

    Die nächsten Stunden waren für mich ein Vergnügen. Ich sah dabei zu, wie vorsichtig die beiden kleinen Menschen mein Hab und Gut beobachteten und wie sie überlegten, wo ich sein könnte. Wir dürfen uns ja nicht jedem zeigen, daher habe ich mich weiter im Haus versteckt gehalten. Mein Herz zersprang aber fast vor Glück und so beschloss ich, mich am nächsten Tag auf den Weg zu den beiden kleinen Menschen, also zu euch, zu machen und dort mein Lager bis zum Weihnachtsfest aufzuschlagen.

    Und hier bin ich nun, sehe eure entzückten Gesichter durch meinen Türspion und freue mich daran euch mit meiner Anwesenheit den Tag zu verschönern. Ich danke euch für eure Gastfreundschaft und hoffe, dass ich im nächsten Jahr wieder kommen darf.

    Euer Wichtel Jonte