Albrecht Koschorke, Die Heilige Familie und ihre Folgen

  • Albrecht Koschorke ist Literaturwissenschaftler an der Universität Konstanz und war im Jahre 2003 einer der Träger des Leibniz-Preises. Er beschäftigt sich allerdings nicht nur mit streng literaturwissenschaftlichen, sondern auch oft auch mit allgemein kulturwissenschaftlichen Fragestellungen.
    So auch in "Die Heilige Familie und ihre Folgen" aus dem Jahr 2000, das eine Art Motivgeschichte der Heiligen Familie darstellt: Was genau zeichnet die Heilige Familie aus? Wo tauchte diese Konstellation überall in den letzten 2000 Jahren auf? Mit welchen gesellschaftlichen Konsequenzen war das Heranziehen der Heiliegen Familie als Muster verbunden?


    Der erste, eher historische Teil ist dabei in meinen Augen der interessanteste. Er legt das Hauptaugenmerk auf die unterschiedlichen Beziehungen der einzelnen Mitglieder der Heiligen Familie. Die Mutter-Kind-Achse wird dabei besonders intensiv betrachtet; Koschorke untersucht, welches Geflecht sich aus der Situation ergibt, dass Maria sowohl Gottesmutter als auch - etwa in den sponsus/sponsa-Darstellungen des Mittelalters - Ehefrau Christi ist. Durch die Dreifaltigkeitslehre wird das ganze Geflecht noch komplizierter und es gibt Quellen, in denen Maria als Tochter des eigenen Sohnes bezeichnet wird.
    Ein weiterer interessanter Punkt ist die biblische Betonung der nicht-familialen Bande. Koschorke zitiert Stellen überraschend deutlicher Familienfeindlichkeit (etwa aus dem Lukasevangelium) und nimmt diese zum Ausgangspunkt einer seiner Hauptthesen, nämlich dass das Bild der Heiligen Familie - grob gesprochen - eine Schwächung der familiären Bande (allerdings vor allem der der Großfamilie) und eine Teilung der Liebe in einen körperlichen und einen spirituellen Aspekt herbeigeführt habe.


    So spannend seine Ausführungen über weite Passagen sind, so gewitzt Koschorke (dann vor allem im dritten Teil) die Rolle der Heiligen Familie bei der Herausbildung einer neuzeitlichen Vorstellung vom Staat und der bürgerlichen Familie im 18. und 19. Jahrhundert darstellt, so sehr fehlt mir über weite Strecken des Buches eine Analyse des Umstandes, warum bei allen Spiritualisierungstendenzen der sozialen Beziehungen, die über das Muster der Heiligen Familie eingeleitet werden, doch stets eine "Zielformation Kleinfamilie" (wie Koschorke es nennt) übrig bleibt, und warum nicht etwa die Jüngerschaft zum familienpolitischen Modell der Kirche ausgerufen wird. Der Verweis auf die ökonomischen Notwendigkeiten ist mir da ein wenig zu dünn, ich hätte mir eine stärkere Analyse der ethischen Begründungsstrategien für die Bevorzugung der Kernfamilie vor anderen sozialen Bindungen (etwa durch die Erhebung der Ehe zum Sakrament) durch die Kirche gewünscht.


    Alles in allem ist das Buch für Leser/innen, die an kulturgeschichtlichen Entwicklungen des Familienbildes oder auch der neuzeitlichen Vorstellung von Liebe und Freundschaft interessiert sind, ein (für wissenschaftliche Literatur) gut lesbarer und informativer Einstieg.


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